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Anmerkungen zu den 16 grundrisse-Thesen zur Weltrevolution
Leserbrief an die Redaktion von Eo

Kürzlich haben die Wiener „Grundrisse, Zeitschrift für linke Theorie und Debatte“ (/grundrisse.net/) in ihrer Nummer 40 festgestellt, „dass Revolutionen … (wieder) auf der Tagesordnung stehen“. Vor etwa einem Jahr hatten sie begonnen, „Thesen zur Weltrevolution“ zu besprechen, aber „wohin sich die Grundrisse in den nächsten 10 Jahren bewegen werden, kann … nicht vorausgesagt werden“ (Editorial zu „Grundrisse“ Nr. 40, S. 3). Jedenfalls haben sie jetzt „16 Thesen zur Weltrevolution“ veröffentlicht.

Da ich mich auch schon länger mit dem Thema beschäftige, unter anderem im Rahmen der Zeitung „Proletarische Revolution“, habe ich mir auch die Gruri-Thesen genauer angeschaut und möchte einige Bemerkungen dazu machen. Ich werde im Folgenden aber nicht systematisch meine Positionen denen der Grundrisse gegenüberstellen, sondern verweise auf die Programmatischen Dokumente (Thesen zu Grundfragen der Revolution) der IA*RKP aus den Jahren 1998 bis 2011, an denen ich mich und wir uns als Redaktionskollektiv der „Proletarischen Revolution“ orientieren (siehe z. B. /iarkp.wordpress.com/).

Warum sich die „Grundrisse“ nach zehn Jahren plötzlich – allerdings „nicht frei von Ironie“ (S. 8) – mit dem Thema „Weltrevolution“ beschäftigen, erklären sie so: „Im Jänner 2011 wurde … die arabische Welt von einer revolutionären Welle erfasst … Zumindest das Wort ‚Revolution‘ ist wieder in aller Munde … Außerdem verbinden viele Menschen mit dem Begriff ‚Revolution’ immer noch positive Dinge, sonst würde er in der Werbung … nicht so oft gebraucht werden“ (S. 8).

Im Lauf der einjährigen Beschäftigung mit Fragen der „Weltrevolution“ haben sie auch beim frühen Marx nachgeschlagen, um zu erfahren, was das eigentlich ist, und sind in ihrer letzten These (Nr. 16) auch mit einem Marx-Zitat aus dem Band 1 der Marx-Engels-Werke, S. 409, darauf eingegangen: „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch“. Verstanden haben sie aber bei diesem Marx-Zitat nicht, dass es um Klassenverhältnisse und Klassenherrschaft geht, und so klagen sie: „Der Sturz der politischen Herrschaft in Tunesien und Ägypten hat keine soziale Revolution ausgelöst“ (S. 15). Ich gebe zu bedenken: Vielleicht ist die Vertreibung eines Präsidenten halt doch keine „Revolution“ im marxistischen Sinn, auch wenn die Medien den Begriff hinausposaunen. Jedenfalls wollen sich die Grundrisse nirgends in ihren 16 Thesen recht festlegen, was sie unter „Revolution“ verstehen, schon gar nicht unter „Weltrevolution“. Einige Hinweise geben sie allerdings in der schon genannten These 16: „Eine /friedliche/ Revolution (kann) nur Erfolg haben“, wenn sich die Armee „gegen die Regierung stellt“. „Der Preis für das /Bündnis mit der Armee/ ist allerdings, dass es schwierig wird, gegen die Interessen der Offiziere etwas durchzusetzen“ (S. 15). Alles klar?! Meiner Meinung nach gibt es allerdings auch die Erfahrung, dass wirkliche (politische und soziale) Revolutionen bisher nicht friedlich gelaufen sind, dass nur Teile der Armee zu den Aufständischen übergelaufen sind oder dass Offiziere von den eigenen Soldaten verhaftet oder erschossen wurden. Für Österreich sind die bekanntesten Beispiele Wien 1848, der Matrosenaufstand von Cattaro/Kotor im Februar 1918 und kleinere Einzelfälle am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945.

