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Arno Uhl: Der Kongress der viele ist
Theoretische Erörterung von (anti-)repräsentativen Praxen am Beispiel des Wiener Solidarökonomie Kongresses 2009

Einleitung

Im Februar 2009 fand in Wien ein Solidarökonomie Kongress statt, an dem über 1000 Personen partizipierten. Ich war von Anfang an intensiv in den Organisationsprozess involviert und wollte schon lange eine Reflexion über diesen verfassen. Nun habe ich den Beginn einer neuen Organisationsphase für einen zweiten Kongress, der vermutlich 2012 stattfinden soll (www.solidarische-oekonomie.at), zum Anlass für diesen Text genommen.

Der Kongress war vom Anspruch getragen, Hierarchien und Repräsentation zu vermeiden, indem sich die Vorbereitungsgruppe ausschließlich darauf beschränkte, einen Raum für Kommunikation und Vernetzung zu öffnen, innerhalb dessen alle Personen und Gruppen die gleichen Möglichkeiten haben sollten, sich einzubringen. Das klingt zwar einfach, die konsequente praktische Umsetzung dieses Zieles ist allerdings eine wesentlich vertracktere Angelegenheit. So hat die Vorbereitungsgruppe zahlreiche experimentelle und unkonventionelle Wege beschritten und dabei Erfahrungen gemacht, die für andere Kongresse, aber auch ganz generell für Organisationsprozesse sozialer Bewegungen interessant sein können. Es geht in diesem Text demzufolge nicht um die konkreten Inhalte des Kongresses, sondern ausschließlich um dessen Form; also um den Vorbereitungsprozess und die Kongressstruktur. Nach deren Beschreibung und vor der eigentlichen kritischen Nachbetrachtung erschien es mir notwendig, zwei sehr allgemeine theoretische Ausführungen als Reflexionsgrundlagen einzuschieben. Erstens eine Kritik von Repräsentation im Waren produzierenden Patriarchat[1]. Zweitens eine „Theorie der Praxis“, die versucht sich jenen Widersprüchen zu stellen, in die jegliche gesellschaftlichen Emanzipationsversuche verstrickt sind. Anstelle einseitiger ideologischer Antworten geht es um eine dialektische Vermittlung zwischen Systemimmanenz und -transzendenz, also der Verbesserung der Lebensbedingungen innerhalb der bestehenden Gesellschaft einerseits und einer Überwindung des bestehenden Systems andererseits.

Konzepte „Politischer Akteur“ oder „offener Raum“

Jede Vorbereitungsgruppe für einen Kongress oder ähnliche Veranstaltungen sollte sich die Frage stellen, ob sie sich als politische Akteurin versteht oder ob sie einen offenen Raum schaffen will, da beide Zugänge sich weitgehend ausschließen. Das Verständnis als „politische Akteurin“ setzt voraus, eine klar abgegrenzte homogene Position zu vertreten, um diese im Machtkampf der öffentlichen Politiksphäre durchzusetzen zu können. Dafür bedarf es in Bezug auf bestimmte Fragen Gleichgesinnte. Ein offener Raum setzt hingegen lediglich voraus, ein grobes inhaltliches Feld abzustecken innerhalb dessen auch Personen mit heterogenen bis unvereinbaren Positionen zusammenkommen können, um sich kennen zu lernen, zu vernetzen, zu diskutieren oder irgendeinen anderen subversiven Unsinn zu treiben. Viele große Kongressvorbereitungsgruppen, wie zum Beispiel die des „Austrian Social Forums“, haben sich diese Frage offensichtlich nie gestellt bzw. war ihnen der Widerspruch zwischen den beiden Zugängen vermutlich nicht bewusst. Bei diesen Kongressen wurde nach außen hin das Bild eines offenen Raumes vermittelt, um möglichst viele Leute anzusprechen und zur Teilnahme zu bewegen. Doch spätestens wenn die Mobilisierungsphase vorbei war, begannen Prozesse, in denen versucht wurde, das politische Gewicht aller teilnehmenden Personen zu verwenden, um gewisse politische Positionen zu befördern. Vom ASF bzw. der Orga Gruppe wurde zum Beispiel eine Demonstrationen gegen den Irakkrieg oder für Steuergerechtigkeit organisiert. Welche Positionen durch Manifeste, Aktionen, Aussendungen und andere repräsentative Artikulationsformen an die Öffentlichkeit kommuniziert werden, muss aber irgendwer irgendwo beschließen. Sehr oft findet das in der Vorbereitungs- bzw. Organisationsgruppe statt, die lediglich aus ein paar Personen besteht. Aber auch wenn wir von einem basisdemokratischen Ideal ausgehen, also davon, dass der Prozess transparent verläuft und allen TeilnehmerInnen der Zugang weitestgehend ermöglicht wird, indem zum Beispiel eine Abschlussversammlung am Kongress stattfindet, um gemeinsam ein Manifest zu verfassen, führt kein Weg um Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Positionen vorbei, denn es ist schon allein technisch nicht möglich in so beschränkter Zeit innerhalb einer heterogenen Masse ohne Manipulation einen Konsens zu finden. Je heterogener der offene Raum im Vorfeld angekündigt wurde und je weiter diese Absicht erfolgreich realisiert wurde, desto mehr Positionen müssen dann in diesem Entscheidungsprozess übergangen werden, um zu einem politisch verwertbaren Ergebnis kommen zu können. Innerhalb des gesamten Kongresses werden Konkurrenz und taktisches Kalkül dadurch zu tragenden Prinzipien in der Kommunikation und im Umgang miteinander. Wer sich nicht durchsetzen kann, wird überfahren. TeilnehmerInnen, die keine Lust haben sich an solchen Machtkämpfen zu beteiligen, die vom Entscheidungsprozess nichts wussten, oder die nicht daran teilnehmen konnten, finden dann erst im Nachhinein heraus, wofür sie angeblich eingetreten sind. Das Konzept eines offenen Raumes wird hier zum Köder und zur Werbestrategie der Repräsentationswütigen. Meine Erfahrungen auf solchen Kongressen haben jene Überlegungen vorangetrieben, die dann in die Organisation des Solidarökonomie Kongress eingeflossen sind.

