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Paul Pop: Mobilität, Kontrolle und Klassenkampf: Eine zweischneidige Angelegenheit

Mobilität ist eines der wichtigsten Schlagwörter der kapitalistischen Gesellschaften im Westen geworden. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht erinnert werden, dass wir mobiler and flexibler werden müssen. Dieser Artikel soll hingen zeigen, dass die Mobilität der Menschen und auch ihrer Arbeitskraft für Kapital und Staat eine äußerst zweischneidige Angelegenheit sind. Dabei werden Jobhopping, die Vergabe von unterschiedlichen Mobilitätsrechten, der staatliche Kampf gegen „Sozialhilfe-Tourismus“ sowie die Auswirkungen von Eigenheim-Bau analysiert. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, in wie fern Mobilität den Klassenkampf fördern kann und ob sie den Kapitalismus in Frage stellt. In diesem Zusammenhang wird die Möglichkeit eines Exodus aus der Lohnarbeit sowie das Nomadentum als subversive Strategie kritisch hinterfragt.

Gute und schlechte Mobilität für das Kapital

Nicht nur die Kommunikationsmittel wie Mobiltelefon und drahtloses Internet sollen jeder Zeit and an jedem Ort verfügbar sein, sondern auch die Arbeitskraft soll sich mobil überall anbieten. Ohne „Auslandserfahrung“ und die damit verbundenen „interkulturellen“ Fähigkeiten ist es schwer möglich, eine „hochqualifizierte“ Arbeitskraft darzustellen. Ortsgebundenheit und Trägheit sind die Todsünden im Kampf auf dem Arbeitsmarkt. Der faule Sozialhilfeempfänger, der nicht mal vom Sofa aufsteht, ist der „Andere“ im neuen Diskurs zur Diffamierung der „Unterschichten“. Die Hartz- Gesetze sollen es in Deutschland ermöglichen, dass auch der arbeitslose Akademiker aus Nord­deutschland gezwungen wird in Bayern eine Stelle als Nachtwächter anzunehmen.

Auch ich habe den Kult um die Mobilität für normal gehalten, bis ich in einen anderen Kulturkreis auf die Grenzen ihrer „Natürlichkeit“ stieß. In China jammern besonders die ausländischen Unternehmen über zu hohe Mobilität der Arbeitskräfte. Auf Grund des Mangels an Fach­kräften werben sich ausländische Konzerne die MitarbeiterInnen gegenseitig ab. Am 11. Januar 2008 berichtete die „Financial Times Deutschland“ über den „Kampf um die Fachkräfte in China: Hohe Wechselbereitschaft bei Mitarbeitern – Arbeitgeber treiben Gehaltsspirale an“. Der Arbeitergeber­verband in Hongkong schätzt die Fluktuation in den Unternehmen in der Volksrepublik für das laufende Jahr auf 16, 4 Prozent. Im Handel seien es sogar 30 Prozent, im Hotel- und Gaststättenbewerbe 25 Prozent und im Beratungsgeschäft 21 Prozent. In Europa würde die Fluktuationsrate im einstelligen Bereich liegen.

Die „undankbaren“ ChinesInnen kennen die Betriebsideologie „Einmal Opelianer immer Opelianer“ nicht und sind sofort weg, wenn ein anderer Betrieb mehr Gehalt bezahlt. Auch die 150 bis 200 Millionen WanderarbeiterInnen zeichnen sich durch eine hohe Mobilität aus. Besonders in den Weltmarktfabriken in Guandong-Delta klagen Unternehmen, dass sie für ihre Scheißjobs nicht mehr genügend Arbeitskräfte finden. Die so genannte WanderarbeiterInnen-Dürre (Mingong huang) im Süden existiert, da die jungen Frauen und Männer lieber nach Shanghai oder Peking zum Arbeiten gehen, da dort die Löhne höher sind. Bei der Heimkehr ins Dorf zum Frühlingsfest, dem chinesischen Neujahr, rechnen sie durch, was das Jahr gebracht hat und ob es sich wieder lohnt, in die Städte zu gehen. Das Selbstbewusstsein der Wander­arbeiterInnen ist in den letzten Jahren gewachsen (siehe China-Beilage, Wildcat Nr. 80). Sie sind wählerischer geworden bei der Auswahl der Betriebe und lassen sich nicht mehr alles gefallen. Der chinesische Soziologe Yang Siyuan (2005) nennt diesen Exodus aus dem Süden eine besondere Form des Streiks. Streiks im Sinne von kollektiver Arbeitsniederlegung sind in der Volksrepublik nämlich verboten.

Da Mobilität auch vom Geldbeutel abhängt, ist die „Wanderlust“ der WanderarbeiterInnen natürlich eingeschränkt. Die langen Zugfahrten sind für sie teuer. Daher können sie nicht beliebig oft den Arbeitsplatz wechseln. In China existiert außerdem noch das Haushaltsregister-System (Hukou), das die langfristige Niederlassung der Wanderarbeiter­Innen und ihrer Familien in den Städten verhindert. Ihre Kinder können in der Stadt keine öffentlichen Schulen besuchen. Die Anwesenheit von Menschen mit Agrar-Hukou muss durch den Antrag auf eine kurzfristige Aufenthaltsgenehmigung legalisiert werden.

