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Stefan Junker: Die Eroberung der Demokratie

Die Diskussion über die politische Form der künftigen Gesellschaft spielte bei Kommunisten und Sozialisten, welche die Modelle der Sowjetunion, China usw. als Modelle sozialistischer Gesellschaften zurückwiesen, nur eine marginale Rolle. Häufig wurde hier Bezug auf Äußerungen von Marx und Engels genommen, welche fiktive Gesellschaftsentwürfe als utopisch zurückgewiesen haben, ohne zu bemerken, dass sich der Vorwurf der Utopie vorwiegend auf den aufklärerisch-elitären Charakter dieser Entwürfe bezog. Utopie meinte hier nicht das noch nicht wirklich gewordene, sondern das an sich Unverwirklichbare, das Unmögliche. Für unmöglich hielten Marx und Engels und nicht nur sie einen Kommunismus, der die Herrschaft einer mehr oder weniger aufgeklärten Minderheit zur Voraussetzung habe. Nichts falscher als Marx und Engels für die „letzten Aufklärer“ zu halten, gehören sie vielmehr zu den ersten, die die elitären Konzeptionen der Aufklärung grundsätzlich und materialistisch kritisierten. „Wer erzieht die Erzieher?“ lautete der Vorwurf an die Adresse der utopischen Sozialisten. Die Konzeption von Kommunismus als Wissenschaft von den Bedingungen der Emanzipation des Proletariats verstanden, verlangt die Untersuchung der Umstände und Prozesse dieser Befreiung. Die Konstruktion einer künftigen Gesellschaft, sei es als Phalanstères, als Ikarien usw. ist grundsätzlich zu unterscheiden von dem Bemühen aus dem Studium revolutionärer Erscheinungen auf die Struktur künftiger Gesellschaftsformen zu schließen. Dass sich Marx und Engels nur sehr kursorisch über eine kommunistische Gesellschaft ausließen hat nichts damit zu tun, dass sie Gedanken darüber für an sich unsinnig hielten, sondern erklärt sich aus dem Mangel kommunistischer Erhebungen und damit an Studienmaterial aus ihrer Zeit. Es verwundert darum nicht, dass gerade die Pariser Kommune Marx den reichsten Stoff lieferte, sich zu diesem Thema positiv zu äußern. Dagegen ist die Situation im 21. Jahrhundert eine völlig unterschiedliche, denn wir können heute auf mehr als zwei Dutzend kommunistische Erhebungen und Revolutionen zurückblicken, deren Erfahrungen zu verarbeiten wären. Es ist verwunderlich, dass dies bis heute nur marginal geschehen ist.[1]

Immerhin lassen sich seit 1905 mehr als zwei Dutzend Beispiele für revolutionäre Selbstorganisationen in Revolutionen und Aufständen heranführen, die über einen eng begrenzten lokalen Bereich hinausgreifen. Trotz der Gewissheit unvollständig zu bleiben, seien einige in Erinnerung gebracht. Die ersten Arbeiterräte[2], die diesen Namen auch verdienen, tauchen 1905/06 in der Russischen Revolution auf, die große Revolution von 1917 lässt sie von neuem erstehen. Ergänzend organisieren sich die Soldaten in eigenen Sowjets und nahezu in allen Fabriken Russlands wählen sich die Belegschaften Fabrikkomitees, die ihrerseits Milizen organisieren, welche die Aufgaben der verhassten Polizei übernehmen oder zu übernehmen trachten. Die Zeit nach dem 1. Weltkrieg ist eine Zeit weltweiter Unruhe, Aufstände und Revolutionen. Zu den bedeutsamsten gehört diejenige in Deutschland. Auch hier werden Arbeiter- und Soldatenräte geschaffen, Betriebe wählen Betriebsräte. Sie sind Träger der revolutionären Bewegung, häufig ohne es zu wissen und sogar gegen ihren Willen, nicht unähnlich manchen Streiks, die radikaler und revolutionärer werden, als es die Streikenden und ihre Organisatoren ursprünglich beabsichtigten. Revolutionen sind keine Ereignisse, die vom Reißbrett aus geplant werden, wie Rosa Luxemburg schrieb, sie geschehen zumeist und nicht selten wider die Pläne und Erwartungen der großen Revolutionäre (auch zumeist eine männliche Geschichte, denn diese sitzen an den grünen Tischen in den Hinterzimmern, während die Frauen in den ersten Reihen der Demonstrationen den bewaffneten Polizeikordons gegenüberstehen). Das sogenannte „revolutionäre Bewusstsein“ ist weniger Voraussetzung als vielmehr Folge der Revolution. Weniger erforscht, aber den Zeitgenossen sehr bedeutsam erschienen die Ereignisse in Deutsch-Österreich und in Ungarn 1919, wo sich auch Arbeiter- und Soldatenräte gebildet haben. Im September 1920 besetzen Arbeiter (und Arbeiterinnen?) bei Fiat ihre Betriebe und bilden Fabrikräte, was den Auftakt zu einer mehrwöchigen Bewegung bildet, die sich über Piemont und Ligurien, von Turin bis vor die Tore Genuas ausbreitete. Selbst im irischen Unabhängigkeitskrieg spielten Räte eine gewisse Rolle. Und auch in England entwickelten sich die sogenannten Shop-Stewards zu einer regelrechten Bewegung, die manche Autoren an den Randbereich einer Revolution setzen. Aus England hat vermutlich Lenin seinen unsäglichen Begriff der Arbeiterkontrolle genommen. Vereinzelt konstituierten sich Räte auch in Frankreich, USA und Kanada, ohne allerdings nennenswert auf die nationale Politik Einfluss nehmen zu können. Natürlich ist der Übergang von Streikkomitees und räteähnlichen Strukturen zu klassischen Arbeiterräten fließend. In Südeuropa, von Portugal über Italien bis hin in den Balkan wurden auch die Bauern und Bäuerinnen aktiv und begannen das Land der Großgrundbesitzer zu okkupieren. Auch hier spielten verschiedene Formen der Selbstorganisation eine bestimmende Rolle. Und jenseits Europas, in China und Indien ist diese Zeit bekannt für ihre antikolonialen Kämpfe, die schließlich in die Unabhängigkeit führten. So verwundert es nicht, dass Räte 1927 in China auftauchen.

Mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten die Bewegungen in Frankreich (1936) und vor allem in der spanischen Revolution (1936-1939). Für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg sind Arbeiterräte bezeugt für Osteuropa, Polen, der ungarischen Revolution 1956 und der Tschechoslowakei 1968. In Westeuropa flammen sie kurz im „Pariser Mai“ 1968 auf und erstehen wieder in der portugiesischen Revolution 1974/75. Weiter finden wir Räte in Algerien während des Unabhängigkeitskrieges und in Lateinamerika, Bolivien und Chile sowie im Iran 1979. Selbstorganisationen spielten in vielen Erhebungen auch der letzten Jahre eine entscheidende Rolle, wenngleich sie nur kaum beschrieben wurden. Manche sich sozialistisch nennende Regierung versuchte bzw. versucht ihre Legitimation auf die Etablierung von Selbstverwaltung von Arbeitenden zu errichten, mit mehr oder minder großem Erfolg. Jugoslawien hatte hierzu eine reichliche Literatur produziert und natürlich ist hier Chavez in Venezuela nicht wegzudenken. Diese beeindruckende Liste zeigt zu Genüge, wie sehr die Emanzipationsversuche der arbeitenden Klassen eine intensive Beschäftigung verdienen.

Seit dem Zusammenbruch des russischen Ungeheuers tut sich der Mythos schwerer, ohne eine hierarchisch-zentralistisch organisierte Partei und einen allgewaltigen Staatsapparat könne keine Gesellschaft errichtet werden, worin menschliche Freiheit und Selbstentfaltung herrschen. Dabei haben längst die Aufstände und Bewegungen in Kronstadt 1921, DDR 1953, Polen 1956, 1970 und 1980, der CSSR 1968 und besonders die Revolution in Ungarn 1956 den wahren, antikommunistischen Charakter der Sowjetunion und ihrer Satelliten bewiesen. Der bereits in Spanien umlaufende Spruch, „wer den Kommunismus verhindern will, wähle kommunistisch“ bewahrheitete sich wenige Jahre später auf breiter Stufenleiter in Osteuropa. Die Leugnung der Selbstbewegungen und der Selbstorganisationen der arbeitenden Klassen sowie deren systematische Unterdrückung war das geheime Band der Herrschaften in Ost und West. Darum ist es nicht verwunderlich, dass sich das Gros der Herrschenden des früheren Osteuropa in den Chefetagen der neuen Gesellschaften gütlich tun konnte, wenngleich diese sich die Pfründe teilen mussten mit neuen Räubern aus dem Westen und den kriminellen Emporkömmlingen, welche sich mählich mit der Legalität des Reichtums arrangierten.

Nun ist diese „Identität“ der Herrschaftsinteressen keine neue Erkenntnis, so schrieben Autoren der „Neuen Linken“ in den 60er und 70er Jahren davon. Da war es naheliegend, dass sich linke Studenten auf den Begriff der Räte, den sie richtigerweise aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der revolutionären Zeit nach dem 1. Weltkrieg entwickelt haben, besannen, obwohl es hier natürlich auch eine gewisse Kontinuität der Kritik an der Sowjetunion und der Verteidigung eines „Sozialismus von unten“ (Hal Draper) gab. Diese Rückbesinnung auf die Rätebewegung schuf eine regelrechte Rätediskussion, die leider daran mangelte, dass sie sich relativ schnell auf reine Organisationsvorstellungen und -entwürfe reduzierte. So entglitt der richtige Ansatz aus der Hand und erstarrte, ähnlich wie es mit den pädagogischen Prinzipien A.S. Neills geschah. Dabei schien es, dass diese Organisationsdiskussion mit aktuellen Prozessen parallel laufen wollte, wie im Pariser Mai, den Komitees in der Tschechoslowakei oder Polen sowie den Räten in Chile und Portugal.

Nun sind aber alle sozialistischen Revolutionen und Erhebungen gemessen am Ziel der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft gescheitert. Dies bedarf einer Erklärung. Sicher könnten wir uns auf den bequemen Standpunkt stellen, dass der Sieg nur eine Frage der Zeit sei. Immerhin benötigte die bürgerliche Gesellschaft von der manuelinischen Revolution in Portugal 1389 bis zur Etablierung der bürgerlichen Welt nach 1789 über 500 Jahre, was beweisen dann die 135 Jahre seit der Erhebung der Kommune von Paris? Dieser Einwand reicht für die Widerlegung der platten Argumentation, das nackte Scheitern der Erhebungen beweise die Untauglichkeit des Sozialismus. Sie genügt aber nicht sozialistischen Ansprüchen. Hier finden sich vor allem Vertreter der Auffassung, dass das Scheitern ein Ausdruck der noch nicht reifen Widersprüche gewesen sei oder dass es einer marxistischen Führungspartei gemangelt habe. Beiden Erklärungen gemein ist, dass sie mehr Mystik produzieren, als erklären. Immerhin gab es eine solche Partei in Russland, die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft allerdings gelang auch unter ihrer Führung nicht. Zu der Frage, wie die materialistischen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft konkret beschaffen sein müssen, damit das sozialistische Experiment gelinge und nicht mehr gecrasht werden kann, haben Marxisten bis heute kaum einen Deut an Erkenntnis zu Marx hinzugefügt. Insoweit kann die Frage nach dem Scheitern nicht erschöpfend beantwortet werden. Allerdings ist die Beobachtung von liberaler Seite, diese Erhebungen des 20. Jahrhunderts seien letzten Endes nur verzweifelte Versuche, die Zeichen der Zeit zurückzudrehen. Gesellschaften, die einmal industrialisiert seien, kennen keine solchen Aufstände mit Räteorganen mehr. Dies trifft in der Tat für viele Länder zu, manundfrau denke an die agrarisch dominierten wie Russland, China, oder auch Spanien und nicht zuletzt Portugal. Aber die Erhebungen im industrialisierten Deutschland 1919-20, die Bewegungen in Deutsch-Österreich und auch der Pariser Mai widerlegen diese Behauptung empirisch, wenngleich ein gewisser unangenehmer Geschmack bleibt. Möglicherweise drückt sich in der revolutionären Zurückhaltung der industrialisierten Länder bereits eine Internationalisierung der ökonomischen Strukturen aus, welche andeutet, dass für die revolutionäre Erhebung größere Krisen vorauszusetzen sind, als diese bisher in Erscheinung traten. Immerhin kümmerten sich in Russland kaum Belegschaften darum, ob sich die Betriebe in deutschem oder sonstigem Eigentum befanden, die sie zu enteignen trachteten. Die spanischen Arbeiter und Arbeiterinnen hingegen nahmen bereits politische Rücksicht auf Betriebe mit ausländischem Kapital, um mögliche Bündnispartner nicht zu verschrecken. In Portugal schließlich ging die Zurückhaltung noch weiter und die Belegschaftsvertretungen versuchten zuerst Kontakt mit den Belegschaftsvertretern der entsprechenden Zweigniederlassungen multinationaler Konzerne in anderen Ländern aufzunehmen, stießen meistens aber auf wenig Gegenliebe. Die internationale Arbeitsteilung erlaubt keine nationalen Erhebungen mehr, was auch eine Erklärung für das momentane Steckenbleiben der arabischen Revolution ist.