Konkreter Organisationsprozess und Kongressstruktur

Beim Solidarökonomie Kongress sollte dem Konzept eines „offenen Raumes“ auf allen denkbaren Ebenen so weit wie möglich entsprochen werden. Die Vorbereitungsgruppe stand von Anfang an allen Interessierten offen. Die oft via Doodle ermittelten Treffen wurden ausgesendet und auf der Homepage veröffentlicht. Die interne Kommunikation lief über eine Mailverteilerin, die alle Interessierten subskribieren konnten. Der aktuelle Organisationsstand wurde über einen Newsletter und die Homepage laufend transparent gemacht. Die Homepage selbst war so, wie der gesamte Kongress, als offene Plattform konzipiert. Für den Kongress und seine Organisation haben wir von Anfang an drei Organisationsgrundlagen beschlossen: Die Vorbereitungsgruppe stand immer allen offen, aber einmal im Konsens getroffene Entscheidungen konnten nur im Konsens wieder aufgelöst werden. Das war wichtig, um Verlässlichkeit für alle bereits Involvierten zu schaffen, weil sonst jede neue Person den bisher erarbeiteten Charakter des Kongresses wieder in Frage hätte stellen können. Die Vorbereitungsgruppe verzichtete auf jegliche inhaltliche Gestaltung durch gezielte Einladungen.[2] Sie organisierte ausschließlich den offenen Rahmen für Gruppen und Personen, um Programmpunkte einzubringen, ohne dabei irgendwelche Inhalte zu bevorzugen. Dieser Charakter galt über den eigentlichen Kongress hinaus für alles was im Rahmen des Organisationsprozesses entstand, wie die Homepage oder ein geplantes Buch, das dann aber nie zu Stande kam. Die Vorbereitungsgruppe bezog keine inhaltlichen Positionen und besetzte auch den Begriff „Solidarische Ökonomie“ nicht. Aus der Notwendigkeit heraus ein Feld abstecken zu müssen, innerhalb dessen sich Personen angesprochen fühlen, wurde bloß ein einziger vager Aufruftext verfasst. Dieser sollte nicht mehr erweitert oder verändert werden können, da neue Formulierungen immer auch eine neue Positionierung bedeuten. Nur die Kürzung war für Mobilisierungszwecke zulässig, z.B. für Flyer, Poster, Aussendungen etc…

Kurz nachdem diese Strukturen geschaffen und Grundsätze festgelegt waren, verfassten wir eine offene Einladung und verbreiteten diese. Es wurde nicht nur dazu eingeladen, inhaltliche Beiträge einzubringen, sondern auch einzuladen. Neben den zu diesem Zweck produzierten Flyern und Plakaten, wurde der Aufruf auch in möglichst vielen Zeitungen und Internetseiten veröffentlicht. Ausschlaggebend zu Beginn war, dass alle Personen in der Vorbereitungsgruppe den Aufruf an ihnen bekannte Personen und Gruppen weiterleiteten. Die inhaltliche Ausrichtung war insofern am Anfang noch an uns gebunden, aber durch die Aufforderung an alle weitere Personen einzuladen, konnte die Einladungspolitik und inhaltliche Gestaltung eine Eigendynamik entfalten. JedeR konnte verschiedenste Formate einbringen, also von klassischen Frontalvorträgen bis zu Open Space[3] oder Performances. Wir hatten einen Zeitplan erstellt, der 1,5 stündige Einheiten vorsah, wobei allen freistand, für ihre Beiträge mehrere Einheiten zu nutzen. Beiträge konnten auf der Homepage mit Beschreibung, zeitlichen Präferenzen, technischen und räumlichen Anforderungen eingetragen werden. Hierfür gab es eine Deadline, um ein Programm veröffentlichen und drucken zu können. Auf diese Weise kamen rund 130 Programmpunkte und 17 Buch- oder Infostände zusammen. Die Programmpunkte teilten wir dann gleichmäßig auf die vorgesehenen Einheiten auf, wobei es keine Bevorzugung oder sonstige spezielle Behandlung irgendwelcher Formate gab.

Wir ließen Räume unbesetzt, um spontanen Beiträgen oder Leuten, die sich nicht rechtzeitig angemeldet hatten, ebenfalls Platz zu bieten. Am Kongress gab es ergänzend zum gedruckten Programm eine riesige Papierwand mit dem Zeitplan, um zusätzliche Beiträge anzukündigen zu können. Im Rahmen dieser Struktur wären die TeilnehmerInnen stark voneinander isoliert geblieben und es wäre nur wenig zur Vernetzung gekommen. Daher gab es zwei Vernetzungs-Open-Spaces, während denen keine anderen Aktivitäten stattfanden. Dort konnten sich große Gruppen zu bestimmten Themen finden und Kontakt für eine weitere Zusammenarbeit aufnehmen. Aus diesem Open Space sind vermutlich Netzwerke entstanden, die weiter existieren, auch wenn ich konkret nur von einer Guerilla Garding Gruppe weiß, die sich in der Folge ein paar Mal getroffen hat. Art und Umfang großer und dezentraler Vernetzungsprozesse nach einer solchen Veranstaltung lassen sich fast nicht erfassen. Die Möglichkeit an einem Kongress teilzunehmen ist natürlich immer auch an die Lebenssituation der einzelnen TeilnehmerInnen gebunden. Um zu verhindern, dass manche aus finanziellen Gründen nicht teilnehmen können, wurden keine fixen Tagungsgebühren eingehoben. Durch selbst bestimmbare Solidarbeiträge kamen trotzdem über 10.000 Euro herein. Verpflegung, Unterbringung in einer Turnhalle und Kinderbetreuung für die drei Tage waren gratis bzw. konnten beim Solidarbeitrag mitbedacht werden. Wir haben auch eine Fahrtkostenrückerstattung angeboten, die nicht an konkrete Gegenleistungen, wie einen Programmpunkt zu organisieren, gebunden war. Auch hier war die Selbsteinschätzung der TeilnehmerInnen gefragt. Da wir die anfallenden Kosten und Einnahmen vor dem Kongress wegen des offenen Charakters nicht einschätzen konnten, haben wir nur jenen die vollständige Rückerstattung zugesagt, für die es ausschlaggebend war. Alle anderen hätten einen prozentuellen Zuschuss je nach unseren Möglichkeiten bekommen, aber schlussendlich konnten wir allen, die einen Antrag gestellt hatten, die vollen Fahrtkosten rückerstatten.

Die Homepage www.solidarische-oekonomie.at  wurde wie der Kongress als offener Raum konzipiert. Alle Bereiche waren frei gestaltbar. JedeR konnte Termine, Links, Projektbeschreibungen und inhaltliche Beiträge veröffentlichen. Lediglich eine Anmeldung mit Synonym und Passwort war erforderlich um Einträge durch Spamprogramme im Internet vorzubeugen. Wie schon angekündigt, werde ich im Weiteren einige allgemeine, aber für die weiteren Reflexionen grundlegende, Überlegungen zu „Repräsentation“ und zur „Theorie politischer Praxis“ anstellen, bevor ich mich den konkreten Erfahrungen und Problemen widme.