Die Frage, die sich die KapitalistInnen in China stellen müssen, ist deshalb nicht „wie erhöhen wir die Mobilität der Arbeitskräfte“, sondern „wie fessele ich sie an den Betrieb“. BauarbeiterInnen oder sogar MasseurInnen müssen häufig drei bis vier Monatslöhne als Pfand hinterlegen, damit sie nicht sofort die Firma wechseln können. Millionen WanderarbeiterInnen wird der Lohn erst am (chinesischen) Jahresende ausgezahlt. Bis dahin stellt das Unternehmen nur Kost und ein Bett in den überfüllten Wohnheimen. Ausländische KapitalistInnen können die begehrten Fachkräfte so natürlich nicht anlocken. Sie bieten häufig Vorbildungen im Ausland an, um den Arbeitsplatz attraktiv zu machen. Nicht wenige „undankbare“ ChinesInnen verlassen aber den Betrieb sofort, wenn sie alles gelernt haben, was sie lernen können. Deshalb müssen sie Verträge unterzeichnen, dass sie die Ausbildungs­kosten zurückzuerstatten, wenn sie vor einer bestimmten Frist gehen. Nur was macht das Unternehmen, wenn die Person einfach untertaucht? Einen funktionierenden Rechtsstaat und unabhängige Gerichte, vor denen bei Vertragsbruch erfolgreich geklagt werden kann, gibt es im Reich der Mitte nur in Ansätzen. Dann heißt es Pech gehabt! Selbst eine permanente Erhöhung der Löhne hilft nichts, da es immer noch jemanden gibt, der mehr bezahlen würde. Durch diese Tatsache wird auch der potentielle Nutzen eines Flächen­tarifvertrages für das Kapital deutlich. Durch die tarifliche Festlegung der Löhne und das Friedens­gebot in den Zeiten zwischen den Tarif­ver­handlungen können die Unternehmer langfristig die Lohnkosten planen um die ArbeiterInnen zu disziplinieren.

Obwohl viele Unternehmen in Deutschland über den Flächentarifvertrag jammern, könnte ein solches System ihnen in China helfen, die Lohnforderung der ArbeiterInnen zu drosseln. Unter der Einparteien-Diktatur in der Volks­republik China sind „Jobhopping“ und Mobilität die Hauptformen des Lohn- und Klassenkampfes.

Exodus aus der Lohnarbeit?

An diesen Ausführungen wird auch klar, dass der Begriff des Arbeitskräftemangels ein politischer ist. In China verlassen jährlich 4 Millionen Absolventen die Hochschulen (Financial Times Deutschland 11.1.2008). Auch im Reich der Mitte sind Millionen Menschen arbeitslos, sogar viele Absolventen von Universitäten. Aus Sicht der Arbeitslosen ist es absurd, von einem Arbeitskräftemangel zu sprechen. Das schlimmste, was es für das Kapital unter der Sonne hingegen gibt, ist Vollbeschäftigung. Ohne Angst vor Arbeitslosigkeit sind die Menschen nicht so leicht erpressbar. Sie stellen sogar „unvernünftige“ Lohnforderungen! Von daher besteht für das Kapital immer ein Mangel an Arbeitskräften, weil zusätzliche Konkurrenz unter den ArbeiterInnen Druck auf die Löhne ausüben würde. Häufig wurden besonders in den Perioden der Voll­be­schäftigung in Westeuropa EinwandererInnen ins Land geholt, um den „Arbeitskräftemangel“ auszugleichen.

Mobile Arbeitskräfte sind für die Kapitalist­Innen also eine zweischneidige Angelegen­heit. Die Menschen sollen so mobil sein, dass man ihre Arbeitskraft überall ausbeuten kann. Die Menschen dürfen allerdings nicht so mobil werden, dass sie durch „Jobhopping“ die Löhne in die Höhe treiben können. Schon Karl Marx hat im „Kapital“ darauf hingewiesen, dass der Exodus eine Form des Klassenkampfes sein kann. Er beschreibt im Kapitel „Die moderne Kolonisationstheorie“, wie die US-amerikanischen ArbeiterInnen aus der Lohnarbeit der Fabriken flüchteten, um freie BäuerInnen auf dem neubesiedelten Land zu werden (Marx 1951: 809f.). Das setzte die KapitalistInnen unter Druck, höhere Löhne zu zahlen. Marx will mit dem Kapitel zeigen, dass die kapitalistische Produktionsweise der Vernichtung des auf eigener Arbeit beruhenden Privateigentums bedarf, sprich der Enteignung des Volksmassen von eigenen Produktionsmittel (ebenda: 814). In den Kolonien bestand eine besondere historische Situation, die den Exodus aus der Lohnarbeit zeitweise möglich machte. In China findet hingegen ein Exodus der WanderarbeiterInnen aus dem Guangdong-Delta in die Küstenregionen stand, also von der Lohnarbeit in die besser bezahlte Lohnarbeit. Sie verfügen im Dorf noch über das vom Staat zugeteilte Land, das aber immer weniger zum Leben abwirft. Letztes Jahr haben allerdings die rapide steigenden Preise für Schweinefleisch dazu geführt, dass einige BäuerInnen lieber auf den Dörfer bleiben und Schweine aufziehen als in die Fabriken zum Arbeiten zu gehen.