Nichtsdestotrotz will ich hier den Versuch wagen, in einem Rückgriff auf die Revolutionen des 20. Jahrhunderts, ihre Bewegungsgesetze zu fassen, um daraus einen Blick in die Zukunft einer kommunistischen Gesellschaft zu werfen. Selbstredend, dass dies hier kaum eine Skizze sein kann.

Unter den Namen Räte, Sowjets, Kollektive, Kooperative usw. treten Organe der arbeitenden Klasse auf, mittels dieser das Proletariat des 20. Jahrhunderts versuchte, seine Unterdrückung abzuschütteln und seine Selbstemanzipation zu verwirklichen. So verschieden die Namen auch waren, sei es als Arbeiterräte, Betriebsräte, Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, Fabrikräte, Kollektive oder Kooperativen, so finden sich in ihnen die Interessen der Arbeitenden wieder. In den unterschiedlichen Namen drücken sich nur die unterschiedlichen politischen und historischen Erfahrungen der jeweiligen Arbeiterinnen und Arbeiter aus. All diesen Formen gemein ist hingegen der Trieb, eine Gesellschaft ohne Unterdrückung und ohne Ausbeutung zu errichten, mit anderen Worten eine Gesellschaft ohne Klassen. Dabei spielt es gar keine so große Rolle, ob den Akteuren im Augenblick ihres Handelns die historische Dimension ihrer Aktion bewusst ist oder nicht. Es ist ein tief verwurzelter Irrtum zu glauben, das Handeln der Menschen sei durch ihren bewussten Willen bedingt, dass alles was sie tun, zuerst von ihnen gedacht werde. Sigmund Freud hat mit diesem Mythos aufgeräumt und gezeigt, wie bedeutend das Unbewusste in das menschliche Handeln hineinmische und nicht selten bewusste Absichten konterkariere. Trotzdem spielt das Bewusstsein eine bestimmende Rolle für die Lebensentscheidungen, nur ist es häufiger nicht so sehr die Ursache des Handelns als Folge. Nicht selten merkten die Revolutionäre erst nach der Revolution, dass sie eine Revolution gemacht hatten. Die Revolution schuf das revolutionäre Bewusstsein, nicht umgekehrt revolutionäres Bewusstsein die Revolution. Wer sich mit Revolutionen beschäftigt, erkennt sehr bald, wie wenig Bewusstsein und Handeln in einer mechanischen Beziehung zueinander stehen. Sie gehen nicht unmittelbar auseinander hervor, sondern sind Reaktion auf ein anderes, nämlich der Empfindung und Wahrnehmung von Zuständen, die nicht mehr ertragen werden, bzw. nicht mehr ertragen werden wollen.

Bereits eine erste Annäherung an einen Begriff revolutionärer Selbstorganisationen der proletarischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts wirft eine Reihe von Schwierigkeiten auf. Zwar ist in der politischen Literatur zu den Revolutionen und Erhebungen, die dem 1. Weltkrieg folgten, viel von Arbeiter-, Bauern-, Soldatenräten in Deutschland, Russland, Österreich, usw. die Rede, aber eine genauere Betrachtung zeigt, dass die Begriffe durcheinander gehen, die gleichen unterschiedliches meinen, verschiedene dasselbe bezeichnen. In Russland nennen sich die Arbeiterräte, Räte der Arbeiterdeputierten, die russischen Fabrikkomitees finden ihre Entsprechung in Deutschland in den Betriebsräten, nicht zu verwechseln mit den Betriebsräten, wie sie später im Arbeitsrecht verankert wurden. Diese Betriebsräte sind es, die 1920 in Italien erneut auftauchen und von denen Gramsci spricht. Arbeiterräte, wie sie in dieser Zeit in Deutschland, Russland, Österreich und Ungarn aufkamen, fehlen hier, obgleich die norditalienischen Fabrikräte begonnen hatten, sich territorial zu organisieren. Wenn Gramsci schreibt, „der Fabrikrat ist das Modell des proletarischen Staates“, so kommt Unsinn heraus, wenn wir dies ins Deutsche übertragen „der Betriebsrat ist das Modell des proletarischen Staates“, ohne die konkreten Hintergründe in Betracht zu ziehen, unabhängig von der bereits von Engels reklamierten Problematik des Ausdrucks „proletarischer Staat“. Die Arbeiterräte der ungarischen Revolution von 1956 wiederum waren bei genauer Betrachtung eher Betriebsräte, wohingegen die territorialen Räte gerne unter der Bezeichnung Revolutionsräte bzw. Nationalräte fungierten. In Portugal 1974/75 ist dann von Arbeiterkommissionen oder Arbeiterkooperativen die Rede, wobei auch hier eher an die russischen Fabrikkomitees zu denken ist, als an die Arbeiterräte der deutschen Revolution. Auch in Spanien 1936 tauchen die Selbstorganisationsformen mit unterschiedlichsten Namen auf: Kollektive, Initiativen, Komitees usw. Ich habe mich darum entschieden, alle Initiativen, die unmittelbar aus den Fabriken und Unternehmen heraus entstehen, als Betriebsräte zu bezeichnen, in dem Augenblick, wo territoriale Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken, von Arbeiterräten zu sprechen.