Repräsentation - von der Machtasymmetrie zum Repräsentationsfetisch[4]

Klassisch ist die anarchistische Repräsentationskritik. Sie lässt sich vermutlich durch zwei Punkte zusammenfassen. Einerseits begreift sie Herrschaft als Machtasymmetrie in zwischenmenschlichen Interaktionen. Die RepräsentantIn spricht, handelt oder entscheidet für eine andere Person. Sie enthebt dadurch die andere Person in diesem Bereich ihrer Selbstbestimmung. Die Kritik würde auch dann treffen, wenn dem Selbstbild der parlamentarischen Demokratie entsprechend, die Mehrheit über die Minderheit entscheiden würde. Die zweite wichtige Achse der Kritik richtet sich jedoch bereits gegen das parlamentarische Selbstbild, dass durch Wahlen mitentschieden werden kann. Die RepräsentantInnen entscheiden letztlich auch oder sogar ausschließlich nach ihrer eigenen Interessenslage. Die Handlungen der RepräsentantInnen und der Wille der Repräsentierten stimmen also schlichtweg nicht überein. Insofern entscheiden PolitikerInnen aus Eigeninteresse über die große Mehrheit der Menschen. Dieser Herrschaftskritik ist sicherlich einiges abzugewinnen. Allerdings begrenzt es sich auf unvermittelte Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten. Dabei übersieht es die Formen subjektloser Herrschaft, die durch den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang vermittelt werden und schlussendlich nicht nur über die Repräsentierten sondern auch über die RepräsentantInnen bestimmen. Repräsentation ist im aktuellen historischen und gesellschaftlichen Kontext mehr als einfach nur ein neutrales Werkzeug zum Fällen von Entscheidungen, an dem einzig die Machtasymmetrie bzw. ungleiche Verteilung zu kritisieren ist. Nicht nur in staatlichen Institutionen, sondern innerhalb der politischen Sphäre an sich entfaltet sich eine Eigenlogik und -dynamik, die weit über Intentionalität von Eigeninteressen hinausgeht und diese sogar negiert. Das ist insofern für jegliche Organisationsprozesse bedeutsam als das der Versuch RepräsentantInnen zu vermeiden und Entscheidungsmacht gerecht zu verteilen alleine Herrschaft noch nicht verhindern kann. Das Repräsentationsspektakel verwandelt jegliche Positionen und Ideen in selbstzweckhafte Inszenierungen und konstituiert dementsprechend die politischen Subjekte. Ich werde daher versuchen, thesenhaft eine Minigenealogie des Repräsentationsfetischs[5] zu formulieren, um die subjektlose Herrschaft greifbar und angreifbar zu machen.

Mit dem Beginn der Moderne, dem Entstehungsprozess des Waren produzierenden Patriarchats und der modernen Staatlichkeit ging eine Trennung der Gesellschaft in die Sphären der Ökonomie und der Politik[6] einher. Die durch das staatliche Gewaltmonopol und Rechtssystem gesicherte Eigentums- und Vertragsordnung wurde dabei zur unveränderlichen Grundlage dieser neuen Gesellschaftsordnung. Die Gestaltungsmacht der politischen Sphäre bleibt durch diesen Rahmen begrenzt und entpuppt sich in zweierlei Hinsicht als bürgerliche Illusion. Einerseits sind die Tätigkeiten in der politischen Sphäre[7] nicht wertproduktiv und dadurch von einer indirekten Finanzierung über erfolgreiche Akkumulation abhängig, also primär von Steuern. Jedes staatliche Interesse gilt daher zuerst immer der wirtschaftlichen Prosperität und somit einer Art übergeordnetem Gesamtinteresse aller nationalen Einzelkapitale. Aber auch darüber hinaus gehende Politik nicht staatlicher Institutionen oder AkteurInnen ist wertunproduktiv, wie z.B. von NGO. Sie hat dadurch schlussendlich ebenfalls immer abhängig von Abgaben aus dem im Verwertungsprozess geschaffenen Mehrwert. Es besteht also auch hier immer ein strukturelles Interesse an einer erfolgreichen Akkumulation, wenn auch nicht unbedingt in einem nationalstaatlichen Rahmen. Andererseits kommt der Politik als Feld gesellschaftlicher Machtkämpfe eine Vermittlungsinstanz zwischen Interessensgegensätzen zu, die jedoch erst aus den die Widersprüchen der Produktionsweise hervorgehen; z.B. der zwischen Arbeit und Kapital. Die Repräsentation ist die zentrale Form, die diese Interessenvertretung im endlosen Machtkampf annimmt. Sie darf nicht nur in einem quantitativen Sinn verstanden werden, also wie viele Personen durch eine Wahl, Petition oder sonstige Formen direkter Mandate vertreten sind. Das ist vielleicht ihr Ursprung oder ihre Grundform. Wichtiger ist die Anerkennung der Repräsentation durch andere, und dafür gibt es andere Techniken als die vertragsrechtliche Vorstellung von Mandaten erfassen kann. So kann eine Attac-FunktionärIn in Medien oder bei VerhandlungspartnerInnen in Anspruch nehmen, die globalisierungskritische Bewegung zu repräsentieren. Entscheidend sind hier Faktoren wie Medienarbeit oder Glaubwürdigkeit durch ExpertInnentum.

Repräsentation unterliegt einer Dynamik anonymer Konkurrenz, die nicht primär aus gesellschaftlichen Interessenskonflikten heraus entsteht, sondern aus dem selbstzweckhaften Wettstreit um die Ausweitung des Repräsentationsanspruches, aus dem heraus erst nach Interessen gesucht wird oder die sogar erst produziert werden. Durch diese Konkurrenz getrieben, muss Repräsentation ständig versuchen, zwei widersprüchliche Bewegungen in sich zu vereinen. Einerseits die Ausweitung des Repräsentationsanspruchs über Personen, weil es Macht bedeutet. Das zeigt sich bei Parteien noch relativ klar in Wahlergebnissen, ist aber in vielen anderen Fällen wesentlich schwieriger zu erfassen. Diese Ausweitung impliziert eigentlich Heterogenität um eben möglichst viele gesellschaftliche Interessenslagen bzw. Gruppen abzudecken. Während also die ökonomischen Konkurrenzprozesse auf die Individuen atomisierend und vereinzelnd wirken, veranlasst der politische Konkurrenzprozess beständig nach Gemeinsamen zu suchen und das Getrennte imaginär wieder zu vereinen. Die Politik geht dazu über dieses Vereinende nicht einfach nur in objektiven Interessensgegensätzen zu suchen, sondern auch selbst zu produzieren. Das gilt für reaktionäre Kategorien, wie „Nationalität“, genauso wie für progressive, wie „Prekariat“ und natürlich auch „Solidarische Ökonomie“.

