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Jens Petz Kastner: Fallen lassen! „Weshalb verwendet Ihr bei Euren Texten oft Pseudonyme?“ „Die Zeitung wird vom Verfassungsschutz beobachtet, und der Anarchismus wird von denen als Gefährdung des Staates gesehen.“ Aus der Verlagsankündigung zu Bernd Drücke (Hg.): JA! ANARCHISMUS. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. 20 Interviews und Gespräche, Berlin 2006 (Karin Kramer Verlag). „Woher wissen wir, dass das ¡Ya Basta! Es reicht! existiert? Wir wissen, dass es in uns allen existiert, möglicherweise ziemlich verdrängt, immer in widersprüchlicher Form, aber immer vorhanden, nicht nur aus Erfahrung, sondern ganz einfach weil es ein untrennbarer Teil des Lebens in einer unterdrückerischen Gesellschaft ist.“ John Holloway (2006: 50) „Jedenfalls scheint die Hypothese einer Unterdrückungsmacht, die unsere Gesellschaft aus ökonomischen Gründen über den Sex ausübt, entschieden zu kurz gegriffen.“ Michel Foucault (1983: 92) Physischer Zwang ist nicht das zentrale Medium zur Durchsetzung von Herrschaft. Ein banaler Satz, eine längst verbreitete Erkenntnis. Bereits die frühen Schriften der Vertreter der Kritischen Theorie sind von ihr geleitet, auch die Arbeiten Pierre Bourdieus basieren ganz wesentlich auf dieser Einsicht.[1] Warum also erneut Worte verlieren über eine der linken Basisbanalitäten? Die Antwort ist ebenfalls recht einfach und lautet: Weil sie nicht durchgesetzt ist. Eine Vielzahl gegenwärtiger sozialer Kämpfe basiert auf dem, was Michel Foucault (1983: 19) die „Repressionshypothese“ genannt hat. Bei dieser wird davon ausgegangen, dass es eine unterdrückerische, zerstörende, behindernde Macht gibt, die freie Entfaltung und Selbstbestimmung auf individueller wie kollektiver Ebene verhindert. Der Staat als Gewaltmonopol galt und gilt – je nach analytischem Schwerpunkt – als Ort, Subjekt oder Instrument dieser Macht. Hier sind sich anarchistische und marxistische Ansätze ziemlich einig: Louis Althusser (1977: 115) schreibt: „Die marxistische Tradition ist eindeutig: der Staat wird vom `Manifest´ und vom `18. Brumaire´ an (und in allen späteren klassischen Texten, vor allem von Marx über die Pariser Kommune und von Lenin über `Staat und Revolution´) explizit als repressiver Apparat verstanden. Der Staat ist eine `Unterdrückungsmaschine´, die es den herrschenden Klassen (im 19. Jhd. der Bourgeoisie und der `Klasse´ der Großgrundbesitzer) erlaubt, ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse zu sichern, um sie dem Prozess der Abpressung des Mehrwerts (d. h. der kapitalistischen Ausbeutung) zu unterwerfen.“[2] Besonders plausibel wirkt die Repressionshypothese immer dann, wenn es zu Exzessen von Polizeibrutalität kommt. Denn ebenso regelmäßig wie solche Einsätze von offizieller Weise verharmlost oder abgestritten werden, sind große Teile der politischen Klasse in sie verstrickt. Das gilt für die Angriffe auf die globalisierungskritischen Proteste von Genua 2001 (vgl. von Hösel 2001), bei denen die Polizei nicht nur friedliche DemonstrantInnen mit Tränengas angriff und in einem Straßenzug einschloss, mit faschistischen Schlägertrupps zusammenarbeitete, einen Demonstranten erschoss und schlafende GlobalisierungsgegnerInnen krankenhausreif schlug, oder für die Polizeiaktion von Atenco (Mexiko) im Mai 2006, bei der 3500 bewaffnete Polizisten mit der ausgeführten Anweisung alles zu verprügeln, was sich bewegt und dabei auch Schusswaffen einzusetzen ein Dorf stürmten und bei der mindestens 30 der gefangen genommenen Frauen von Polizisten vergewaltigt wurden.