Es ist offenbar, dass die Begriffe von Land zu Land zu unterschiedlichen Bedeutungen gelangen, weil der politische und gesellschaftliche Hintergrund, auf dem sich die Ereignisse abspielen, immer ein anderer ist. In Deutschland spielten die örtlichen Arbeiterräte eine sehr wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Revolution im November und Dezember 1917. In Russland finden wir an ihrer Stelle zuerst allein die zentralen Räteveranstaltungen der großen Städte Petrograd und Moskau, die auf den ersten Blick viel mächtiger erscheinen als ihre Schwesterorganisationen in Deutschland oder Österreich. Diese Sichtweise ist möglicherweise schief und kommt von dem Blickwinkel der Forschung, welche ihren Fokus auf die beiden Großstädte richtete und regionalen Rätebewegungen nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. In Spanien findet der revolutionäre Wille seinen ersten Ausdruck auf Versammlungen der Gewerkschaften.

Nun ist es zu wissen, dass die Arbeiterräte (Arbeiterinnenräte) primär territoriale Einrichtungen sind, die gewisse Ähnlichkeiten mit demokratisch bestellten Kommunalverwaltungen haben. In Deutschland wurden sie nicht selten auf öffentlichen Versammlungen oder Demonstrationen ad hoc bestimmt oder im Hinterzimmer von den Arbeiterparteien ausgemauschelt, wenngleich der Druck der Straße häufig eine nachträgliche Akklamation erforderlich macht. War der Druck der örtlichen Belegschaften oder der revolutionären Organisationen ausreichend, konnte eine Neuwahl des Arbeiterrats durchgesetzt werden. In diesen Fällen wählten die Betriebe ihre Arbeiterräte, auch wenn im nachhinein Parteien und Gewerkschaften gewisse Sonderstellungen durchsetzten. Wenn wir diese Wahlen auf betrieblicher Ebene als Idealfall festhalten, so ließen sich die Arbeiterräte bzw. die Arbeiterinnenräte über die Wahl definieren, als Körperschaften die durch Wahlen in den Betrieben bestimmter Territorien, Bezirk, Region, Stadt zustandekommen[3]. Ein Unterschied im Wahlverfahren gegenüber sich territorial organisierenden Betriebsräten läge darin, dass diese aus den Vertretungsorganen der jeweiligen Betriebe und Unternehmen hervorgehen, während bei den Arbeiterratswahlen die jeweiligen Vertretungen bereits in den Betrieben, z.B. auf Betriebsversammlungen gewählt werden. Die Räte der Arbeitenden (Arbeiterräte) ähneln darum mehr parlamentarischen Veranstaltungen als die Betriebsräte es tun, nehmen darum aber auch vornehmlich politische Aufgaben wahr, wie sie die Kommunalverwaltung hervorbringt.

Der spanische Anarchismus bevorzugte in Bezug auf die Agrarverhältnisse den Ausdruck „Kollektiv“, der auch synonym für Sozialisierung verwendet wurde, wenngleich hier wichtige Differenzierungen Platz griffen. In Russland finden wir die russischen Kollektive, die Bauernräte mehr in der politischen Agitation als in der Wirklichkeit, denn die revolutionäre Bauernbewegung – die übrigens entscheidend für die Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 war – benötigte keine neuen Organe. Sie konnte auf ihre eigene Traditionen zurückgreifen – darunter die Versammlungen der russischen Landgemeinde. Und in Deutschland? Hier erwiesen sich die Bauernräte, soweit sie überhaupt das Licht erblickten, was vor allem den süddeutschen Raum betrifft, als streng konservativ. Allein der revolutionär undemokratischen Politik des Ministerpräsidenten Eisners und seines „Bauernführers“ Gandorfer, welcher die Bauernvertreter ernannte, war es zu danken, dass der bayerische Zentralbauernrat eine linke (USP) Politik mittrug. Gerade was den Vergleich der Bauernbewegungen betrifft, erscheint es schwierig, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Diese finden sich allein in den jeweiligen Traditionszusammenhängen, wo es im Hintergrund noch die eine oder andere Form kommunistischen Eigentums gab, was wir im zaristischen Russland ebenso finden, wie im vorrevolutionären Spanien oder in Mexiko (1910-1920), nicht aber mehr in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg.

Vergleichen wir die nationalen Rätebewegungen miteinander so fällt zuerst auf, dass in Deutschland wie in Russland relativ früh der Wunsch nach einer nationalen Repräsentation entsteht und sich nationale Rätekongresse konstituieren (zwei in Deutschland, fünf in Russland bis zum Juli 1918, vier in Österreich). Selbst in Ungarn 56 wird versucht, einen solchen unter der Aufsicht der russischen Panzer zu organisieren. Hieran wird das Bestreben der arbeitenden Klasse deutlich, sich als Einheit zu bestimmen, wobei es irrelevant ist, ob einige Organisatoren, diese Veranstaltungen hintertreiben oder missbrauchen wollen. Dass sie zustande kommen können, zeugt von diesem Bestreben. Bemerkenswert ist, dass dergleichen auf der iberischen Halbinsel fehlt. Zur Konstitution eines nationalen Kongresses der Komitees ist es im republikanischen Spanien nicht gekommen. Ebensowenig in Portugal. Wenngleich wir in vielen Betrieben Räte finden, kommt es nicht zu einer nationalen Verständigung. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass in Portugal der Staatsapparat zu keiner Zeit vollständig von der Bildfläche verschwand, es daher auch nicht zur Ausbildung einer klassischen politischen Rätebewegung kam.