Der Exodus aus der Lohnarbeit ist innerhalb der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft nur schwer möglich. In den 70er Jahren „flüchteten“ Tausende in die Universitäten, um als so genannte „LangzeitstudentInnen“ der Lohnarbeit zeitweise zu entkommen. Andere, darunter auch nicht wenige radikale Linke, entwickelten Geschick, die Annahme jeder Lohnarbeit zu verweigern und von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe zu leben. Mit der Einführung von Studiengebühren, Regelstudien­zeiten und Zulassungsbeschränkungen an den Uni­versitäten sowie der verschärften Überwachung der BezieherInnen von Sozialleistungen werden diese Fluchtmöglichkeiten zunehmend verbaut. Der Staat zwingt die Arbeitslosen sich ständig weiterzubilden und zu bewerben, obwohl für die große Mehrheit keine Arbeitsplätze vorhanden sind. Gesagt werden muss auch, dass diese Fluchtmöglichkeiten für Menschen, die Familie und Kinder versorgen müssen, äußerst begrenzt sind. Kostenlose Angebote, die Kinder von StudentInnen unterzubringen, gibt es kaum. Die Sozialeistungen mögen für einen genügsamen Kreuzberger WG-Bewohner gerade zum Überleben ausreichen. Für eine allein erziehende Mutter mit zwei Kindern bedeutet Arbeitslosigkeit oft Verarmung. Besonders im Alter, wenn Menschen mehr Hilfe brauchen, droht ohne Geld leicht die soziale Isolation. Die „Aussteiger“ der 70er und 80er Jahre nähern sich bald dem Renten­alter an. Der Staat ist bemüht, die Löcher für den Exodus aus der Lohnarbeit zu stopfen, selbst wenn nicht genug Lohnarbeit vorhanden ist. Deshalb ist es für den Staat auch besser die Ämter und ihre „Betreu­ten“ die Möglichkeit einer Beschäftigung spielen zu lassen, als zuzugeben, dass Millionen Menschen vom Kapital nicht mehr gebraucht werden.

Gute und schlechte Mobilität für den Staat

Während in der feudalen Gesellschaft die Mobilität der Menschen stark eingeschränkt wurde, ist der Kapitalismus auf mobile Arbeitskräfte angewiesen. Der moderne Staat steht vor der Heraus­forderung, die Mobilität der Menschen zu regulieren. Im Unterschied zum Feudalismus haben zumindest die Staatsbürger das Recht auf Bewegungs­freiheit. Foucault weist auf die Notwendigkeit der Regulierung der Zirkulation in den europäischen Städten hin, nachdem die Stadtmauern im 18. Jahrhundert aufgrund ökonomischer Notwendig­keiten fielen. Dass das Kommen und Gehen nicht mehr kontrolliert werden konnte, bewirkte, dass „folglich die Unsicherheit der Städte gesteigert wurde durch den Andrang all der ziehenden Völker, Bettler, Vagabunden, Delinquenten, Kriminellen, Diebe, Mörder usw., die, wie jedermann weiß, vom Land hereindrängen konnten (...). Anders gesagt, es handelte sich darum, die Zirkulation zu organisieren, das, was daran gefährlich war, zu eliminieren, eine Aufteilung zwischen guter und schlechter Zirkulation vorzunehmen und, indem man die schlechte Zirkulation verminderte, die gute zu maximieren“ (Foucault 2006: 37). Die Zirkulation kann aber trotz Stadtplanung und Polizei­über­wachung niemals vollständig kontrolliert werden. Es gibt immer Elemente des Widerstandes.

Ähnlich versucht heute auch der bürgerliche Staat die Zirkulation an seinen Grenzen zu regeln. Der Verkehr von Waren, Arbeitskräften, Zuwander­Innen, TouristInnen, SexarbeiterInnen wird durch ein kompliziertes System von nationalen und europäischen Gesetzen geregelt, erlaubt und beschränkt. Die Menschen werden hierarchisiert, indem man sie mit verschiedenen Mobilitätsrechten ausstattet. Darüber hinaus wird noch der Zugang zu Arbeit, Bildung, Urlaubsreise oder Niederlassung unterschiedlich definiert. Die Menschen bekommen verschiedene Formen von Staatsbürgerschaften, Pässen, Visa oder Aufenthaltstiteln. Ohne gültigen Ausweis wird auch eine ÖsterreicherIn in der Welt nicht sehr weit kommen.

Nur um einige Unterschiede in der Hierarchie zu nennen: „Alte“ EU-BürgerInnen können ihre Arbeitskraft in der ganzen Europäischen Union anbieten. Die neuen EU-BürgerInnen aus Osteuropa sind bezogen auf den Arbeitsmarkt noch Beschränkungen unterworfen. Nicht-EU-Bürger­Innen haben leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Visa anderer Staaten, wenn sie mit einem/r EU-BürgerIn verheiratet sind. Die Ehefrau eines amerikanischen Managers, der in Deutschland arbeitet, muss deshalb noch keinen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen und darf nur als Hausfrau und Touristin mobil sein. TouristInnen mit Schengen-Visum können sich bei ihren Reisen fast in ganz Europa frei bewegen. AsylbewerberInnen und „geduldete AusländerInnen“ dürfen hingegen in Deutschland und Österreich den Verwaltungs­bezirk nicht verlassen. Illegalisierte Menschen können an jedem Bahnhof von der Polizei verhaftet werden.