[3] Letztlich gilt es auch für das gezielte Nicht-Eingreifen der Polizei wie im Falle der neonazistischen Krawalle von Rostock-Lichtenhagen im August 1992, bei denen ein faschistischer Mob unter Beifall der Bevölkerung tagelang ein AsylbewerberInnenheim angegriffen hatte, während ein Eingreifen der Polizei verhindert wurde. Hier wird das Gewaltmonopol gewissermaßen praktisch und alle, die es bekämpfen wollen, sehen es als ihren Feind in diesem Moment klar vor sich. Weil sie sich explizit in Gegnerschaft zu jeder Form von Staatlichkeit konstituieren, sind anarchistische Bewegungen und Theorien exemplarisch für das Festhalten an der Repressionshypothese – ein Beispiel allerdings für viele. Der Anarchismus als politische Idee und soziale Bewegung hat sich bekanntlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Nach dem Scheitern der Bürgerlichen Revolutionen 1848/49 wurde der Staat vor allem mit bzw. in den repressiven monarchistischen Regimes identifiziert. Eine Zeit also, in der es kaum denkbar war, die Macht ohne den König zu denken. Auch wenn sich die anarchistischen Ideen und Bewegungen später von staatssozialistischen Projekten absetzten und bis hin zur Spanischen Revolution auch der bürgerlichen Demokratie mehr als skeptisch gegenüber standen, ein Motiv ist doch geblieben: Das Motiv der unterdrückenden Macht als zentrale Motivation des widerständig-politischen Handelns und wichtiges Moment der Mobilisierung gab es von Anfang an. Und es funktioniert bis heute. Aber funktioniert es eigentlich? Dass der Anarchismus – selbstverständlich gab es nie „den“ Anarchismus, sondern ein breites Spektrum anarchistischer Ideen und Bewegungen – sich zeitweise als Massenbewegung formieren konnte,[4] lag zu einem erheblichen Teil daran, dass nicht nur ein kleiner Teil politisch Aktiver das Motiv schlüssig fand. Erfahrungen von Repression machten nicht bloß ein paar Gewerkschafter oder Frauenbewegte, sondern es schien sich um eine in vielen gesellschaftlichen Bereichen nachvollziehbare Figur zu handeln. (Dass aus diesem allgemeinen Erfahrungshorizont der Repression politische Gegenstrategien entwickelt wurden, erlaubt es im Übrigen auch, von der Repressionshypothese als einer bis heute verwendeten allgemeinen Figur zu sprechen, die sich nicht allein auf die Problematik der Sexualität bezieht, in deren Zusammenhang Foucault gegen sie argumentierte.) Die gesellschaftliche Sicherung und Vermittlung von Herrschaft hat sich aber grundsätzlich verändert. Zur Repression kamen andere Mechanismen hinzu, Aufstände wurden nicht mehr nur blutig niedergeschlagen,[5] sondern auch im Vorfeld verhindert – auf der Ebene der Gesetze vielleicht paradigmatisch in Form der Einführung der staatlichen Sozialversicherung (1883) nach dem Verbot sozialdemokratischer und sozialistischer Organisationen und Aktivitäten (1878) im Deutschen Reich. Schon in den 1920er und 1930er Jahren waren verschiedene Marxismen angetreten, diesen Veränderungen theoretisch gerecht zu werden und diese Mechanismen der Einbindung zu begreifen. Anstatt sich aber nur der gesetzlichen/juristischen Ebene zu widmen, holten sie sehr viel weiter aus: Kultur, darin sind sich so unterschiedliche Entwürfe wie die von Antonio Gramsci oder Max Horkheimer und Theodor W. Adorno einig, wird als ein Feld für die Reproduktion von Herrschaft erkannt. „Der Generalnenner Kultur enthält virtuell bereits die Erfassung, Katalogisierung, Klassifizierung, welche die Kultur ins Reich der Administration hineinnimmt“ (Horkheimer/Adorno 1990: 139). Da Herrschaft auf Repression nicht unbedingt angewiesen ist, greifen also auch die Gegenstrategien zu kurz, die immer an sie anknüpfen. Auch die noch von den europäischen Stadtguerillas der 1970er Jahre vertretene Strategie, „das System“ zu