Eine der Stellen, die mir in den Gruri-Thesen am besten gefallen hat, ist ein (weiteres) Marx-Zitat, und zwar aus den „Thesen über Feuerbach“ über die „umwälzende Praxis“ (S. 14). Marx kritisiert dort den mechanischen Materialismus und betont (dialektisch-materialistisch) die ständige Veränderung der Umwelt („Umstände“ bei Marx) durch den Menschen und zugleich die Rückwirkung der produktiven Tätigkeit des Menschen auf seine eigene Entwicklung selbst. Die Grundrisse hingegen „erweitern“ in ihrer These 14 zur Weltrevolution den Rahmen „des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit“ (Marx zitiert in Grundrisse, S. 14) und erläutern ihre Marx-Interpretation so: „Sex heißt nicht nur Penetration entlang der heterosexuellen Matrix, sondern ein Überschreiten von Identitäten und Normierungen“ (S. 14).

Wenn einerseits bestimmte Aussagen von Karl Marx in den Gruri-Thesen ausdrücklich gutgeheißen werden, andererseits aber durchgängig und scharf geschossen wird gegen Versuche der praktischen Umsetzung der Marxschen Theorien in den letzten 160 Jahren, kann das verschiedene Gründe haben – z. B. akademische Abgehobenheit oder Spontitum. Auffällig ist jedenfalls, dass alle historischen Versuche, den Sozialismus zu erkämpfen und aufzubauen, von den Grundrissen abgelehnt werden. Und zwar auf drei Ebenen: 1. Alle bisherigen Sozialismus-Versuche sind fehlgeschlagen, deswegen brauchen ihre Erfolge und Misserfolge gar nicht analysiert werden. 2. Alle erfolgreichen Revolutionen sind ohne „allumfassende Konzepte“ im „Trial and Error“-Verfahren passiert und außerdem funktionierte jede dieser Ad-hoc-Revolutions-Strategien nur einmal. 3. Kampfparteien behindern den gesellschaftlichen Fortschritt, darum muss der Leninismus angegriffen und verurteilt werden. In allen diesen Fragen vertrete ich eine völlig gegensätzliche Meinung.

Ich möchte natürlich nicht auf jeden Absatz eingehen, in dem die Grundrisse ihre pointierte Meinung ausführen, sondern nur ein paar Sachen zu bedenken geben:

Wenn die Grundrisse tatsächlich glauben, es habe „keine ernsthafte Forschung innerhalb der Linken“ über „die Niederlage des Sozialismus im 20. Jahrhundert“ gegeben (S. 9), kann ich ihnen mit einer Studienliste behilflich sein. Auf die Ökonomie bezogen empfehle ich z. B. als Einstieg immer wieder: Dickhut, „Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion“ (1972) oder das „Shanghai Textbook“ (1976) zu den noch ungelösten Klassenwidersprüchen in einer sozialistischen Übergangsgesellschaft am konkreten Beispiel Chinas. Auch zur politischen Ebene, der Herausbildung der Herrschaft einer neuen Ausbeuterklasse im Sozialismus, gibt es durchaus lesenswerte Schriften z. B. aus und über China während der Kulturrevolution. Wer da einmal ein bissl hineingeschnuppert hat, wird vielleicht bemerken, dass in der Kulturrevolution in China und im antibürokratischen Kampf in Albanien in den 1970er Jahren durchaus auch „institutionelle Lösungen“ dafür gefunden wurden, die „alten Formen der Arbeitsteilung in Frage zu stellen und die Massen an der Ausübung der Macht“ zu beteiligen, was in der Gruri-These 11 bestritten wird (S. 13). Dazu nur in Stichwörtern: Wahl der Betriebsleitungen durch die Arbeiter/innen, Revolutionskomitees mit (mindestens) einem Drittel Arbeiter/innen direkt aus der Produktion, Kaderrotation, mindestens ein Monat manuelle Arbeit für Funktionäre usw.

Die Grundrisse haben anscheinend Probleme mit dem Verhältnis von Erfahrung, Analyse und Theoriebildung. Willkürlich wird in ihrer These 4 eine für die Strategie wichtige /politische Analyse/ dem Bereich „Erfahrungen“ zugerechnet (Maos „Bericht zur Bauernbewegung in Hunan“) im Gegensatz zu Maos „ökonomischen Analysen der Verhältnisse auf dem Land“, die als „große Theorien“ verunglimpft werden. Das Ganze soll dann als Beweis für die Gruri-These 4 dienen, dass strategische Planung und Konzepte sowieso nichts bringen. Pseudo-empiristisch wird behauptet, dass – ohne Klarheit über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, ohne ökonomische und politische Klassenanalyse, ohne wissenschaftliche Verarbeitung der Erfahrungen der Klassenkämpfe zumindest der letzten 200 Jahre usw. – einfach das richtige „Gspür“ des „revolutionären Subjekts, (das) … immer wieder neu definiert werden muss“ (S. 13), für „das Window of Opportunity“ (S. 10) der sicherste Weg zur „Weltrevolution“ sei.