Aber in einer anderen Hinsicht gleicht Portugal den revolutionären Bewegungen nach dem 1. Weltkrieg. Im April 1974 putschen die linksgerichteten Offiziere gegen die Diktatur Salazars und bereiten eine allgemeine politische Öffnung vor. Im Frühsommer 1974 bereits nahm eine breite soziale Bewegung ihren Anfang, in deren Verlauf viele Unternehmer mittlerer und kleiner Firmen ihre Betriebe aufgeben, so dass sich die Belegschaften, nicht unähnlich gegenüber Russland des Sommers und Herbst 1917, gezwungen sehen, die Betriebe in eigener Regie weiterzuführen. Vielfach wurde hier den Belegschaften fälschlicherweise ein sozialistisches Ziel unterstellt, während sie in Wirklichkeit allein darum besorgt waren, ihre Arbeitsplätze zu erhalten, da es ja kein soziales System gab, welches die Betroffenen hätte auffangen können. Das mutige Vertreten der eigenen Lebensinteressen ist darum aber nicht minder revolutionär. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang den Sachverhalt, dass der sozialen Bewegung, welche sogar in eine Revolution münden kann, eine politische Revolution vorausgeht. Zuerst der Putsch, dann die Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter in Portugal; Rücktritt des Zaren, dann die Arbeitskämpfe um 8-Std-Tag, Anerkennung der Komitees usw. in Russland; Rücktritt des Kaisers, dann die Kämpfe um Lohnerhöhung, 8-Std.-Tag, etc. in Deutschland. Auch in Spanien finden sich die Niederwerfung des Aufstands und die Konstitution der Milizen und Komitees vor Entstehung und Ausbreitung der Kollektivierungsbewegung. Bereits hier wird die Fehlerhaftigkeit anarchistischer Theorien offenbar, welche politische Enthaltsamkeit predigen, außer manoderfrau wolle behaupten, der bewaffnete Kampf, seine Organisierung sowie die Beseitigung von Polizei- und Militärapparat habe nichts mit Politik zu tun.

Überhaupt entsteht hier eine Reihe theoretischer Fragen bezüglich der sogenannten Eroberung der politischen Macht: Hat das Proletariat sich an die Spitze des Staatsapparates zu stellen, um dann diesen zu zerschlagen, oder zerschlägt es diesen, indem es seine eigene Regierungsmaschine (Rätesystem) etabliert? Die „Eroberung der politischen Macht“ scheint auf letzteres hinzuzielen, weniger auf eine revolutionäre Führung, die sich an die Stelle der bisherigen Regierung setzt, als vielmehr den bestehende Staatsapparat durch eine Vielzahl territorialer revolutionärer Organe zu ersetzen, die sich nichtsdestotrotz auf gesamtstaatlicher Ebene zusammenschließen. Drei Formen lassen sich beobachten, was ebenfalls die Weitsichtigkeit Marxens unterstreicht, der im „Bürgerkrieg“ in dieser Frage Raum für unterschiedliche Interpretationen gelassen hat.

1. Die Hierarchie der Staatsgewalt wurde durchschnitten, aber auf örtlicher Ebene blieb die alte Verwaltung in Grundzügen bestehen, wurde aber den lokalen Arbeitsorganen untergeordnet. In gewisser Hinsicht entsprechend der englischen und amerikanischen Lokalverwaltung, wie Marx und Engels sie sahen, wenngleich ohne darüber errichteter Staatsgewalt. Hier ist auch offenbar, dass die wesentlichen Staatsfunktionen bestehenbleiben und vorerst noch getrennt (entfremdet) sind gegenüber der Gesellschaft, wenngleich ihr nicht mehr übergeordnet. Darum erscheint es mir konsequent, hier noch von einem politischen System (Staat?) zu sprechen. Vorteil dieser Vorgehensweise der Revolution: die niedere Angestelltenschafft wird nicht vor die Tür gestellt, so dass sie ihr Wissen in den Dienst des Sozialismus stellen kann. Nachteil: die alten Vorurteile und Prozeduren in den Ämtern bleiben bestehen und werden sich grundlegenden Änderungen nur widerstrebend anpassen. Deutschland gibt ein sehr schönes Beispiel für diese Vorgehensweise, selbst nach den einschlägigen Erfahrungen 1919 griffen die Zentralräte des aufständischen Ruhrgebiets 1920 nur ausnahmsweise in die konkreten Verwaltungsabläufe ein.

2. Die alten Gewalten verweigerten die Zusammenarbeit bzw. sabotierten und zwangen die Räte selbst in die konkrete Staatsverwaltung einzugreifen bzw. deren Aufgaben zu übernehmen und auszuführen, m. a. Worten, einen eigenen Verwaltungsapparat aufzubauen. Dies ist die Konsequenz von dem, was Marx schrieb, die Kommune sollte sowohl eine arbeitende als auch gesetzgebende Körperschaft sein. Spanien hat hierfür einige Beispiele hervorgebracht.

3. Die meisten Revolutionen haben eine Vielzahl von Mischformen hervorgebracht, worin die alte Kommunalverfassung teilweise erhalten blieb, den Räten zwar untergeordnet, diese sich aber nur teilweise unmittelbar an der kommunalen Arbeit beteiligten.

Allen diesen Formen ist natürlich gemein, dass sie von der erstarkenden Konterrevolution baldigst zurückgedrängt und schließlich beseitigt, bzw. vollständig entmachtet wurden.

Es will sich mir die Vorstellung aufdrängen, dass wir unter „Eroberung der politischen Macht“ die Macht des Proletariats in den Gebietskörperschaften verstehen sollten, die im deutschen Sprachraum mit Gemeinden gefasst sind, worauf dann ein nach unten hin unmittelbar verantwortliches politisches Gebäude errichtet wird. Das mag dann „sozialistischer Staat“ genannt werden oder auch nicht, das hierarchische Prinzip jedenfalls, dass eine Minderheit ihren Willen mittels eines Apparat der Mehrheit aufzwingen kann, ist hierin erledigt. Der Gesamtwille sollte durch die Konstitution von der Basis her kontrollierter Kongresse bestimmt werden. Hier finden die verschiedenen Rätemodelle ihren Platz, ob aus Deutschland oder in Zusammenhang mit der russischen Verfassung von 1918. Solche theoretischen Spekulationen haben ihre Berechtigung, weil die Geschichte bisher zu wenig Zeit hatte, Beispiele hervorzubringen, worin diese Organisation mit den demokratischen Prämissen in Kongruenz gebracht werden konnte. Aber sie sollten nicht als allein seligmachende Modelle missverstanden werden, die nur der Wirklichkeit aufgestülpt werden müssen. Alle historischen Rätekongresse und ihre ausführenden Organe weisen gravierende Mängel bezüglich ihrer demokratischen Legitimation auf. Doch wer wollte mit heutigen Maßstäben die Wahlen früherer Republiken messen?

Dass Spanien keine Bestrebung zu einer nationalen Koordination der Selbstverwaltungsorgane hervorgebracht hat, ist kein Argument gegen meine Überlegung, denn für die einzelnen Regionen sind die entsprechenden Komitees und Tendenzen zur Zusammenfassung sehr wohl nachweisbar.