Gewaltexzessen zu reizen um seine „faschistische Fratze“ bloßzustellen, lief demnach bereits vierzig Jahre früher – zumindest in Westeuropa – ins Leere. Auch Michel Foucaults Plädoyer gegen die „Repressionshypothese“ beruht auf dieser Infragestellung von Repression als zentralem Moment für den Zusammenhalt von Gesellschaft und die Sicherung von Herrschaft. Ohne zu leugnen, dass es Repression gab und gibt, bestand er darauf, die produktiven und kreativen Aspekte der Macht hervorzuheben. Unterdrückung sei auch und insbesondere hinsichtlich der Sexualität nicht das entscheidende, so Foucault entgegen der langen, genau darauf pochenden Tradition von Sigmund Freud bis zu den 68erInnen. Er unterliege statt einer anstandsverpflichteten Zensur vielmehr geregelten und polymorphen Anreizen zum Diskurs. Der Sex werde dadurch zu einer Sache von Verurteilung und Verwaltung, nicht verhindert, sondern gefördert. Foucault (1983: 112) forderte deshalb dazu auf, die „Macht ohne den König zu denken“ sie also nicht als zentrale Instanz oder Institution, sondern als durch alle individuellen Körper hindurchgehend wahrzunehmen.[6] Auch wenn Axel Honneth sicherlich Recht hat, dass es Foucault wie Adorno um die Frage ging, was dem menschlichen Körper im Laufe des Modernisierungsprozesses angetan wird, ist Foucaults „gesteigerte Sensibilität für jene Formen des Leidens“ (Honneth 1990: 77) nicht sein einziges Motiv. Das Hervorheben der produktiven Aspekte der Macht ist nicht zuletzt einer ebenso simplen wie plausiblen Einschätzung geschuldet: Würde die Macht nur unterdrücken, wären ihre Effekte nicht so stabil. Auch wenn beispielsweise positive Deutungen der gegenwärtigen Lage in Lateinamerika anderes evozieren, muss doch konstatiert werden, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse bei allem Leid eher und größtenteils auf Anerkennung denn auf den Willen zum Umsturz stoßen. Die paar Tausend AktivistInnen der Mayday-Bewegung, selbst die Hunderttausende der globalisierungskritischen oder der brasilianischen Landlosenbewegung oder die der „Anderen Kampagne“ der Zapatistas in Mexiko, der sich bereits über 1000 Organisationen angeschlossen haben, verschwinden vor der Zahl derer, die nicht rebellieren. Heute nicht und möglicherweise auch nicht irgendwann. Die sozialen Bewegungen sind wie die stummen MitmacherInnen Indizien dafür, dass geschichtliche Prozesse sich in Form gesellschaftlicher Kämpfe vollziehen. Die sozialen Bewegungen deshalb als treibende Kräfte der Geschichte darzustellen – wozu auch postoperaistische Ansätze neigen –, scheint mir allerdings an den gesellschaftlichen Realitäten vorbei zu gehen. Geht es um die Mehrheit, um hegemoniale Verhältnisse, stellt sich doch vor allem eine Frage: Warum ist das Einverständnis mit den bestehenden Verhältnissen so groß? Wird darauf allein vor dem Hintergrund der Repressionshypothese reagiert, gibt es nur eine Antwort: Die Einverstandenen haben nur noch nicht begriffen, wie unterdrückt sie sind, ihre Fesseln noch nicht erkannt und müssen dementsprechend aufgeklärt werden (oder sich selbst aufklären). Darin besteht ein weiterer problematischer Effekt der Repressionshypothese. Denn zum einen wird dabei außer acht gelassen, wie zufrieden und bequem auch die Teilhabe an Privilegien macht, und dass hinter dem vordergründigen Einverständnis gar nicht Rebellion oder Revolte, sondern vielleicht eine noch viel tiefer gehende Zufriedenheit steckt. Zum anderen wird der Blick auf subtilere Effekte der Herrschaft versperrt. Einverstanden sind nämlich nicht nur die, die direkt oder indirekt profitieren, sondern oft auch jene, die von Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen weitgehend