John Holloway: Graz, Elevate Festival 2014, Eröffnungsrede

1. Meine Eröffnungsrede hat einen Titel: Eröffnungsrede.

Als Daniel mir das Programm schickte und ich sah, dass ich eine Eröffnungsrede halten sollte, dachte ich: „Ja, ja, ja! Eine Eröffnungsrede, eine Rede, die öffnet. Genau was wir brauchen. Ein Traum, ein wundervoller Traum!“ Ich danke Dir für Deinen Vorschlag, Daniel. Aber ist das möglich? Eine Rede, die tatsächlich öffnet, eine Rede, die eine sich schließende Welt öffnet. Vielleicht sogar eine Rede, die ein Festival eröffnet, das die Welt öffnet. Also eine Rede, die nicht nur die erste Rede des Festivals ist. Natürlich ist das bereits fantastisch, eine große Ehre, es ist schön, wieder in Graz zu sein, nach Kate Tempest auf der Bühne zu stehen. All das ist wundervoll. Aber ich möchte noch mehr.

2. Eine Eröffnungsrede (eine Rede, die öffnet) geht in die falsche Richtung. Sie bewegt sich gegen das Schließen der Welt. Gerade so wie die Proteste der StudentInnen hier in Österreich vor fünf Jahren. Diese Proteste richteten sich gegen das Schließen der Welt, wie es der Bologna-Prozess bedeutet: ein Schließen von Räumen innerhalb der Universitäten, ein Schließen der Möglichkeiten kritischen Denkens, ein Schließen des Verstandes, eine engere Unterordnung der Universitäten unter die Anforderungen des Kapitals.

Diese Schließung beschränkt sich nicht auf die Universitäten. Eine bestimmte Logik wird allen Aspekten des Lebens zunehmend enger aufgezwungen. Die Logik des Geldes, die Logik des Profits, die Logik der Schließung. An den Universitäten lehrt uns diese Logik: „Denke nicht zu viel nach, lerne nur die richtigen Antworten“. Auf dem Lande sagt sie uns: „Denke nicht, dass Du ein Leben wie Deine Eltern und Großeltern führen kannst, etwas Vieh halten und das anpflanzen, was Du zum Leben brauchst, jetzt musst Du Platz machen für die landwirtschaftliche Massenproduktion; oder Du musst zunehmend Platz machen für die Minen, für die Dämme, für die Autobahnen, für die Hochgeschwindigkeitszüge. Noch besser: Warum verschwindest Du eigentlich nicht gleich vollständig?“, und Millionen und Abermillionen Menschen sind jedes Jahr gezwungen, das Land zu verlassen, um in die Slums der Welt zu ziehen. Und in den Städten sagt uns die Logik des Geldes: „Glaube bloß nicht, dass Du mit Deinem Leben anfangen kannst, was Du willst, Du musst Deinen Lebensunterhalt verdienen und das bedeutet, dass Du etwas tun musst, das die Profite erhöht, das die Macht der Reichen vergrößert“. Und das ist es, was geschieht: eine obszöne Konzentration der Macht in aller Welt in den letzten dreissig Jahren, ein gigantisches Wachstum der Macht der Reichen, der Macht des Geldes.

Die Logik des Geldes ist die Logik der Schließung. Sie präsentiert sich der Welt als Freiheit, als eine Öffnung der Möglichkeiten für alle. Tatsächlich ist es jedoch das genaue Gegenteil. Es ist das Verweben jeglicher menschlicher Aktivität in eine Weltaktivität, ein Weltsystem, das niemand kontrolliert, das jedoch einem einfachen Gesetz folgt: mehr, mehr, mehr Profit. Und wenn Du der Herrschaft des Geldes nicht folgen willst, wenn Du mit Deinem Leben etwas anderes machen willst, dann musst Du verrückt oder kriminell sein und solltest bestimmt eingesperrt werden. Geld ist ein Gefängnis, gestützt von vielfältigen Linien der Schließung, die mehr und mehr gewalttätig werden: Landesgrenzen zum Beispiel. Die Dynamik des Geldes ist das Zerstören von Hoffnungen und Träumen der Jugend und wir sehen es wieder und wieder: Träume, zerbrochen an der Realität der Erwerbslosigkeit oder, häufig schlimmer, an der Realität der Erwerbstätigkeit.

3. Es geht nicht nur darum, dass wir in einer Welt der Schließung leben, sondern, dass diese Schließung beständig aggressiver wird. Geld hat eine Dynamik. Geld ist Kapital und es kann nicht stillstehen. Die Herrschaft des Kapitals ist „schneller, schneller, schneller“. Und die Herrschaft des „schneller, schneller, schneller“ bedeutet: „Aus dem Weg mit den Menschen, die zu langsam sind, die die Sachen aufhalten, aus dem Weg mit denen, die kein Englisch können, aus dem Weg mit den Protestierenden und in die Gefängnisse mit ihnen, oder in die Massengräber, deren Anzahl sich weltweit vervielfacht (wie wir leider all zu gut in Mexiko wissen), aus dem Weg mit den 43 Studenten von Ayotzinapa die vor einem verschwunden worden sind“. Die Wände nähern sich uns, uns einschließend, und drohen, uns vollständig zu zerquetschen. Die Dynamik des Geldes ist die Schließung des Lebens an sich.