Andererseits kann Repräsentation aber ihrem eigentlichen Wesen nach nur mit einer Stimme sprechen und daher auch nur ein einziges Interesse oder eine einzige Meinung haben. In diesen Zwang zur Vereinheitlichung muss sie die Pluralität, die sie zuvor suchte, wieder negieren. Es ist klar, dass sie hierfür Herrschaftstechniken entwickeln muss, die es ihr ermöglichen, unterschiedliche Interessen und Positionen auf eine zu reduzieren, selbst wenn diese an sich noch so unvereinbar sind. Zentral ist hier natürlich nicht so sehr die Herstellung einer wirklichen Anerkennung durch die Repräsentierten, sondern der Anschein, um eine öffentliche Anerkennung des Repräsentationsstatuses zu erlangen. Vor diesem Hintergrund bedeutet jede abweichende Meinung oder gar Kritik im Hinblick auf die Ausweitung des Repräsentationsanspruchs eine Schwächung und im Hinblick auf die Vereinheitlichung eine Kampfansage um die Deutungshoheit und Hegemonie. Es liegt also in der Funktionsweise der Repräsentation, eigene Probleme bzw. die eigene Widersprüchlichkeit zu verstecken und zu leugnen. Sie ist demnach das Gegenteil von Selbstreflexion, der Grundlage jeder Emanzipation.

Mit dem verdinglichten Zwangscharakter der Repräsentation verhält es sich in mancher Hinsicht ähnlich, wie mit dem Zwangscharakter der Warenproduktion. Die Repräsentation entlarvt sich in dem bisher umrissenen Prozess als Selbstzweck mit einer Eigendynamik und -logik. Während es beständig so scheint, als bedürfe es Repräsentation und Macht, um etwas bestimmtes zu erreichen, verkehrt sich hinter dieser Fassade vom Mittel zum Zweck und verselbstständigt sich gegenüber ihren konkreten Inhalten, wie der Interessensvertretung und dem Erstellen politischer Konzepte. Diese Inhalte treten hier nicht nur hinter diese Mittel zurück, sondern werden selbst zum Mittel um den Repräsentationsanspruch auszuweiten. Der Charakter einer solchen Politik ist die Inszenierung von Entscheidungsfreiheit, während sie letzten Endes die Verwaltung der Notwendigkeit garantiert muss. Die Verselbstständigung und der blinde Wachstumszwang spiegeln sich an vielen konkreten Erscheinungen wieder, wie zum Beispiel in einer Fokussierung auf Medienpräsenz, auf Mitglieder- oder auf TeilnehmerInnenzahlen innerhalb vieler politischer Gruppierungen.

Als Totalität erfasst diese Politikform nicht nur BerufspolitikerInnen, wie Partei- oder NGO-FunktionärInnen, die existenziell von ihrem Beruf abhängig sind und die somit unmittelbar an das Repräsentationssystem gefesselt sind. Sie erfasst auch Individuen und Kollektive, die außerparlamentarisch und nicht erwerbsmäßig agieren. Es ist nicht nur so, dass sie herrschende Kommunikations- und Organisationsformen mangels Wissen über Alternativen bloß imitieren, sondern sie sind auch materiell an den Repräsentationsfetisch gebunden. Sie können sich ohne Repräsentation in der politischen Arena nicht artikulieren und sind daher auf sie angewiesen, um sich in Machtkämpfen behaupten zu können. So steht zum Beispiel in vielen an sich basisdemokratischen und konsensorientierten Kollektiven unhinterfragt fest, dass bei vielen inhaltlichen Fragen eine einheitliche Linie gefunden bzw. festgelegt werden muss. Im Rahmen der auf unvermittelte Herrschaft begrenzten Kritik, wie ich sie anfangs als klassisch anarchistische dargestellt habe, scheint hier Herrschaft und Repräsentationen schon überwunden zu sein. So gut basisdemokratische Ansätze auch sein mögen, muss auch ihre Integration in das herrschaftsförmige Repräsentationssystem erkannt werden; selbst dann, wenn diese Kritik keine unmittelbaren Lösungen anbietet.

Theorie der Praxis – sich nicht dumm machen lassen von der Dummheit

Eine „Theorie der Praxis“ muss erkennen, dass sich die Widersprüche, die dieses Gesellschaftssystem formieren, nicht systemimmanent lösen lassen. Wir müssen im Alltagsleben, wie in der (anti-)politischen Praxis, einen Umgang mit diesen Widersprüchen finden. Repräsentation ist dabei eines jener Übel, wie Geld oder Gewalt, die nicht vermieden werden können, selbst dann, wenn wir sie noch so konsequent zu überwinden trachten. Die KommunistIn braucht Geld und die AntimilitaristIn muss sich mit Gewalt gegen Gewalt wehren. Repräsentation brauchen wir, um uns im Feld der Politik überhaupt artikulieren zu können und in den dortigen Machtkämpfen nicht einfach unterzugehen. Aus dieser Perspektive erscheint der Widerspruch noch ausschließlich zwischen „guten Idealen“ und „gesellschaftlichen Notwendigkeiten“ zu verlaufen. In einem gewissen Maße ist das auch zutreffend, aber die Lösung eines Widerspruchs zu Gunsten einer Seite bedeutet immer Ideologisierung und Verblendung, insofern sich beide Seiten eines Widerspruches gegenseitig bedingen. So liegt zum Beispiel die Emanzipation von den traditionellen Geschlechterverhältnissen nicht einfach beim Weiblichen; im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit[8] nicht einfach in der Arbeit oder den Interessen des Proletariats; und im Widerspruch zwischen den Interessen zweier Staaten nicht nur beim Schwächeren. Richtige Emanzipation besteht letzten Endes in der Überwindung jener gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Widersprüche produzieren; also der Überwindung des Waren produzierenden Patriarchats und des Staates. Bei der „transzendentalen Praxis“ als einzig legitimer stehen zu bleiben, würde allerdings Scheinradikalität und wiederum Ideologisierung bedeuten, und sich in einer stumpfsinnigen ganz-oder-gar-nicht-Revolutionsromantik verlieren. Dem „guten Ideal“ der Systemüberwindung steht nämlich nichts Geringeres gegenüber als die „gesellschaftliche Notwendigkeit“ innerhalb des Systems zu überleben. Eine wirklich konsequente Auflösung dieses Widerspruchs zu Gunsten der Systemüberwindung, fällt letztlich mit Selbstmord in eins. Die „immanente Praxis“, verstanden als soziale Kämpfe fürs Überleben und für ein besseres Leben innerhalb dieser Gesellschaft, ist also eine „gesellschaftliche Notwendigkeit“. Hier befinden wir uns tendenziell auf der Seite der Benachteiligten und Marginalisierten. Diese Seite konsequent einseitig zu Ende zu denken, würde bedeuten sich in reiner Widerspruchsbearbeitung und Systemreproduktion zu verlieren, weil es erfordert, sich auf jene problematischen Spielregeln einzulassen, die die Probleme erst hervorbringen.