ausgeschlossen sind. (Sicherlich, es hat Proteste gegen Hartz IV gegeben, aber es ist auch eine große Koalition aus den Parteien gewählt worden, die das historische Ende des Sozialstaats in Deutschland geplant und durchgesetzt haben). Warum die Unterdrückten sich in der Regel eher anpassen statt zu rebellieren, was ein „Akzeptieren dieser Unterdrückung“ impliziert, hat Pierre Bourdieu (1987: 601) als „Herrschaftseffekte“ beschrieben. Er untermauert sozusagen soziologisch die implizite Annahme Foucaults von der Stabilität der Herrschaft. Die unteren Klassen, so seine viel kritisierte These, begegnen der legitimen Kultur „als einem Ordnungsprinzip“ (Bourdieu 1987: 604), nach dem sie sich richten und das ihre soziale Stellung nur zementiert. Bourdieu weist wie Foucault darauf hin, dass Herrschaft in Körper eingelassen ist und über den Habitus die Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsschemata von Einzelnen prägt. Die Mechanismen der Anerkennung bestimmter Klassifizierungsmuster – also das was als gut, richtig, wichtig etc. gilt – sind laut Bourdieu zentral für die Reproduktion von Herrschaft. Bourdieu bezeichnet diese Übernahme der herrschenden Maßstäbe, durch die sich gesellschaftliche Strukturen perpetuieren, als „symbolische Gewalt“.[7] So lässt sich auch unabhängig davon, ob der Staat als Gewaltmonopol per Polizeiknüppel oder als rechtliche Normierungsinstanz für eine Mehrheit oder auch nur für viele erfahrbar ist, die Repressionshypothese in Frage stellen. Denn von symbolischer Gewalt zu sprechen, führt sie nicht hinterrücks wieder ein. Das Besondere am Gewaltmonopol besteht ja nicht darin, dass Uniformierte legitim zuschlagen dürfen. Es zeitigt Wirkungen und Effekte die auf diese Art der repressiven Gewalt gar nicht angewiesen ist.[8] Die Repressionshypothese zu verwerfen bedeutet nicht, gesellschaftliche Gewaltverhältnisse zu leugnen! Es heißt vor allem, darauf hinzuweisen, dass diese anders als repressiv gestützt, aufrechterhalten, perpetuiert werden. Gesellschaftliche Verhältnisse sind nie gewaltfrei, aber die Mittel ihrer Aufrechterhaltung variieren extrem. Das Symbolische der Gewalt ist hier weder als „geistig“ oder als Gegensatz zu „real“ miss zu verstehen, symbolische Gewalt beruht auf materiellen kulturellen Praktiken (Anerkennung, Bescheinigung, Distinktion etc.). Und bei diesen handelt es sich nicht um anthropologische Konstanten oder naturwüchsige Entwicklungen, sondern um geschichtliche Prozesse – das wird von der Kritischen Theorie ebenso betont wie von Foucault und Bourdieu. Als solche sind sie auch prinzipiell umkehr- und veränderbar. Daher muss auf die emanzipatorischen Potenziale hingewiesen werden, die der Kultur auch innewohnen. Kultur (verstanden als Konglomerat von Symbolen, Ritualen und Praktiken) ist also nicht ausschließlich manipulativ, verdummend, imperialistisch und vereinheitlichend, wie Horkheimer und Adorno es in der Kulturindustriethese ausgeführt hatten oder eindimensional, wie Herbert Marcus schrieb, sondern sie birgt Möglichkeiten (wobei man sicherlich nicht so weit gehen muss wie manche VertreterInnen der Cultural Studies, die im bestimmten Hören bestimmter Songs schon „Widerstand“ ausmachen). Die kulturelle Ordnung (und Kultur als Ordnungsprinzip) kann also gestört werden, es können andere Ordnungen entworfen werden. Die Selbstverständlichkeit, die der Anerkennung der herrschenden Werte und Normen innewohnt, kann durchaus durchbrochen werden (was Bourdieu et al. vielleicht zu wenig beachtet haben). Das gelingt hin und wieder da, wo stark auf „eigene“ Identität gesetzt wird, wo sich also proletarische, indigene, feministische oder sonst wie subkulturelle Lebens- und