Die Dynamik des Geldes ist die Dynamik des Todes. Und die Diener des Geldes sind die Diener des Todes. Guckt sie Euch genau an, seien es die Kapitalisten, oder ihre politischen Lakaien, wie Obama oder Cameron oder Putin, und ihr werdet sehen, dass ihre Gesichter Masken des Todes sind. Die scheinbaren Herren der Welt sind die Diener eines Systems, das uns zerstört.

Es ist nicht nur eine Frage des zukünftigen Untergangs durch den Klimawandel, oder den Wassermangel, oder den Atomkrieg. Die Dämmerung legt sich bereits über uns. Die Möglichkeit, dass dies der Abschluss der Tage der Menschheit auf der Erde ist, ist wirklich gegeben. Es wird häufig als Neoliberalismus bezeichnet, aber es ist keine Frage der Orientierung der Regierungen: es ist das Kapital, das seine Orgien zelebriert, es ist das Geld als Form gesellschaftlicher Organisation, das an seine Grenzen stößt.

Für viele eine Zeit der Depression, eine Zeit wo die meisten Eltern glauben, dass das Leben für ihre Kinder schwieriger sein wird, als es für sie war, eine Zeit, in der die Möglichkeit einer radikalen Veränderung der Welt verblichen zu sein scheint.

4.  Deshalb ist eine Eröffnungsrede notwendig, eine Rede, die wirklich öffnet. „Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen“, wie Ernst Bloch nach der Erfahrung mit den Nazis und dem Krieg schrieb. Nicht eine törichte, leere Hoffnung, dass am Ende alles gut ausgehen wird, denn so ist es nicht. Es muss eine begründete Hoffnung, eine docta spes sein, wie Bloch sie bezeichnet hat.

Zu Blochs Zeiten, war die Hoffnung noch mit der Partei und der Vorstellung verbunden, die Kontrolle über den Staat zu gewinnen. Aber all das ist vorbei, die Partei ist vorbei, „the party is over“. Wir müssen die Hoffnung wiedererlernen, wiedererdenken, wir müssen lernen, unsere Augen und Gedanken zu öffnen und jenseits der sich schließenden Wände des Kapitalismus zu sehen.

Die Hoffnung liegt nicht darin, die Partei aufzubauen, nicht darin, die Kontrolle über den Staat zu gewinnen, denn der Staat ist eine vollständig in den Kapitalismus integrierte Institution, die nicht zu dessen Überwindung genutzt werden kann. Die Hoffnung liegt jetzt in den Millionen und Abermillionen von uns, die sagen: „Nein, nein, wir werden es nicht hinnehmen, wir werden Eure Zerstörung und Eure Minen und Eure Dämme und Eure Waffen und Eure Kriege nicht hinnehmen. Wir werden die Herrschaft der Reichen, also die Herrschaft des Geldes nicht mehr hinnehmen, wir werden die Sachen auf andere Weise machen, uns auf andere Weise miteinander verbinden. Wir wollen Eure Totalität des Todes nicht, und wir wollen gar keine Totalität, wir haben im letzten Jahrhundert gesehen, was passiert, wenn eine Totalität durch eine andere, eine Schließung durch eine andere, ersetzt wird, so wie die Tragödie des Kommunismus es gezeigt hat. Und jetzt sagen wir „Nein“, wir brechen auf eine Million verschiedener Arten weg von der Totalität des Kapital-Todes, wir schaffen Risse im System, wir kommunisieren, wir kämpfen, um die Erde unsere Erde zu machen (also die Erde von Menschen und andere Lebensformen), bevor das kapitalistische System sie vollständig zerstört. Wir kämpfen, um eine Lücke zu eröffnen, zwischen der Zukunft des Kapitalismus, die nur der Tod sein kann und der Zukunft der Menschheit, die immer noch das Leben sein kann – vielleicht ist es nicht zu spät.

Ernst Bloch legte die Hoffnung in das Noch-Nicht, die Macht der Welt, die bislang nicht existiert und deswegen als noch-nicht existiert, in unseren Verweigerungen, in unseren Träumen, in unseren experimentellen Kreationen, in unserem Drängen gegen-und-jenseits-des-Kapitals. Wir müssen lernen, den Liedern jener Welt, die noch nicht existiert, zuzuhören und sie selber zu singen, so laut wie möglich. Arundhati Roy drückt dies sehr schön aus: „Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist bereits auf dem Wege und wenn man an einem stillen Tag sehr genau hinhört, kann man sie atmen hören“.

Daher meine Eröffnungsrede. Ich will die Welt öffnen, die kapitalistische Einkerkerung auflösen. Ich hoffe, ich denke, wir wollen es alle. Mein Wunsch für das Festival ist, dass es ein Eröffnungsfestival sei, dass es die Lieder der noch nicht geborener Welt singe, so laut und so schön wie möglich.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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