Eine dialektische „Theorie der Praxis“ bedeutet Widersprüche denken und aushalten zu können, um sich nicht dumm machen zu lassen und langfristig auf ihre Überwindung zielen zu können. Jede Praxisform lässt sich auf Grund ihrer notwendigen Systemimmanenz zu Recht kritisieren, aber kann allein deshalb noch nicht verworfen werden. Die Relativierung, die darin steckt, bedeutet jedoch keine Beliebigkeit und läuft auch nicht auf einen „goldenen Mittelweg“ hinaus. Es geht darum, zu fragen, wie der Umgang mit den Widersprüchen ausschauen kann. Inwieweit verbessern sie immanente Lebensbedingungen? Inwieweit tragen sie transzendentales Potential in sich. Wie lassen sich beide Momente möglichst intensivieren? Erst eine Selbstkritik im Sinne einer Einsicht in diese Widersprüchlichkeit vermag es, das subversive Potential möglichst weit zu treiben, auch wenn selbst die am weitesten fortgeschrittenen Praxisformen immer noch notwendigerweise widersprüchlich und kritisierenswert bleiben müssen. Eine fortschrittliche Praxis braucht immer die bedingungslose Kritik der Verhältnisse, was eben auch die eigene Praxis mit einschließt. Die Forderung sich keine Illusionen zu machen, ist die Forderung den Zustand zu beenden, der dieser Illusionen bedarf. Die „Praxis der Theorie“, also die reine Negation und abstrakte Kritik, darf dabei aber nicht auf die positiven Seiten der Praxis vergessen und das darin notwendigerweise enthaltene Spannungsfeld zwischen Immanenz und Transzendenz übersehen.

In diesem Spannungsfeld ist es die Aufgabe jeder denkenden Person auf die transzendentale Seite zu drängen, weil schließlich nur hier die Chance auf Emanzipation durch die Überwindung der gesellschaftlichen Totalität besteht und aus dem systemischen Laufrad ausgebrochen werden kann. Während die „transzendentale Praxis“ als Praxis positiv bestimmt ist, lässt sich das Transzendentale an ihr bloß negativ bestimmen. Das ergibt sich aus Ableitungen an der Gesellschaftskritik[9] und ist seinem Wesen nach als utopisches, nicht genau bestimmbar und spekulativ. Nicht-Geld kann vieles sein: Raub, ein Geschenke, Selbstversorgung oder Kommunismus. In vielerlei Hinsicht nimmt eine „transzendentale Praxis“ den Charakter von Verweigerung an. Inwieweit sie dabei jedoch transzendentale Momente entfaltet, ist durch die abstrakte Analyse nur begrenzt zu ermitteln. Das lässt sich erst im nachhinein klarer feststellen, wenn sich die transzendentalen Momente verdichten; also nachdem eine auf Systemüberwindung zielende Praxis eine Massenbewegung erfasst oder hervorgerufen hat und die Phase der Subversion in eine der Revolution bzw. der radikalen Transformation übergeht. Die bisherigen Ausführungen laufen darauf hinaus, dass es nicht eine bestimmte richtige Praxis geben kann, sondern ein weites Spektrum emanzipatorischer Praxen, die unterschiedliche Umgänge mit den Widersprüchen versuchen. Emanzipatorische Praxis sollte sich daher immer als experimentell verstehen und versuchen sich ihrer eigenen Widersprüchlichkeiten, bewusst zu machen. Das alles bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch sehr viele Praxisformen als eindeutig reaktionär verworfen werden können und auch sollten. Trotzdem glaube ich, dass mit der Einsicht viel gewonnen wäre, dass sich viele heftige Diskussionen innerhalb der radikalen Linken um immanent unlösbare Widersprüche drehen. Die wechselweise formulierte Kritik ist dabei zwar oft richtig, dient aber vermutlich eher dem Zweck, die Kritik an der eigenen Widersprüchlichkeit auszublenden. So verwandelt sich Kritik in ihr Gegenteil; in ideologische Verblendung. Zum Beispiel blamiert sich jedeR, der/die die Bezahlung politischer Aktivitäten prinzipiell als totale Anpassung verteufelt, genauso wie alle, die selbst organisierte oder unkommerzielle Strukturen als „selbst-ausbeuterisch“ denunzieren. Eine ernstzunehmende Praxis kann sich selbst einfach nicht zu ernst nehmen. Clowns aller Ränder vereinigt euch!

Repräsentationsverweigerung und Öffnung der Repräsentation

Die Praxis kann also in Bezug auf Repräsentation sehr verschiedene fortschrittliche Formen annehmen, die aber immer widersprüchlich und kritisierenswert bleiben. Ich will hier zwischen zwei Strängen differenzieren: Repräsentationsverweigerung und Öffnung der Repräsentation. Ein Beispiel für „Repräsentationsverweigerung“ sind viele autonome Grüppchen. Sie zielen ganz bewusst nicht auf ihre Erweiterung und verzichten auf zahlreiche Kommunikationsweisen wie Pressearbeit. Diese Form ermöglicht eine Konzentration auf innere Prozesse und teilweise vielleicht abweichende Erfahrung zur widerlichen Dynamik der Repräsentation. Aber mit dem Rückzug von der politischen Ebene schwindet tendenziell auch die Relevanz in politischen Machtkämpfen. Der andere Strang ist die „Öffnung der Repräsentation“. Zum Beispiel durch kollektive Namen wie zum Beispiel „Luther Blissett“, der in Italien und darüber hinaus für zahlreiche Kommunikationsguerillaaktionen verwendet wurde. Ein Beispiel, das ich aus meiner Praxis besser kenne, ist W.E.G.[10]. Hier können alle Personen inhaltliche Stellungnahmen im Namen der gesamten Gruppe abgeben. Zum Beispiel haben bei Einladungen zu Podiumsdiskussionen einfach alle, die Lust hatten, während der Veranstaltung auf einen Podiumsplatz rotiert. Dieser spielerische Zugang setzt Vertrauen zu den anderen oder den Luxus großer Gelassenheit gegenüber politischen Machtkämpfen voraus, da er für informelle Repräsentation anfällig ist. Solche Ansätze lassen sich schwer vermitteln und oft wird hier von außen einfach alles durch die Repräsentationsbrille gesehen und bestimmte Inhalte oder Personen als repräsentativ für die Gruppe wahrgenommen. Aber selbst wenn der Ansatz funktioniert, wird dadurch kein einheitliches Bild vermittelt. Innerhalb der Logik der Repräsentation wirkt das meist nur unprofessionell oder sogar verrückt und wird nicht ernst genommen. Politischer Einfluss lässt sich so wesentlich schwerer entfalten.