Politikformen entwickelt haben und wo auf Abgrenzung zu „denen da oben“, „den Männern“, „den Weißen“ etc. gesetzt wird. Die Problematik von Identitätspolitiken wiederum ist auch seit Jahren im Gespräch (vgl. Butler 1991, Hall 1994, zusammenfassend Kastner 2000), jede ihrer zwangsläufigen Vereinheitlichungen ruft wieder neue Ausschlüsse hervor. Sich als unterdrückte Einheit zu formieren, mag strategisch für bestimmte historische Situationen Kampfkraft mäßig sinn- und wertvoll sein. Es birgt aber einen weiteren der vielen Fallstricke, die die Repressionshypothese mit sich bringt: Diese Form der Gemeinschaftsbildung tendiert immer dazu, sich auf die auch von Foucault und Zygmunt Bauman (1995: 302) bemängelte „Freude, `im Recht´ zu sein“ zu reduzieren. (Eine Neigung übrigens, die schon Antonio Gramsci (1919) hämisch in besonderer Weise den AnarchistInnen zuschrieb: Stehen geblieben seien sie in ihrer theoretischen Entwicklung, „hypnotisiert durch die Überzeugung, dass sie im Recht waren und immer noch im Recht sind.“)[9] Zwar ist gegen Freude prinzipiell nichts einzuwenden, allerdings kommt es in diesem Kontext erfahrungsgemäß zu den ungeheuerlichsten Koalitionen und den gewagtesten Projektionen. Im Mai 2006 fand in Wien im Rahmen des Gegengipfels zum Treffen der Staatschefs aus Lateinamerika, der Karibik und der Europäischen Union ein so genanntes „Tribunal der Völker“ statt. Bei diesem wurden die Machenschaften europäischer Konzerne in Lateinamerika angeprangert. Zwar ist man seit Jahren in der Lateinamerika-Solidaritätsszene bemüht, hinsichtlich der Kategorie „Volk“ zu differenzieren: Auf dem Subkontinent ist das Wort, ganz anders als in Deutschland oder Österreich, proletarisch oder indigen konnotiert. Wer dort in der politischen Auseinandersetzung von „el pueblo“ spricht, meint „die von unten“ im Gegensatz zur weißen Oligarchie. Das Bild vom guten, von einer politischen Klasse und transnationalen Konzernen gegängelten „Volk“ mag vielleicht auf das Chile oder Uruguay der 1970er noch einigermaßen zutreffen, dürfte sich jedoch spätestens seit der Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am neoliberalen Konsens in Chile, Brasilien oder Kolumbien – auch wenn dabei berücksichtigt wird, was nicht vergessen werden sollte, dass die Durchsetzung dieses Modells tausende von toten GewerkschafterInnen, Frauen-, Menschenrechts- und anderen BasisaktivistInnen gefordert hat – selbst für Lateinamerika als realitätsfern erwiesen haben. Ganz abgesehen von der unglaublichen Suggestion, in Österreich oder Deutschland ließe sich an diese positive Konnotation andocken: „Gute“ Lebensweisen „des Volkes“ in einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft von den „bösen“ Gebräuchen „der Konzerne“ separieren zu wollen, ist angesichts des involviert Seins aller ein ziemlich lachhaftes Unterfangen. Dass der Kapitalismus über Ausbeutung funktioniert, steht damit weniger in Frage, als dass wir in einer „unterdrückerischen Gesellschaft“ (Holloway) leben. Zudem ist es geradezu infam, ausgerechnet hier, wo das „Volk“ nicht nur theoriegeschichtlich Ausschlusskategorie par excellence ist, sondern dieser Ausschluss sich auch noch im Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden konkretisierte, sich positiv auf diese Kategorie zu beziehen.[10] Auch wenn es hier etwas vereinfachend geschildert ist, sind doch resümierend sehr ähnliche Konstruktionsprinzipien am Werk: Was den AnarchistInnen der Staat, sind den globalisierungskritischen Bewegungen die transnationalen Konzerne: Der repressive Gegner.