Auch hier sollte der demokratische Prozess als Prozess begriffen werden, nicht anders wie in der Genese des bürgerlichen Parlamentarismus. An seinen historischen Ursprüngen war die Wählerschaft auf eine geringe Anzahl Personen beschränkt, Personen, die befähigt waren, mindestens eine bestimmte Summe an Steuer zu entrichten. Bis zur Durchsetzung des allgemeinen Stimmrechts im 20. Jahrhundert war die Souveränität des Volkes sozusagen die Souveränität des Reichtums und des Eigentums. Also mögen wir den proletarischen Revolutionen die erforderliche Zeit gewähren, auch ihre demokratischen Potentiale zu entfalten.

So sehr sich die Begriffe für die proletarischen Selbstorganisationen im Einzelnen unterscheiden mögen, so ähnlich werden sie in ihrer Funktion. Und es springt noch etwas anderes ins Auge, das Marx bereits kühn geahnt hat: die Ungeheuerlichkeit des Unternehmens, die Herstellung allgemeiner Selbstregierung oder anders formuliert, die Verwirklichung authentischer Demokratie. Es ist dies identisch, was die klassische Arbeiterbewegung unter Selbstemanzipation verstanden hat, wobei hier Frauen nur bedingt eingeschlossen waren. Und gerade dies bereitet ein logisches Problem. Die numerische Mehrheit in der Gesellschaft produziert die Lebensmittel, allerdings gilt dies nur, wenn die Arbeit der Frauen mit eingerechnet ist. Erst dann wird Herrschaft unmöglich, wenn die Mehrheit herrscht, also all diejenigen die im Produktionsprozess stehen. Aber wie kann die Mehrheit herrschen anders als in unmittelbarer Selbstverwaltung, d.h. in einer Form worin Herrschaft weniger ausgeschlossen ist? Historisch zeigt sich dies im Kampf zwischen kollektiver Selbstbestimmung und Staatsgewalt. Selbstbestimmung und Staatsgewalt sind Gegensätze, wobei der Wille zu kollektiver Selbstbestimmung sozialen Ursprungs ist, das heißt mit den Klassenkämpfen entsteht und sich erst allmählich Gewalt verschafft. Und dieser Wille entsteht nicht über Nacht, zumal er auf den ersten Blick gar nicht notwendig erscheint. Wir finden nämlich bei den Räteveranstaltungen der ersten Stunde nur selten Wahlverfahren, die unseren heutigen Demokratievorstellungen entsprechen. Meist sind es die Organisationen der Arbeitenden (Parteien und Gewerkschaften), welche über die Besetzung dieser Räte entscheiden, nicht selten, um der revolutionären Bewegung die Spitze zu brechen, so geschehen in vielen Städten Deutschlands 1918, in Petrograd im Februar 1917, um die bekannten Beispiele zu nennen. In dieser Phase genießen diese selbsternannten Führer meist das Vertrauen des großen Teils der Arbeitenden und es bedarf einer gewissen Zeit bis der Irrtum zum allgemeinen Bewusstsein gelangt. Lassen es die sozialen Verhältnisse zu, so drängen die Arbeitenden auf eine Neubesetzung ihrer Vertretungen, und fordern demokratische(re) Wahlen zu den Räten. Aber auch hier zeigt sich nicht selten, dass selbst die aus den eigenen Reihen gewählten Vertreter, (weniger die Vertreterinnen) nicht immer den an sie gestellten Ansprüchen entsprechen. Jetzt werden Formen und Strukturen gesucht, wie die Gewählten einer möglichst effektiven Kontrolle der Wahlkörper zu unterwerfen sind, wie z.B. die jederzeitige Abwählbarkeit. Leider gestattet der knappe Raum hier nicht, diese drei Phasen an historischen Beispielen zu illustrieren. Dass es sich hier um keinen geradlinigen Prozess handeln kann, dass Fehler gemacht werden, gemacht werden müssen und dass experimentiert wird, sollte eigentlich keiner weiteren Ausführung bedürfen. Insgesamt würde ich diesen mühevollen Prozess gerne „Eroberung der Demokratie“ nennen.

Nun gibt es manche intellektuelle Einwendungen, die sagen, die Gesellschaft bestehe nicht nur aus weiblichen und männlichen Lohnarbeitern, Handwerkern, Rentnern, Freiberuflern usw. Zugegeben, aber die Revolutionen brachten auch deren Vertretungen hervor, um beispielsweise die verschiedenenorts entstandenen Wohnviertelkomitees zu nennen, welche versuchten, die unmittelbare Wohnungsnot zu lindern. Wenn alle Menschen eingeschlossen sind, die gezwungen sind zu arbeiten, weil sie nicht von fremder Arbeit leben, dann ist dies zweifellos die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. Und wenn wir uns einen Vergleich mit dem heutigen Kreis der Wahlberechtigten vergleichen, so ist erstere die größere, denn sie nimmt keine Rücksicht auf nationale Vorurteile, kann keine Rücksicht nehmen, ohne ihre Prinzipien zu verlassen. In den Staaten Europas und den USA sind im Schnitt 10% und mehr der Bevölkerung von den entscheidenden Wahlen ausgeschlossen, weil dieser Teil nicht die erforderliche Staatsbürgerschaft besitzt.