Offener Raum als Öffnung und Verweigerung der Repräsentation Das Kongress Konzept eines „offenen Raumes“ stellt eine Mischung aus der „Verweigerung -“ und der „Öffnung der Repräsentation“ dar. Die Vorbereitungsgruppe beim Solidarökonomie Kongress versuchte diesem Konzept folgend jegliches repräsentatives Auftreten ihrerseits zu verhindern. Im Verzicht auf Abschlussmanifeste und ähnliches wurde diese Verweigerung auch auf den Kongress ausgedehnt. Der Kongress selbst und auch die Strukturen, wie die Homepage, stellen eine „Öffnung der Repräsentation“ dar. Beim Solidarökonomie Kongress in Wien wurde versucht, dem Konzept eines „offenen Raumes“ auf allen Ebenen möglichst weitgehend umzusetzen. Es war ein Versuch Hierarchien zu verhindern, die praktische Negation der Repräsentation möglichst weit zu treiben und das Ziel einer befreiten Gesellschaft in der Praxis unmittelbar zu verwirklichen. Natürlich nicht weil dieses Unterfangen unmittelbar von Erfolg gekrönt sein kann, sondern um möglicherweise transzendentale Momente zu entfalten und zum Prozess der Überwindung beizutragen. Der repräsentationskritische Moment des „Offenen Raums“ hat den Zweck, einen temporäreren Freiraum zu schaffen, in dem politische Konkurrenz abgeschwächt und der Spielraum für Kommunikationsformen abseits der Repräsentation erweitert sind. Was in einer gramcisanischen Schlacht um Hegemonie affirmiert wird, und sich so in der gesellschaftlichen Immanenz verliert, soll hier ausgeschaltet werden: Nämlich, dass jede Artikulation einer anderen Meinung oder gar Kritik in der politischen Sphäre ausschließlich in eine Schwächung des eigenen diskursiven Position übersetzt wird. Selbstkritik ist überhaupt nur möglich, soweit dieser Aspekt der Repräsentation außer Kraft gesetzt werden kann. Bei dieser Art des Freiraum geht es darum, die Inhalte gegenüber ihrer selbstzweckhaften Form zu stärken; also an der Fetischisierung zu rütteln und sie teilweise erfahrbar zu machen, auch wenn sie im durch den gesellschaftlichen Gesamtszusammenhang begrenzten Rahmen nicht aufgehoben werden kann. Einen Begriff, wie „solidarische Ökonomie“, zu verwenden, zielt natürlich gleichzeitig darauf ab, sehr viele Personen und Aktivitäten unter diesem allgemeinen und unkonkreten Konzept zu vereinen. Es wird hier also der erste Schritt der Repräsentation getan, ein Gemeinsames, ein kollektives Subjekt zu finden oder selbst diskursiv zu produzieren. Begriffe, wie „Prekariat“, tragen hier der Notwendigkeit der Repräsentation Rechnung, um mit anderen Konzepten in die Öffentlichkeit vorzudringen und neue Personen zu erreichen. Dies dient dem Zweck einer politischen Stärkung jener sozialen Bewegungen, die sich unter diesem Begriff vereinen. Die praktische Negation der Repräsentation liegt also darin, den zweiten Schritt zu unterlassen, diesen Begriff wieder zu besetzen und einzuengen und so durch Herrschaftstechniken aus dieser Menge wieder ein politisches Subjekt zu machen. Das Konzept bewegt sich hier auf eine bestimmte Weise im Widerspruch zur antihierarchischen Repräsentationsverweigerung und zum politischen Einfluss.

Probleme mit der Öffnung der Repräsentation

Eines der offensichtlichsten Probleme mit diesem Kongresskonzept ist, dass es den Zugang zu enorm viel Infrastruktur und vor allem Raum erfordert. Das Ausmaß der Kongressesteilnahme lässt sich durch die totale Öffnung nicht planen und fast gar nicht reglementieren. Schlussendlich bestimmt erst die Partizipation den Bedarf an Ressourcen. Im Fall des Kongresses mussten wir schlussendlich noch eine Schule zusätzlich zu den ursprünglichen universitären Räumlichkeiten anmieten. Wenn der Andrang die Möglichkeiten sprengt, wären in unserem Fall zum Beispiel 300 Beiträge angemeldet worden, wüsste ich nicht, wie sich der Bedarf reduzieren ließe ohne eine Selektion von Beiträgen vorzunehmen. Es ist also ein sehr Ressourcen aufwendiges Konzept.

Ein weiterer Widerspruch ist, dass mit der Öffnung auch die eigene Gestaltungsmacht aufgegeben wird. Der Raum wird damit auch für jene problematischen Inhalte geöffnet, die in der Gesellschaft ohnehin dominieren. Es wäre dem Konzept nach zwar theoretisch durchaus möglich gewisse Beiträge zu blocken, aber auf die üblichen Antis[11] ließ sich angesichts des gigantischen Veranstaltungsausmaßes nicht mehr wirklich achten. Andere wichtige organisatorische Konzepte lassen sich im offenen Raum gar nicht umsetzen. Ein wichtiger Punkt der hierunter fällt ist, dass Frauen zumindest die Hälfte der Beiträge gestalten sollten. Beim Kongress haben Frauen, soweit sich das überhaupt eruieren lässt, nur ungefähr ein Drittel der Beiträge geliefert. Hier zeigt sich ganz klar, wie sich die patriarchale Norm im Kongress reproduziert. Für die Zukunft stellt sich hier definitiv die Frage wie diesem Problem innerhalb des Konzeptes „offener Raum“ zumindest entgegengewirkt werden kann. Wer diesbezüglich Einfälle hat, soll sich bitte melden. Das Aufgeben der Gestaltungsmacht bedeutet auch, nur mehr begrenzt radikale Gesellschaftskritik hineintragen zu können. Diese läuft Gefahr, wie auch sonst überall, unterzugehen. Die Alternative, einen inhaltlich klar ausgerichteten Kongress zu machen, bringt aber ähnliche Probleme mit sich. Dort tummeln sich meist immer nur die üblichen Verdächtigen, und diese isolieren sich damit noch stärker. So gesehen birgt der offene Raum zumindest das Potential für radikale Ansätze, den eigenen Sumpf zu verlassen.