Hinzu kommt, dass das Recht auf Mobilität von Seiten des Staates immer eingeschränkt werden kann. Das Schengen-Abkommen soll z.B. zur Fußball-Europameisterschaft 2008 ausgesetzt werden, um angeblich die „Zirkulation“ von Hooligans zu verhindern. Auch bei Demonstrationen, wie zuletzt gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm, ist es mit europäischer Reisefreiheit nicht weit her. Selbst im eigenen Land können Polizisten per Anordnung die Bewegungsfreiheit einschränken. Während der berühmt-berüchtigten Chaos-Tage in Hannover habe ich selbst erlebt, wie Anreisende von der Polizei einfach wieder in die Züge gesetzt worden sind, weil sie gefärbte Haare hatten. Innerhalb der Städte können Platzverweise für Bettler oder „herumlungernde“ Jugendliche ausgesprochen werden.

Außerdem werden Räume hierarchisiert in öffentlich und privat. Der Zugang zu Räumen und Verkehrsmitteln kann für Volljährige, Minderjährige oder Kinder in Begleitung der Erziehungs­berechtigten reguliert werden. Schul- und Wehr­pflicht bilden Teilsysteme, die die Bewegung im Raum einschränken. Das „unerlaubte Entfernen vom Arbeitsplatz“ kann ebenso geahndet werden wie ein Nicht-Nachkommen der Schulpflicht. Kranke dürfen ohne Entlassungspapier der Stations­ärztIn das Krankenhaus nur auf eigene Verantwortung verlassen. RollstuhlfahrerInnen können nur U-Bahnen benutzen, wenn es an den Haltestellen Fahrstühle gibt. Der Entzug der völligen Bewegungsfreiheit im Gefängnis gilt in Ländern, die die Todesstrafe abgeschafft haben, als die höchste Strafe.

Keine Mobilitätsrechte für EmpfängerInnen von Sozialleistungen

Nicht nur so genannte AusländerInnen, sondern auch die eigenen StaatsbürgerInnen sind von Einschränkungen der Mobilität auf dem Arbeits­markt getroffen. Millionen Beamte in Deutschland und Österreich unterliegen einem Dienstrecht, das einen freien Wechsel des Wohnortes oder Arbeitsplatz unmöglich macht. Ähnliches gilt für Geistliche. Das Recht auf Mobilität verliert auch derjenige, der Sozialleistungen vom Staat bekommen möchte. Der Zugang zu Leistungen wird abhängig gemacht von dem Aufenthaltsstatus und der Dauer der Anwesenheit im Land. Arbeitslose haben keinen Rechtsanspruch auf Urlaub und dürfen den Wohnort ohne Genehmigung der zuständigen lokalen Behörde der Bundesagentur für Arbeit in Deutschland nicht länger als drei Wochen am Stück verlassen. Sie müssen von Montag bis Samstag (!) unter der angegebenen Adresse und Telefon­nummer erreichbar sein. Dadurch soll die Kontrolle des Empfängers bzw. seine effektive „Betreuung“, wie es im offiziellen Jargon heißt, gesichert werden. Eigentlich ist diese Regelung paradox, weil der Staat einerseits die Mobilität der Arbeitskräfte durch z.B. die Pendlerpauschale fördert, anderseits potentielle Arbeitskräfte an ihren Wohnort bindet. Für das Kapital wäre es natürlich besser, wenn die Arbeits­losen wie in China durch das Land ziehen und sich vor den Bahnhöfen der Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeit zur Verfügung halten würden. Für den Staat hingegen würden solche Wander­bewegungen eine Bedrohung der gesellschaftlichen Stabilität darstellen.

Der Staat ist außerdem bemüht, einen „Sozialhilfetourismus“ zu verhindern. Schon im Mittelalter versuchten Städte, Sozialleistungen und Almosen nur an die eigenen Bürger auszuzahlen, damit nicht die Armen aus den anderen Regionen angezogen wurden. Heute argumentieren rechte PopulistInnen, dass die ZuwandererInnen die Sozialsysteme ausnützen würden. Im Zuge der Industrialisierung wurde die Bindung von Sozialleistungen an den Wohnort zunehmend abgeschafft. Preußen ging 1842 als der erste Staat in Deutschland dazu über, dass man seinen „Unterstützungswohnsitz“ nach zwei Jahren an seinem neuen Wohnort bekam. „Auf diese Weise wurden nicht nur die Bettelfuhren überflüssig, sondern die Unterschichtsangehörigen konnten sich auch frei von den Zugangsbeschränkungen dort ansiedeln, wo sie Arbeit fanden (...). Für die Armen, die nun gar keinen Unterstützungswohnsitz mehr hatten, wurden zentrale Kassen, die Land­armenverbände, zuständig“ (Rheinheimer 2000: 129).

Damit der Staat weiß, wo seine Bürger wohnen, Steuern bezahlen oder Leistungen beziehen, gibt es in Deutschland und Österreich die Meldepflicht. Der Umzug an einen anderen Ort, ohne ihn den Behörden mitzuteilen, ist strafbar. In Österreich kann man ohne den Meldezettel nicht einmal einen Leihausweis für eine Bücherei oder Videothek bekommen, geschweige denn einen Vertrag für ein Handy. In Deutschland reicht der Personalausweis. In den USA und Großbritannien ist sowohl die Meldepflicht unbekannt, noch gibt es flächendeckend Personalausweise. Selbst nach dem 11. September werden Forderungen nach der Ein­führung von Personalausweisen abgelehnt, da dies von vielen Menschen als Element von autoritären Obrigkeitsstaaten angesehen wird.