Nun sollte aber die politische Konstruktion dieses skizzierten Rätewesens als solches nicht überbewertet werden. Ein politisches Rätesystem, das neben einem bürgerlichen Staatsapparat wirkt, getragen von einer sozialen Bewegung der Arbeitenden, welche für die Verkürzung des Arbeitstages, Lohnerhöhungen und gewisse Mitsprache kämpft, ist von seinem Inhalt her nicht per se auf die Überwindung des kapitalistischen Systems hin angelegt. Allerdings missversteht dies die Gegenseite, die Bourgeoisie fast regelmäßig. Sie reagiert auf der Grundlage ihres beschränkten Profitinteresses und stellt die Lebensgrundlagen der Produzenten prinzipiell in Frage, beispielsweise durch Betriebsstillegungen (so geschehen in Russland, Spanien und Portugal und mutatis mutandis in Ungarn 1956). Erst jetzt ist die Klasse der Arbeitenden gezwungen über die bisherigen Grenzen hinauszugehen und die Betriebe zu besetzen und in eigene Regie weiterzuführen. Aber auch dies gehört noch in das Arsenal des klassischen Klassenkampfes. Die Übernahme der Betriebe und die Fortführung der Produktion auf Rechnung der Belegschaften sind noch keine Schritte jenseits des Kapitalismus. Erst wenn diese „Sozialisierungen“ epidemisch werden, setzen sich die Grundlagen für die Etablierung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse. Dieser Schritt, der ungemein schwierigste, impliziert die Konstituierung der Arbeiterschaft als Klasse. (Ginge eine solche Konstituierung der Revolution voraus, so wäre die Hälfte der Miete bereits eingebracht.) Es ist offenbar, dass diese Konstituierung nur die politische Einheit der Arbeitenden meinen kann, was verschiedene Arbeiterparteien nicht ausschließt, wohl aber ihren antagonistischen Kampf um die Führung und jegliches sektiererisches Vorgehen. Diese Tendenz, die Einheit der arbeitenden Klasse herzustellen – ich würde hier gerne in Anlehnung an E. P. Thompson von der Konstituierung der arbeitenden Klasse sprechen – lässt sich sowohl für Russland (Herbst 1917), für Spanien, für Deutschland nur teilweise (Ruhrgebiet 1920) und ganz besonders für Ungarn 1956 darstellen.

Doch welche Beziehung besteht zwischen diesem politischen Rätesystem und der ökonomischen Befreiung der Arbeiterinnenklasse? Mit der Revolution im Herbst 1956 hatte Ungarn praktisch bewiesen, dass die Eroberungen der Roten Armee keinen Sozialismus verwirklicht hatten. Als die Versammlung der Arbeiterinnen und Arbeiter Ende Oktober 1956 quasi in Vertretung der gesamtungarischen Arbeiterschaft erklärte „die Fabriken gehören den Arbeitern“ machte sie offenbar, dass das verstaatlichte Eigentum kein Eigentum in den Händen des werktätigen Volkes ist und zeigte den Weg auf, den die sozialistische Umgestaltung zu gehen habe. Den Betriebsübernahmen während der russischen Revolution fehlte noch dieses bewusste und souveräne Auftreten. Nur selten erwägten die Belegschaften, sich das Betriebseigentum anzueignen, bestenfalls dann, wenn die Eigentümer ihre Betriebe vorsätzlich in den Konkurs trieben, was allerdings im Verlauf des verschärften Klassenkampfes geschah, wie im Frühsommer 1917 als viele Unternehmer damit die revolutionären Errungenschaften der Arbeiterschaft zu hintertreiben suchten. Dies zwang die Belegschaften unter der Leitung ihrer Komitees die Betriebe unter eigener Leitung weiterzuführen. Mit der Anspannung der Klassenauseinandersetzung im Herbst 1917 begannen diese Betriebsübernahmen epidemisch zu werden. Es liegt auf der Hand, dass mit diesem Augenblick, wenn ein Großteil der Produktion in die unmittelbare Gewalt der Produzenten fällt, eine neue Situation entsteht.

Betriebsübernahmen lassen sich in allen Revolutionen beobachten, so in Portugal 1974/75, aber auch in Deutschland 1919, wenngleich weit entfernt vom Umfange in Russland oder Spanien 1936. Bereits im Vorfeld waren sich die meisten Belegschaften und ihre Komitees bewusst, dass mit dieser kollektiven Aneignung die wirtschaftlichen Probleme nicht zu lösen sind, wenn es nicht gelänge, mit anderen Unternehmen, Zulieferindustrien, den Eisenbahnen usw. zusammenarbeiten. Hier aber zeigten sich die Widrigkeiten in Rußland als schier unüberwindlich, allen voran die restriktive Geldpolitik der jungen Zentralregierung. Ganz ähnlich verhielten sich die Regierungen in Spanien, bzw. Katalonien, trotz oder vielleicht weil sich die Anarchisten an der Regierung beteiligten. In der Frage, wie mit den Banken zu verfahren sei, liegt ein großes Problem, denn der Nationalkredit ist ein ungeheures Machtmittel. Wie kann er demokratisiert werden? Möglicherweise dachten die Komitees zu Anfang, dass die neue Zentralgewalt, die ja aus Personen, Parteien und Organisationen ihres Vertrauens bestand, die Geldmittel in ihrem Interesse verwalten würde und den Nationalkredit zu einem Hebel der Revolution zu machen. Anstelle dessen erfuhren sie rasch, wie die neuen Machthaber dieses Mittel gegen ihre Initiativen, die unmittelbaren Probleme anzugehen, verwendete. Dadurch waren die Betriebsräte gezwungen, auf die Ressourcen ihrer eigenen Betriebe zurückzugreifen, was ihnen den Vorwurf des Betriebsegoismus einbrachte. Manche nannten das „Arbeiterkapitalismus“ oder „Produzentenkapitalismus“, was theoretischer Unsinn ist. Hat Marx doch unmissverständlich klargemacht, dass die kapitalistische Produktion auf der Lohnarbeit ruhe und mit ihr schwinde.[4] Es ist einer Ökonomie, die auf genossenschaftlicher Arbeit ruht, vieles vorwerfen, nur Eines nicht, dass sie im Marxschen Sinne kapitalistisch ist. Die Identifizierung von Warenproduktion mit Kapitalismus, aus der die Notwendigkeit eines rigorosen politischen Zentralismus abgeleitet wird, die Ökonomie zu regeln – was etwas völlig anderes ist, als die Bedingungen zu schaffen, damit sich die Arbeitenden frei assoziieren können – und diese Maßregeln für Sozialismus auszugeben, dies ist ein besonders gepflegter und verbreiteter Mythos des Bolschewismus. Für den bürgerlichen Soziologen Max Weber allerdings ergibt die Gleichsetzung von Warenproduktion und Kapitalismus Sinn, weswegen er auch von einem „römischen Kapitalismus“ spricht, eine Formulierung, die wir bei Marx vergebens suchen.[5] Selbstverständlich kann genossenschaftliche Produktion selbst auf gesamtgesellschaftlicher Stufenleiter erst der Anfang sein, worin sich die „frei assoziierte Arbeit“ entfaltet und nicht ihr Ende, wie die jugoslawischen Ideologen glauben ließen.