Ein konkretes Problem hat sich auch hinsichtlich der internationalen Partizipation aufgetan. Es gab einerseits bewusst einen lokalen Fokus. Deshalb wurde der Aufruftext neben Englisch, Französisch, Spanisch und Türkisch auch gezielt in Kroatisch, Serbisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch und Ungarisch übersetzt; den Sprachen der österreichischen Nachbarländer. Es war vielen wichtig sich nicht vollständig in eine regionale Isolation zu begeben und damit eine gewisse weltweite Vernetzung und Perspektive zu ermöglichen. Die Reisekosten für so weite Entfernungen wären jedoch viel zu hoch gewesen, um unbegrenzt zusagen zu können. Natürlich kann so etwas auch nicht egalitär auf der Basis funktionieren, dass sich die Personen ihre Reise selber zahlen. Die Öffnung der Einladungspolitik hatte also durchaus geographische Grenzen. Das hat dazu geführt das einige stark dafür plädierten, internationale Gäste einzuladen und hier doch eine repräsentative Auswahl zu treffen, während andere das als unvereinbar mit den Grundsätzen des Kongresses ablehnten. Schlussendlich fanden wir einen Konsens. Alle InskribientInnen des Newsletters und der Mailverteilerin wurden angeschrieben, ob sie gerne jemanden einladen wollen. Falls alle Vorschläge finanzierbar gewesen wären, hätten wir alle Vorgeschlagenen eingeladen, falls es zu viele geworden wären, war geplant gewesen allen abzusagen. Diese Lösung wäre vermutlich auf die Nicht-Finanzierbarkeit und damit ausschließlich lokale Beteiligung hinausgelaufen, aber durch den späten Zeitpunkt der Diskussion im Organisationsprozess, wurde eine einwöchige Deadline für Vorschläge gesetzt. So wurden schließlich nur vier Personen vorgeschlagen, wobei das Colectivo Situaciones absagte. Nach der Deadline kamen noch einige weitere Vorschläge, die den finanziellen Rahmen bereits gesprengt hätten. Viele andere werden ihre Vorschläge nach Ablaufen der Deadline gar nicht mehr vorgebracht haben. Diese Lösung funktionierte also nur insofern, als sie Selbstbetrug war und der internationale Einladungsprozess nicht wirklich geöffnet war. Alle Einladungsvorschläge in dieser kurzen Zeit kamen aus der Vorbereitungsgruppe. Auch hier ist die Frage ob es eine Lösung für dieses Problem gibt noch unbeantwortet. Ich vermute, dass das Konzept eines vollkommen offenen Raumes auf eine gewisse lokale Begrenzung hinauslaufen wird. Personen und Gruppen außerhalb der Kongressorganisation können natürlich internationale Gäste einladen und deren Kosten bezahlen. Das als Lösung zu verstehen, würde aber ignorieren, dass die finanziellen Möglichkeiten hierfür sehr ungleich verteilt sind und sicher nicht mehr als gleicher Zugang zur inhaltlichen Partizipation betrachtet werden kann. Diese Hierarchien durch finanzielle Möglichkeiten zeigen sich bei der Einladung internationaler Gäste natürlich besonders drastisch. Durch den Verzicht auf Kongressbeiträge, Fahrtkostenrückerstattung, Kinderbetreuung, kostenlose Unterbringung und Essen, sowie durch die Gleichbehandlung der Beiträge, haben wir dem so gut entgegengewirkt, wie es uns möglich schien.

Probleme mit der Verweigerung der Repräsentation

Ein Grundproblem mit der bewussten Repräsentations- und Artikulationsverweigerung ist, dass es zwar leicht ist als Vorbereitungsgruppe keine öffentlichen Statements abzugeben, dass aber jede darin involvierte Person einzeln natürlich Positionen vertritt. Sobald von einer Person bekannt ist, dass sie in die Vorbereitung involviert ist, wird sie automatisch als repräsentativ für den Kongress wahrgenommen. Dem sollte zwar entgegengewirkt werden, indem in einem solchen Fall unsere Grundsätze und die Subjektivität der artikulierten Position explizit betont werden sollen; verhindern lässt es sich jedoch nicht. Im Gegenteil, das Konzept ist durch informelle Repräsentation sehr leicht missbrauchbar. Es setzt enormes Vertrauen in diesen Grundkonsens und eine gewisse Gelassenheit voraus und stirbt vermutlich mit der Beteiligung der ersten EntristIn oder sonst wie Repräsentationswütigen. Soweit ich das beurteilen kann, ist uns dieses Unterfangen beim letzten Kongress gut gelungen. Niemand hat sich als SprecherIn des Kongresses inszeniert. Lediglich im Rahmen einer Diskussion über Tauschkreise, die über den Newsletter geführt wurde, entstand für viele der Eindruck, dass diese nicht gewollt sind. Personen der Organisationsgruppe, inklusive mir, artikulierten eine fundamentale Kritik an der den  Tauschkreisen zu Grunde liegenden Zinskritik. Hier wurde der politischen Logik der Repräsentation entsprechend die formulierte Kritik als Versuch verstanden, das Kritisierte hinauszudrängen. Die Kommunikation drehte sich also nicht um den Inhalt der Kritik, sondern primär um deren repräsentatives Gewicht und deren Machtstatus. Hier ist es jedoch gelungen zu vermitteln, dass unsere Positionen nicht als repräsentativ für den Kongress zu verstehen ist.

Ein weiteres Problem hat sich mit dem Bedürfnis nach Pressearbeit aufgetan. Kurz vor dem Kongress, in mitten des ohnehin immensen Organisationsstresses, ist der Wunsch aufgekommen, auch bürgerliche Massenmedien anzuschreiben, weil so Menschen vom Kongress erfahren könnten, die keinen Zugang zu unseren Kommunikationskanälen haben. Dafür – so wurde sicher zu recht argumentiert – ist es notwendig deren Anforderungen entgegenzukommen und etwas Anschauliches in Form von praktischen Beispielen anzubieten. Um hier aber nicht eine repräsentative Auswahl treffen zu müssen, haben wir eine recht kreative Lösung gefunden. Allen bisher angemeldeten TeilnehmerInnen und anderweitig mit uns in Kontakt getretenen Personen wurden angeschrieben. Ihnen wurde die Möglichkeit geboten mit einer kurzen ungefähr dreizeiligen Vorstellung und ihren Kontaktdaten in die Aussendung aufgenommen zu werden. Auf diese Weise kamen über zwanzig Projekt- und Gruppenbeschreibungen zusammen, was sicher nicht den Anforderungen einer kurzen und knappen Presseaussendung entspricht. Das war aber sicher nicht der einzige Grund, warum es schlussendlich fast kein Medienecho gab. Vor allem wurde von uns nicht wirklich viel Aufwand, wie persönliche Kontaktaufnahmen betrieben. Unsere Lösung einer offenen Presseaussendung kann außerdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die JournalistInnen für sie interessante Projekte herausgepickt hätten und das wären jene Projekte gewesen, die sich auch sonst im Wettkampf um Selbstdarstellung gut behaupten. Es hätte sich damit schlussendlich eine informelle Repräsentation eingeschlichen und Bedeutungshierarchien zu einem gewissen Grad wieder reproduziert. Trotz dieser Probleme sehe ich in diesem Umgang eine interessante Möglichkeit Medienarbeit zu machen und trotzdem Repräsentation zu subvertieren.

Über den begrenzten Rahmen des Kongresses hinaus besteht natürlich auch der berechtigte Einwand, dass der Begriff „Solidarische Ökonomie“ durch den Kongress bekannt gemacht und ihm damit politische Bedeutung gegeben wird, aber durch die gleichzeitige Nichtbesetzung und inhaltliche Leere des Begriffs, die Besetzung einfach nur anderen AkteurInnen überlassen wird. Noch dazu ist anzunehmen, dass diese vorwiegend von jenen gemacht wird, die große Routine in der öffentlichen Selbstinszenierung besitzen und sich vermutlich damit korrelierend nicht gerade durch ihre Fortschrittlichkeit im Sinne einer Einsicht in soziale Verhältnisse, also Radikalität auszeichnen. Die allgegenwärtige Konkurrenzsituation macht eben den Zwangscharakter der Repräsentation aus und die Widersprüchlichkeit ist unumgänglich. Der andere Zugang wäre hier in eine grausliche, diskursive Schlacht zu ziehen, um das semiotische Feld der „Solidarische Ökonomie“ schlussendlich mit anderen, wunderschönen feministischen und kommunistischen Inhalten zu überziehen. Das ist sicher auch notwendig, aber wir haben uns hier schlichtweg entschieden ein ganz Experiment mit einem ganz anderen Fokus zu machen und zumindest am Kongress einen Waffenstillstand durchzusetzen. Nur soweit es gelingt, die Repräsentationslogik und ihre Eigendynamik zu umgehen, können sich sonst negierte Aspekte wie  Kooperation, Vielfalt und Selbstkritik entfalten. In solchen Freiräume können utopische Momente entstehen, die unfetischisierten Interaktionsformen näher kommen und einen wichtigen Teil in der praktischen Negation der Verhältnisse spielen.