Wenn den Grundrissen die Argumente fehlen, wird an ihre Stelle eine Beschreibung gesetzt, die so fürchterlich klingt, dass von der fehlenden Analyse abgelenkt wird. Die ganze These 7 lang beschreiben sie zum „leninistischen Parteimodell“, welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, wie Jugendliche „zu Soldaten oder Bürokraten“ (S. 12) werden usw. … Und? Sollen wir deshalb gleich gar nicht wirklich versuchen, die Unterdrücker und Ausbeuter zu stürzen.

Wir sagen: Unser Feind, die herrschende Kapitalistenklasse, ist äußerst gut gerüstet und arbeitet notfalls mit krasser Demagogie und brutaler Gewalt. Also brauchen wir eine Kampforganisation unserer besten Kräfte, die auch unter solchen Bedingungen den Kampf organisieren und vorantreiben kann. Alle erfolgreichen revolutionären Bewegungen haben im Kern so eine Kampforganisation gehabt, und wir gehen davon aus, dass der Aufbau einer revolutionären kommunistischen Kampfpartei (samt Programm, Einfluss in proletarischen Massenorganisationen usw.) ein wichtiger Schritt in eine bessere Zukunft ist. Das kann schiefgehen, aber ohne Kampforganisation werden wir nie zur Weltrevolution kommen. Da der Niedergang des Sozialismus im 20. Jahrhundert offensichtlich auch mit einer Bürokratisierung und der Herausbildung einer neuen Bourgeoisie aus Partei- und Staatsfunktionären zusammenhängt, müssen wir die Versuche studieren und bewerten, die im antibürokratischen Kampf gemacht wurden. Die Lösung liegt jedenfalls in der Verbesserung des Werkzeugs Kampfpartei, nicht in der revolutionären Arbeit ohne Werkzeug!

Die Grundrisse behaupten in ihren These 3 und 4: „Jede Revolutionsstrategie funktionierte nur ein Mal“, „auch die Guerilla-Strategien von Mao Zedong und Che waren nur ein Mal erfolgreich“ und „erfolgreiche Revolutionäre hatten keine umfassenden Konzepte“ usw. (S. 10).

Untermauert werden dieses Behauptungen z. B. mit Aussagen wie: „Im Zweiten Weltkrieg konnte in keinem Land der Krieg in einen Bürgerkrieg umgewandelt werden“ (S. 10). Was soll das heißen? Auch wenn die Partisanenkriege in Italien und Frankreich nicht zum Sozialismus geführt haben, so haben sie doch den Sturz von Mussolini und Petain erreicht. Und in Ost- und Südosteuropa, in Griechenland bis 1948 – war das kein Bürgerkrieg? Was war in China, Indochina, Korea, Philippinen usw.?

Mit solchen Tatsachenverdrehungen wollen die Grundrisse jede Möglichkeit leugnen, dass historische Entwicklungen und Tendenzen erkannt werden können und daraus Schlüsse fürs praktische Handeln gezogen werden können. Weit abgehoben vom dialektischen Materialismus und einer materialistischen Geschichtswissenschaft wird geschichtsphilosophischer Idealismus verbreitet. Aus der bisherigen Geschichte der Klassenkämpfe der letzten 2000 Jahre, insbesondere der Arbeiter/innenbewegung seit dem 19. Jahrhundert, können wir nach Ansicht der Grundrisse nichts lernen – außer dass alles zufällig passiert ist, „im ‚Trial and Error‘-Verfahren“ (S. 10). Denn „Erfahrungen waren für die Siege der Revolutionen wichtiger als große Theorien“ (S. 11). Als revolutionärer Kommunist behaupte ich aber: Ohne theoretische Verarbeitung der Erfahrungen, ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Praxis geben.