Um die historischen Tendenzen noch einmal zu überblicken: In der Revolution schaffen sich die Arbeitenden politische Organe, welche darauf zielen, den Machtapparat des bürgerlichen Staates zu beseitigen. In diesem Prozess entwickeln sie demokratische Methoden und Verfahren, sich zuerst fremder, dann eigener Vertreter und Vertreterinnen zu versichern, u.a. dadurch, dass diese ständig dem Willen ihrer Wahlkörper unterworfen sind. Die Etablierung eines solchen „politischen Rätesystems“ erst ermöglicht es der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter, sich ihrer Interessen bewusst zu werden und diese an die Oberfläche der Gesellschaft zu tragen. In der Logik des sich abzeichnenden Klassenkampfes scheint die Tendenz zu liegen, daß die Arbeitenden beginnen, sich der Produktionsstätten zu bemächtigen und die gesellschaftliche Produktion in eigener Regie zu organisieren. Mit der Etablierung allgemeiner genossenschaftlich organisierter Arbeit wird die Lohnarbeit verschwinden und mit ihr die materielle Grundlage von Herrschaft und Ausbeutung. Selbstredend ist diese Entwicklung nicht frei von Konflikten und Fehlern und möglicherweise wird die Zukunft auch Formen gemeinschaftlicher Produktion hervorbringen, die wir uns heute nicht vorstellen können.

Inzwischen aber haben wir den festen Boden verlassen und uns kurz in das Gebiet der „Utopie“ gewagt, Utopie hier verstanden als das noch nicht Wirkliche wohl aber Mögliche. Die russischen Arbeiterinnen und Arbeiter sind gescheitert an der Aufgabe die russischen Kriegsindustrie auf eine demokratisch organisierte Produktion umzustellen, die sich an den Bedürfnissen der vorwiegend bäuerlich-kommunalen Wirtschaft der russischen Landgemeinde orientiert. Die Revolutionierung der Produktionsverhältnisse, welche auf die Aufhebung der Lohnarbeit zielt, wird auch eine Revolution der Produktionsweise verlangen, so in der Arbeitsteilung. Im Zusammenhang mit dieser gesellschaftlichen Arbeitsteilung sehe ich die Marxsche Äußerung zu interpretieren, dass die soziale Revolution eine bestimmte Höhe der kapitalistischen Produktion zur Voraussetzung hat.

Sehen wir beispielsweise auf die Energiediskussion, so wird sich die Frage erheben, will die sozialistische Gesellschaft Strom aus der prinzipiell technisch nicht beherrschbaren Atomenergie produzieren, d.h eine Technologie verwenden, die auch demokratisch nicht kontrollierbar ist oder wird sie auf dezentrale Anlagen setzen, welche sich keiner demokratischen Kontrolle entziehen? Der Revolutionierung der Produktionsbeziehungen wird eine Revolution unseres Alltags und unserer Vorstellungen folgen müssen; die Befreiung aus der physischen Sklaverei wird mit einer Befreiung aus der geistigen einhergehen. Die Menschheit wird sich dann nicht weiter irgendwelchen „ExpertInnen“, WissenschaftlerInnen, TechnikerInnen, MedizinerInnen, HistorikerInnen usw. ausliefern lassen. Unsere Gefühle und Empfindungen werden nicht mehr als Störungen unseres Arbeitsvermögens wahrgenommen, sondern als Bedingungen unseres Daseins. Möglicherweise wird sich ein Wissenschaftsverständnis entwickeln, das sich gegenüber unserem heutigen so abhebt, wie dieses vom Aberglauben des Mittelalters.

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[1] Mandel, Ernest: Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung. Eine Anthologie. FFM, EVA 1971. Azzellini, Dario ; Ness, Immanuel [Hrsg.]: “Die endlich entdeckte politische Form”. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute. Köln, Neue ISP Verlag 2012. Bertrand, Charles L.: Revolutionary Situations in Europe, 1917 – 1922: Germany, Italy, Austria – Hungary. (Quebec) 1977.

[2] Eine kleine Erläuterung zu Konventionen von männlicher und weiblicher Schreibweise bei „Arbeiterrat“. Soweit es sich um historische Begriffe handelt oder meines Wissens um eine vorwiegend männliche Geschichte, habe ich die männliche Form belassen. Häufig kann ich das aber gar nicht wirkliche beurteilen. Es wäre in der Tat eine verdienstvolle Aufgabe, die Rolle von Frauen für die Herausbildung von proletarischen Selbstverwaltungsstrukturen zu untersuchen.

[3] Dies ist natürlich eine einseitige Bestimmung. Andere Charakteristika, wie die Form des politischen Kampfes oder der Organisationszusammenhang bleiben hier unberücksichtigt.

[4] „Die ‚Arbeit‘ ist die lebendige Grundlage des Privateigentums, das Privateigentum als die schöpferische Quelle seiner selbst. Das Privateigentum ist nichts als die vergegenständlichte Arbeit. Nicht allein das Privateigentum als sachlichen Zustand, das Privateigentum als Tätigkeit, als Arbeit, muß man angreifen, wenn man ihm den Todesstoß versetzen will. Es ist eines der größten Mißverständnisse, von freier, menschlicher, gesellschaftlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die „Arbeit“ ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der „Arbeit“ gefaßt wird, …“ Marx, Karl ; Friedrich, Engels: Kritik der bürgerlichen Ökonomie. Neues Manuskript von Marx und Rede von Engels über F. List. Archiv-Drucke 1. Westberlin, VSA 1972, 25.

[5] „Dies Resultat wird unvermeidlich, sobald die Arbeitskraft durch den Arbeiter selbst als Ware frei verkauft wird. Aber auch erst von da an verallgemeinert sich die Warenproduktion und wird sie typische Produktionsform; erst von da an wird jedes Produkt von vornherein für den Verkauf produziert und geht aller produzierte Reichtum durch die Zirkulation hindurch. Erst da, wo die Lohnarbeit ihre Basis, zwingt die Warenproduktion sich der gesamten Gesellschaft auf;… Im selbst Maß wie sie nach ihren eignen immanenten Gesetzen sich zur kapitalistischen Produktion fortbildet, in demselben Maß schlagen die Eigentumsgesetze der Warenproduktion um in Gesetze der kapitalistischen Aneignung.“ Marx, Karl: Das Kapital I, MEW 23, 613.

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