Fragend gehen wir voran

Eine Stärke im Kongresskonzept sehe ich in der spezifischen Vermittlung im uralten Konflikt zwischen reformerischen und revolutionären Bestrebungen. Der Konflikt hat in der Geschichte oft enorm hinderliche Züge angenommen, die weder den systemimmanenten Kämpfen nützen noch die Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse vertiefen. Derzeit dominiert ohne Frage eine Seite. Falsche Hoffnungen und Selbstlügen haben Hochkonjunktur. Die radikale Linke hingegen befindet sich in einer Isolation. Darüber ob selbst gewählt oder hineingedrängt, lässt sich streiten, aber sie hat es sich dort ohne Frage oft sehr selbstgefällig eingerichtet. Ich glaube, dass große „offene Räume“ eine wichtige Möglichkeit bieten können, aus der Isolation heraus zu kommen ohne sich erst ein politisches Terrain erkämpfen zu müssen. Die Hoffnung für eine neue Blüte der Kritik liegt darin, dass es zahlreiche Leute gibt, die beginnen sich politisch zu engagieren und dadurch auch die Erfahrung machen zu scheitern, denen aber das analytische Instrumentarium fehlt, um die gesellschaftlichen Ursachen zu erfassen. Diese Leute kommen zahlreich zu solchen Veranstaltungen und die Aufgabe fortschrittlicher Kräfte wäre deshalb dort dieses Instrumentarium anzubieten und die falschen Hoffnungen zu enttäuschen.  Hierzu will ich an dieser Stelle alle zum nächsten Kongress einladen. Es gibt keinen richtigen Kongress und überhaupt keine richtige Praxis im Falschen. Uns bleiben nur begrenzte und widersprüchliche Experimente. Sicher lässt sich nur sagen, dass es einer fundamentalen Gesellschaftskritik und der durch sie geschaffenen Perspektive bedarf, die gesellschaftliche Totalität zu zerstören, die uns in diesen Widersprüchen gefangenhält und ein gutes Leben für alle verhindert. Bis zum Ende dieser Verhältnisse und damit auch dem Ende der Politik bleibt das Scheitern untrennbar an jeden Versuch der Verbesserung der Lebensbedingungen gebunden. Wer auf Repräsentation komplett verzichtet, bleibt machtlos um etwas zu verändern, und wer nach ihr strebt, verliert sich in der fetischisierten Eigendynamik. In diesem Spannungsfeld gefangen ist die Frage emanzipatorischer Bewegungen, wie die Welt verändert werden kann ohne die Macht zu ergreifen; und zwar nicht nur die Staatsmacht sondern jegliche im Repräsentationsfetisch gefangene politische Machtposition. Nur eine theoretische Perspektive der Systemüberwindung zu bewahren ist ein bisschen wenig und die praktische Seite der Negation verlangt nach kreativen Experimenten, in denen wir die Begrenztheit und Widersprüchlichkeit schlichtweg aushalten müssen.  Die Revolution als Prozess wird insofern die Form spielerischer Experimente annehmen und eine kritische Masse global überschreiten müssen um aus dieser Misere herauszukommen und der Kongress und das Modell eines „offenen Raums“ war hier hoffentlich mehr Beitrag als Hindernis dazu.

E-Mail: Arno.Uhl@reflex.at


[1] Statt „Kapitalismus“ bevorzuge ich für die Bezeichnung des herrschenden Gesellschaftssystems „warenproduzierendes Patriarchat“, ein Begriff der von Roswitha Scholz geprägt wurde, da diese Gesellschaft sowohl durch die Logik der Warenproduktion als auch durch eine alles durchziehende patriarchale Herrschaftsmatrix geprägt ist.

[2] Das bedeutet nur, dass es keine offiziellen oder irgendwie privilegierten Kongressgäste gab. Jede konnte einladen und das haben auch alle aus der Organisationsgruppe gemacht.

[3] Bei einer Versammlung kann jede Person eine Arbeitsgruppe zu einem Thema ausrufen, vorausgesetzt sie übernimmt auch deren Koordination. Nachdem alle in Kleingruppen waren, können die Ergebnisse in einer Abschlussrunde präsentiert und diskutiert werden.

[4] Es ist hier angesichts des abstrakten Charakters der Ausführungen wichtig nicht zu vergessen, dass es sich immer um eine historisch verortete Analyse der Kategorie „Repräsentation“ handelt und nicht um eine allgemeine überhistorische Definition.

[5]Um Repräsentationsfetisch wirklich adäquat zu erfassen, bräuchte es eine ausgereifte Kritik der Politik und des Staates. Abgesehen davon, dass ich glaube, dass hier ohnehin noch große Lücken in der kritischen Theoriebildung bestehen, bin ich auch noch alles andere als sattelfest in den bestehenden Konzeptionen.

[6] Im Feudalismus verbindet sich die Verfügungsgewalt über das Land mit der politischen Hoheit. Erst mit der sukzessiven Monopolisierung der Macht bildet sich schließlich der Staat heraus, der sich durch ein fixes bürokratisches Verwaltungs- und Rechtssystem, sowie ein Gewalt- und Steuermonopol auszeichnet.

[7] Darunter fallen Verwaltungstätigkeiten staatlicher Institutionen; die Produktion von Konzepten & Ideen;  rechtliche Entscheidungen und politische Machtkämpfe.

[8]Arbeit nicht im Sinne menschlich produktiver Tätigkeit, sondern verstanden als Tätigkeit zur Schaffung von Tausch- bzw. Geldwert.

[9] Hier spielen ebenfalls existierende Bedürfnisse eine Rolle, die als historisch gewordene jedoch auch immer Teil der Kritik sein müssen. Trotzdem ist das transzendentale Moment insofern eben nicht nur negativ bestimmt.

[10] Die Wertkritische Emanzipatorische Gegenbewegung versucht umsonstökonomische Projekte zu organisieren und ist vor allem für den Kost-Nix-Laden, die Schenke und das Theoriebüro bekannt.

[11] rassistisch, existisch, homophob, antisemitisch …

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ISSN 1814-3164 
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