In gewisser Weise spiegelt sich in den „16 Thesen zur Weltrevolution“ das eigentliche Grundproblem der „Grundrisse“ wider: Wie kann auf theoretischer Ebene nachgewiesen werden, dass Theoriebildung unsinnig und nicht möglich ist?

*Insgesamt* fällt an den 16 Gruri-Thesen auf, dass sie vor allem beschreiben und kaum analysieren und dass sie meistens /Erscheinungen/ beschreiben und daher wenig in die Tiefe gehen, also nicht zum Wesentlichen vorstoßen. Ein beliebiges Beispiel, hier aus These 7 zur Frage „Partei und emanzipatorische Gesellschaft“: „Später wurde die Abschaffung des Staates auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt und eine fatale Dialektik propagiert, dass nur die Verstärkung des Staates und der Disziplin eines Tages das Reich der Freiheit bringen würde“ (S. 12). Bekannte Grundlagen der revolutionären Staatstheorie finden sich z. B. bei Engels in „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ und „Anti-Dühring“ oder bei Lenin in „Staat und Revolution“. Engels weist z. B. nach, dass der Staat mit der Spaltung der Gesellschaft in Klassen entstanden ist und mit dem Ende der Klassen und der Klassenunterschiede (in der höheren Phase des Sozialismus, mit der klassenlosen Gesellschaft) wieder verschwinden wird. In diesem Zusammenhang stellt Engels im „Anti-Dühring“ fest: „Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab“ (MEW 20, S. 262). Allerdings nicht von selber und schon gar nicht, solange rundherum noch Klassenherrschaft und Imperialismus bestehen.

Die Oberflächlichkeit der Grundrisse ist oft verbunden mit einem sprunghaften Wechsel der Ebenen, z. B. von (behaupteten) objektiven Tatsachen zu subjektiven Konzepten. Dazu ein beliebiges Beispiel aus These 12 zur „Strategie“: Zuerst heißt es: „Heute /gibt es kein/ einheitliches anzurufendes (?) revolutionäres Subjekt mehr.“ Kurz darauf: „/Wenig Sinn hat es heute/, einheitliche revolutionäre Subjekte wie DIE Arbeiterklasse … anzurufen“ (S. 13). Bestreiten also die Grundrisse, dass es im Kapitalismus (bei uns!) eine Gesellschaftsklasse gibt, die keine Produktionsmittel besitzt und ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten verkaufen muss? Bestreiten sie, dass die Arbeiter/innen aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft ein Interesse entwickeln können, die Kapitalistenherrschaft zu stürzen? Oder wollen sie nur betonen, dass /sie selbst/ heute nicht unter den Arbeiter/innen agitieren wollen, weil es ihrer Meinung „wenig Sinn“ hat? Worauf stützen sie diese Einschätzung? Auf die erstaunliche Verwendung des Begriffs „anzurufen“ im Zusammenhang mit dem revolutionären Subjekt wollen wir hier erst einmal gar nicht eingehen.

Eine dritte Eigenheit, die sich durch die ganzen Gruri-Thesen durchzieht, ist die konsequente Weigerung, über den eigenen Tellerrand (bzw. die eigenen Favorite Links) hinaus zu schauen. Was nicht in Mitteleuropa passiert und auch nicht auf den von Grundrissen-Leuten bevorzugten Websites diskutiert wird, ist nicht von Belang für die „Weltrevolution“, existiert (für sie) nicht. Beliebige Beispiele aus den Thesen: „In linken Debatten wird heute nur noch selten von Revolution gesprochen“ (S. 8). „In Westeuropa werden in der Linken keine Debatten mehr zur Rolle der bewaffneten Formationen des Staats geführt“ (S. 15). Anscheinend meinen sie, dass relevante linke Debatten nur in Westeuropa und USA geführt werden, haben aber auch dazu nur einen recht kleinen Blickwinkel. Deshalb möchte ich einerseits auf Netzseiten wie /bannedthought.net/, /philippinerevolution.net/ oder /aworldtowin.org/ hinweisen, andererseits z. B auf die deutschsprachige Broschürenreihe „Internationale Debatte“, die sich schwerpunktmäßig gerade mit Fragen der „Rolle der bewaffneten Formationen des Staats“ und diesbezüglichen Aufgaben von Revolutionär/innen beschäftigt.

Eo (Februar 2011)

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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