„Häusl“, Abfertigung und Mobilität

Ähnlich paradox ist der Widerspruch zwischen Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Die weite Ver­breitung des MaklerInnenunwesens behindert die Mobilität der Arbeitskräfte. Eine ArbeiterIn, die für eine neue Mietwohnung in Wien gerade drei Monatsmieten Provision und drei Monatsmieten Kaution an einen Makler bezahlt hat, wird kaum zwei Monate später nach Linz umziehen, wenn sie dort 5 Prozent mehr Lohn bekommen würde. Der Staat versucht, diese beiden Märkte zu regulieren und ist zwischen den Profitinteressen der Makler und Eigentümer sowie dem Bedürfnis des Kapitals nach mobilen Arbeitskräften hin- und hergerissen. In Deutschland und Österreich schränkt auch der Bau von Eigenheimen durch die ArbeiterInnen deren Mobilität ein. Ist das in Eigenarbeit und Schwarzarbeit errichtete „Häusl“ erst ein Mal fertig gebaut, wollen viele nicht mehr wegziehen und können die Betriebe nur im Umland wechseln. Der Staat ist jedoch darauf bedacht, die kleinbürgerliche Eigenheim-Ideologie zu fördern. Die Eigenheim­zulage war 2004 mit über 11 Milliarden Euro die größte staatliche Subvention in Deutschland. Seit 2006 wird sie allerdings nicht mehr neu gewährt, um im staatlichen Haushalt zu sparen. Der Kredit am Hals der ArbeiterInnen kann sich unterschiedlich auf den Klassenkampf auswirken. Zum einem droht bei Arbeitsplatzverlust die Verarmung, wenn der Kredit nicht mehr abgezahlt werden kann und die Angst davor ist deshalb besonders groß. Andererseits kann die Kampfbereitschaft gegen Lohneinbußen besonders groß sein, weil der Kredit den Druck viel zu verdienen verstärkt. Letztendlich ist ein freiwilliger Ausstieg aus einer Vollzeitstelle nur schwer möglich, da der Kredit schließlich die nächsten 20 Jahre abgezahlt werden muss. Über eine Scheidung muss man auch zwei Mal nachdenken. In China gibt es das neue Wort „Haussklave“ (fangnu), der nicht Sklave eines Hausherren, sondern der eigenen Eigentumswohnung ist.

In Österreich wirkt sich auch das Abfertigungsgesetz auf die Mobilität der Arbeits­kräfte aus. Bei einer unverschuldeten Kündigung einer festen Stelle hat die ArbeiternehmerIn das Recht auf Entschädigung. Nach 5-jähriger Betriebszugehörigkeit besteht ein Abfertigungs­anspruch auf drei, nach 20 Jahren auf sechs Bruttomonatslöhne. Marktradikale Kritiker meinen: „Mit den Prinzipien der freien Marktwirtschaft verträgt sich das Bestreben, den Arbeitnehmer mit Hilfe des drohenden Abfertigungsverlustes an den Betrieb zu fesseln, freilich ganz und gar nicht. Eines der wichtigsten Argumente für die Überlegenheit der Marktwirtschaft ist, dass der Markt die optimale Allokation der Ressourcen - Geld, Sach­investitionen, Arbeitskraft - gewährleistet. Die ideale Allokation der Arbeitskraft wird durch § 23 Abs 7 AngG aber enorm behindert. Die Entscheidung eines Arbeitnehmers für einen Arbeitsplatzwechsel - iSd von der Wirtschaft so gerne geforderten Mobilität - wird von der Überlegung, ob der Wechsel den Verlust der Abfertigung zu rechtfertigen vermag, oft ganz wesentlich beeinflusst. Auch volkswirtschaftlich betrachtet ist die Abfertigung daher sicherlich Unsinn.“ (zit. nach Walther 1999). Der Professor für Volkswirtschaft Walther zeigt allerdings, dass die Abfertigung auch Vorteile für Kapital und Staat hat. Die Treue und Loyalität der MitarbeiterInnen gegenüber ihrer Firma wird gefördert. Im Fall einer „nicht-selbst verschuldeten“ Entlassung ist die Abfertigung eine Art Überbrückungshilfe in ersten Monaten der Arbeitslosigkeit. Der drohende Verlust der Abfertigung bei einer „selbstverschuldeten“ Entlassung hingegen kann die Arbeitsdisziplin fördern.

Kapitalismus, Staatssozialismus und Regulierungen

Die Aufgabe des Staates ist es, die Bedingungen, die zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktion notwendig sind, zu gewährleisten. Deshalb kann es zu Widersprüchen zwischen einzelnen Interessen von KapitalistInnen und dem Staat kommen. Außerdem hat der Überbau auch ein gewisses Eigenleben. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich fordern große Teile des Kapitals seit Jahren, die Einwanderung von qualifizierten Arbeits­kräften zu erleichtern und die Selektion nach ökonomischen Kriterien vorzunehmen. Die regierenden Parteien haben jedoch die Sorge, durch weitere Zuwanderung, die auch für qualifizierte Arbeitskräfte eine Konkurrenz darstellen würde, den Klassenkompromiss mit den integrierten Teilen der ArbeiterInnenschaft zu gefährden. Außerdem spielen Ideologien eine Rolle. In Deutschland findet seit dem Anwerbestopp für ausländische Arbeits­kräfte von 1973 die Zuwanderung in erster Linie auf dem Boden des Familiennachzuges statt. In den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 machten die so genannten „Aus­siedler“ bzw. „Auslandsdeutschen“ aus Ost­europa den Löwenanteil der ZuwandererInnen aus. Die christliche Familienideologie, das völkisch geprägte Staatsbürgerrecht sowie die Angst vor Hegemonie­verlust der Volksparteien bei den Wahlen haben bisher eine Regelung der Zu­wanderung nach rein ökonomischen Kriterien verhindert. In China würde die Aufhebung des Hukou-Systems dem Kapital zum Teil nutzen, weil Arbeitskräfte aus dem ganzen Land leichter verfügbar wären. Eine dauerhafte Niederlassung der WanderarbeiterInnen und ihrer Familien in den Städten würde vielleicht auch die „zu große“ Mobilität einschränken. Dann müssten aber die Löhne steigen, weil die Lebens­haltungskosten in der Stadt viel teurer sind als auf dem Land. Der Staat behält das Hukou-System jedoch bei. Einerseits fürchtet die KPCh ein Anwachsen von Slums in den Städten, andererseits kann man mit Hilfe des Systems der ländlichen Bevölkerung weiterhin der Zugang zum städtischen Bildungssystem und zu Sozial­leistungen verwehrt werden.

Auch in der Sowjetunion wäre ohne den Zustrom von Millionen BauernarbeiterInnen in die Städte die rapide Industrialisierung in den 30er Jahren nicht denkbar gewesen. 1932 führte die sowjetische Regierung ein Pass-System ein, durch das die Bauern wieder wie zu Zeiten des Väterchens Zar eine Genehmigung der Behörden brauchten, um das Dorf zu verlassen. Die hohe Fluktuation in den Betrieben machte der sowjetischen Regierung schwer zu schaffen. In den vier Jahren des ersten Fünfjahres-Plan soll jede ArbeiterIn durchschnittlich fünf Mal den Arbeitsplatz gewechselt haben (Schröder / Karuscheit 1993: 214). Stalin machte dafür unter anderem die „Gleichmacherei“ im Lohnsystem verantwortlich. Seine Forderung hieß deshalb: „Die Fluktuation der Arbeitskraft beseitigen, die Gleichmacherei ausmerzen, den Arbeitslohn richtig organisieren, die Lebens­ver­hältnisse der Arbeiter verbessern... “ (Stalin 1950: 54). Neben der Einführung des Pass-Systems und größerer Lohnunterschiede wurde auch das Straf­recht gegen „Produktionsdeserteure“ verschärft sowie „böswillige Nichterfüllung eines mit einem öffentlichen Betrieb abgeschlossen Vertrags“ geahndet (Karuscheit /Schröder 1993: 215). Ab 1939 erschwerte ein einheitliches Arbeitsbuch den Wechsel des Betriebes. Während des 2. Weltkrieges wurden auch in einigen kapitalistischen Staaten Arbeits­bücher eingeführt, um die Kern­belegschaften in den kriegswichtigen Betrieben zu halten und die Bevölkerung besser kontrollieren zu können. Der Staat, egal ob staatssozialistisch oder kapitalistisch, hat immer abzuwiegen, wie stark er die Mobilität der Menschen einschränken soll. Der Hunger des Kapitals oder der Staatsbetriebe nach mobilen, aber kontrollierbaren Arbeitskräften muss genau so gestillt werden wie das Bedürfnis des Staates nach der Aufrechterhaltung der Stabilität der Gesellschaft. In diesem Spannungsfeld sind das chinesische Hukou-System oder das europäische Schengen-Abkommen nur verschiedene Strategien, die Mobilität zu regulieren. Deleuze/Guattari haben daher nicht ganz Unrecht, wenn sie die Bewegung des Kapitals als ständige Wechselwirkung zwischen Deterritoriali­sie­rung und Reterritorialisierung von Räumen bezeichnen (Deleuze / Guattari 1977: 333). Ununter­brochen werden räumliche Grenzen gesetzt und aufgehoben. Innerhalb der EU fallen die Schlag­bäume an den Grenzen, aber an den Außengrenzen werden Zäune mit Stacheldraht errichtet.

Mobilität, Nomadentum und Klassenkampf

In seiner Studie zu den USA versucht der Soziologe Ralf Dahrendorf die Frage „Warum gibt es in den USA keinen Sozialismus?“ zu beantworten. Als zentralen Grund für die Abwesenheit einer sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung führt er die hohe Mobilität der Arbeitskräfte an. Da die ArbeiterInnen häufig Arbeitsplatz und Wohnort wechseln würden, wären sie nur schwer in feste sozialdemokratische Strukturen zu integrieren. Als Gründe führt er an: „Wenn der einzelne für sich die Möglichkeit sieht, einem konfliktträchtigen Machtverhältnis zu entweichen, ist es unwahrscheinlich, dass er das gleiche Maß an Engagement in die Auseinandersetzungen investieren wird wie der, für den dieses Machtverhältnis unausweichliches Lebensschicksal ist (...). Der individuelle Entschluss zur Mobilität ist psychologisch wie soziologisch ein Hindernis bei der Bildung solidarischer Gruppen; er führt zur übermäßigen Fluktuation der Mitgliedschaft und lenkt zugleich die Aspirationen des einzelnen auf Ziele, die er selbst für sich zu erreichen vermag“ (Dahrendorf 1968: 63ff.). Dahrendorf zeigt außerdem, dass die US-amerikanischen Arbeitskräfte viel mobiler als die europäischen sind, aber ihre Aufstiegschancen, die soziale Mobilität, in den USA nicht höher sind. Wenn jedoch die WanderarbeiterInnen aus Alabama nach Kalifornien ziehen, kann ein subjektives Gefühl der Verbesserung entstehen, auch wenn sich die konkreten Lebensverhältnisse kaum geändert haben. Damit hat Dahrendorf nicht ganz unrecht: Während die HilfsarbeiterIn aus St. Pölten den Umzug nach Wien als sozialen Aufstieg empfinden kann, empfindet die UniabvolventIn aus der Hauptstadt es vielleicht als sozialen Abstieg, wenn sie eine Stelle in der Stadtverwaltung ihres Heimat­ortes bekommt.

Die stark ständisch geprägte deutsche Arbeiter­Innenbewegung war in der Tat auf dem fest in einem Milieu verankerten Facharbeiter angewiesen, der am besten Betrieb und die sozialdemokratischen Vereine lebenslang nicht wechselte. Dahrendorf übersieht dabei, dass die hohe Mobilität in den USA auch radikale Formen des Klassenkampfes möglich machte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es den Wobblies (Industrial Workers of the World) gerade mit den mobilen und migrantischen Teilen der ArbeiterInnen radikale Streiks durchzuführen. Wer nicht darauf angewiesen war oder hoffen konnte, dem gleichen Vorarbeiter oder Chef lebenslang gegenüber zustehen, konnte Unruhe stiften und dann wieder weiterziehen. In Deutschland der frühen 70er Jahre verfolgten auch die Spontis die Strategie, in einem Betrieb solange Rabatz zu machen, bis sie rausflogen. Hohe Fluktuation von Mitgliedern ist sicher in den Parteien und Gewerkschaften des 20. Jahrhunderts ein Problem. Gerade deshalb müssen heute Organisationsformen gefunden werden, die der hohen Mobilität gerecht werden. Wie können wir uns eine Patchwork-Gewerkschaft oder ein revolutionäres Netzwerk vorstellen, dem wir an jedem Ort wieder andocken können?

Für Deleuze/Guattari stellt in den 70er Jahren der Nomade eine wichtige Figur dar, der versucht, sich der Codierung und Reterritorialisierung durch das Kapital zu entziehen. In „Tausend Plateaus“ führen sie die Unterscheidung zwischen glatten und gekerbten Räumen – dem Raum der Nomaden und dem der Sesshaften – ein. Der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum überführt (in: Dünne 2006: 434). So wurde der glatte Raum des Meeres durch Navigation eingekerbt. Im Gegensatz zur staatsfixierten Revolutionsstrategie des orthodoxen Marxismus entwirft Deleuze eine nomadische Kriegsmaschinerie. „Aber auch der Nomade ist nicht notwendig jemand, der sich bewegt: es gibt Reisen auf der Stelle, Reisen an Intensität und selbst geschichtlich sind die Nomaden nicht jene, die sich nach der Art von Wanderern bewegen, sondern im Gegenteil diejenigen, die sich nicht bewegen und sich nur nomadisieren, um am gleichen Platz zu bleiben, indem sie den Codes entgehen. Man weiß sehr wohl, dass das heutige revolutionäre Problem darin besteht, eine Einheit der punktuellen Kämpfe zu finden, ohne in eine despotische und bürokratische Organisation des Staatesapparates zurückzufallen (...)“ (Deleuze 1979: 120). Guattari präzisierte in einem Interview diese Vorstellung und meinte, mit der nomadischen Kriegsmaschine sei auch die Stadt-Guerilla in Europa gemeint. Wie wir heute wissen, sind die Versuche im „nomadischen“ Leben des Kampfes im Untergrund emanzipatorische Strukturen aufzubauen genau so gescheitert wie der Staatssozialismus. Um Deleuze/ Guattari gerecht zu werden, muss allerdings betont werden, dass das Nomadische auch auf das Denken gezogen war, das nach Deleuze/Guattari niemals codiert und reterritorialisiert werden soll. Das Nomadische ist subversiv, weil es nicht integriert und repräsentiert werden kann, so hofften die beiden damals.

Uwe Lindemann zeigt, wie heute Theoretiker­Innen diese Überlegung in das „nomadische Informationszeitalter“ übertragen. Das „New Yorker Critical Art Ensemble“ entwickelte die Idee eines nomadischen Guerillakrieges im Internet. Nach den punktuellen und blitzartigen Angriffen würden die Kämpfer der nomadischen Kriegs­maschinerie wieder in den Weiten des Netzes verschwinden. Wie der glatte Raum der Wüste oder des Meeres, so sei auch das Internet horizontal, heterogen und flach strukturiert (Lindemann 2002: 225). Seit dieser Idee von 1994 haben Staat und Konzerne viele neue Technologien entwickelt, um User ausfindig zu machen und den virtuellen Raum des Internets zu kontrollieren. Immerhin konnte 1997 „Global Zapatista Internet Resistance“ nach einem Massaker durch das Militär in Chiapas mit massenhaften E-Mails die Seiten der mexikanischen Regierung lahm legen. Wohin sich eigentlich das emanzipatorische Potential der Idee der nomadischen Kriegsmaschinerie verflüchtigt hat, fragt man sich, wenn man das Fazit von Lindemanns Artikel liest: „Was insbesondere die palästinischen Selbstmordattentate und der Anschlag vom 11. September 2001 zeigen, ist, dass minoritäre Deterritorialisierungsprozesse im Sinne der nomadischen Kriegsmaschinerie niemals durch majoritäre Reterritorialisierungs- und Disziplinierungs­prozesse unterdrückt werden können“ (ebenda: 232). Die Bemühungen des Staates glatte Räume wie die Wüste, die Luft, das Meer und das Internet vollständig einzukerben und zu kontrollieren, seien zum Scheitern verurteilt. Was sagt uns das, außer dass der Kampf gegen die herrschende Weltordnung auch in eine andere Form der Barbarei führen kann?

Die Begriffe von Deleuze/Guattari werden aber auch im Zusammenhang mit neoliberaler Ideologie gebraucht. Ladewig/Mellinger warnen in ihren Artikel „When in doubt: go nomad – Zur Gegen­wart des Nomadischen“ davor, den Begriff von Deleuze zur Idealisierung der neoliberalen „Patch Work family“, „Patch Work Life“ oder des Freelancertums zu benutzen. Die neuen Formen von Mobilität würden zu einer weiteren Unterwerfung des Lebens unter Konsum und Kapital führen. Nur die extrem gut und schlecht bezahlten Arbeitskräfte würden die Kategorie des Nomadischen erfüllen. Der Manager, der für seinen Global Player um die Welt zieht, könne wohl kaum eine subversive Figur sein. Bezogen auf die Armen würde hingegen die Not, die die Mobilität verursacht, zur Tugend gemacht. „Denn Lust an Mobilität kann nur empfinden, wer eine Heimat hat, eine Bleibe, die sich mit Wohlsein und Sicherheit verbindet. Das gegenwärtige Konzept des Arbeitsnomaden verdankt sich jedoch gerade einer Befreiung des Nomadischen aus den Fesseln eines sesshaften, despotischen Diskurses, der sich (...) mit Deleuze/Guattari folgenreich ausbreiten konnte“ (in: Meschnig/Stuhr 2003: 53). Zum einem ist es unsinnig, Deleuze/Guattari für die mobile „Ich-AG“ verantwortlich zu machen. Zum anderen ist es problematisch zu behaupten, dass die MigrantInnen und schlecht bezahlten ArbeiterInnen die Mobilität nur als Belastung betrachten würden. Nicht jeder arbeitslose Sachse empfindet es als schlimm, in Tirol eine Kochausbildung zu machen. Für Millionen chinesischer WanderarbeiterInnen bedeutet die Arbeit in der Stadt das Entkommen aus den patriarchalen Strukturen der Heimatdörfer, auch wenn die Arbeitsbedingungen extrem hart sind. Ebenso empfindet nicht jede MigrantIn starkes Heimweh und will unbedingt in sein/ihr Heimatland zurückkehren. Ladewig/Mellinger vikitimisieren die mobilen ArbeiterInnen und MigrantInnen. Trotzdem haben sie sicher Recht, dass die grenzenlose Freiheit des mobilen Lebens im Kapitalismus nur eine hohle Phrase ist.

Wie mein Artikel klar gemacht hat, ist die Mobilität sowohl für Staat und Kapital als auch für die ArbeiterInnen eine zwiespältige Angelegenheit. Mobilität ist ein umkämpftes Feld, auf dem Klassenkampf stattfindet. Wer davon mehr profitiert, hängt von dem gesellschaftlichen Kräfte­verhältnis ab und von dem Willen der Kämpfenden, die Deterritorialisierungen und Reterritoriali­sierungen, die von Kapital und Staat produziert werden, zu durchbrechen. Weder sollten wir wie Negri/Hardt Mobilität und Nomadentum als „Aus­druck einer Verweigerung und der Suche nach Befreiung“ begreifen (Negri /Hardt 2003: 224) noch wie Oskar Lafontaine glauben, dass die Verteidigung des „Standorts Deutschland“ gegen alle Mobilen („Heuschrecken“ und „Fremdarbeiter“) die Bedingungen für den Lohnkampf verbessern würde. Am Ende möchte ich dennoch einen Vorschlag von Negri/Hardt aufgreifen: „Es wäre in der Tat interessant, eine allgemeine Geschichte der Produktionsweise aus der Sicht des Mobilitäts­strebens der Arbeiter zu schreiben (...) statt die Entwicklung lediglich unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass das Kapital die technischen Arbeits­bedingungen reguliert. Eine solche Geschichte würde die Marxsche Vorstellung von den Stufen der Arbeitsorganisation, die zahlreichen Autoren (etwa Polanyi) als theoretischer Bezugsrahmen diente, grundlegend neu aussehen lassen“ (Negri/Hardt 2003: 225).

E-Mail: paul.pop@inode.at

Literatur

Dahrendorf, Ralf (1968): Die angewandte Aufklärung, Fischer, Frankfurt (M).

Deleuze, Gilles / Guattari, Felix (1974): Anti-Ödipus – Kapitalismus und Schizophrenie, Suhrkamp Frankfurt (M).

Deleuze, Gilles (1979): Nietzsche – Ein Lesebuch, Merve Verlag, Berlin.

Dünne, Jörg (2006) [Hrsg.]: Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt (M)

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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