[11] Und das greift zu kurz, weil der Gegner nicht nur repressiv und nicht nur Gegner ist, sondern nicht selten auch Normen-, Werte-, Infrastruktur- und Konsumlieferant (immer noch unschlagbar in Szene gesetzt in der Frage: „Was haben denn die Römer schon für uns getan?“ in Monty Pythons „Das Leben des Brian“). Um Missverständnisse vielleicht zu verringern: Es ist nach wie vor davon auszugehen, dass es eine neoliberale Hegemonie gibt, die sich einerseits als Enteignungsökonomie gebiert und andererseits die Ökonomisierung des Sozialen betreibt. Wie alle Herrschaftsstrukturen basieren auch diese auf Gewalt und die Einpassung von Subjekten in solche Strukturen beruht immer auf sozialen Kämpfen. Dennoch sind die zentralen Mechanismen der Herrschaft in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung des Kapitalismus keine repressiven, sondern vielmehr integrative, beteiligende, produktive. Die Mehrheit muss nicht gezwungen werden, den Gürtel enger zu schnallen oder sich zu UnternehmerInnen ihrer selbst zu machen. Denn die symbolische Herrschaft ist weniger eine repressive Konstruktion als vielmehr der Effekt eines Vermögens, Dispositionen und Wahrnehmungsschemata zu schaffen, die für sie empfänglich machen und sie in das Innerste der Körper einprägen. „Das Fundament der symbolischen Gewalt liegt ja nicht in einem mystifizierten Bewusstsein, das es nur aufzuklären gälte“, so Bourdieu (2005: 77), „sondern in Dispositionen, die an die Herrschaftsstrukturen, ihr Produkt, angepasst sind.“ Allein die Umgestaltung der Produktionsbedingungen der Dispositionen kann demnach zu gesellschaftlichen Veränderungen führen. Einwände gegen diese Verhältnisse auf der Grundlage anzumelden, es sei alles nur ein großer Unterdrückungs- und Verblendungszusammenhang, wird ihnen nicht gerecht: Erstens weil viele gar nicht auf die Idee kommen, unterdrückt zu sein und sie auch bei noch so angestrengter Aufklärung sagen, it´s all right, Baby, ich bin einverstanden. Obwohl auch zwischen Einverständnis, Anerkennung, Hinnahme und einfachem Pragmatismus differenziert werden müsste, sollte doch nachvollziehbar sein, dass nicht in erster Linie oder gar ausschließlich repressive Maßnahmen (oder deren Androhung) zu diesen unterschiedlichen, gegenwärtige Verhältnisse stützenden Verhaltensweisen führen. Zweitens ist unabhängig von Empirie, also von der Zahl der Zufriedenen, zu bemerken, dass auch der theoretische Fokus sich auf andere Aspekte von Macht und Herrschaft richten sollte. Denn sie wirken tatsächlich, die Mechanismen kultureller Anerkennung und Distinktion, die Bourdieu beschrieben und die Diskurswucherungen, von denen Foucault gesprochen hat (und auch die Strategien des Konsenses, auf die die Hegemonietheorie zielt, die aber hier nicht auch noch untergebracht werden konnten). Der Blick auf Fragen der Kollaboration, wie sie in feministischen Debatten im Anschluss an Simone de Beauvoir (1983) gestellt wurden, oder die Ausschlüsse, die auch Gegen-Mobilisierungen produzieren, wird durch das Festhalten an der Repressionshypothese verstellt. Und das führt drittens zu zweifelhaften Koalitionen und Strategien, zu „Gemeinschaften der Rechthabenden“, die außer dem Glauben an den Feind kaum etwas verbindet und die darüber hinaus, wie im genannten Beispiel, nicht nur Kapitalismuskritik auf Kritik an Konzernen reduzieren, sondern auch noch den Holocaust vergessen. Die Repressionshypothese fallen zu lassen hieße also, etwas esoterisch ausgedrückt, auch sich selbst fallen zu lassen, d. h. ohne den doppelten Boden konstruierter und zweifelhafter Gewissheiten zu agieren.[12] E-Mail: petzos @ yahoo.de
Literatur: Althusser, Louis 1977: Ideologie und ideologische Staatsapparate, in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg/Westberlin, S.108-153. Bauer, Ulrich und Uwe H. Bittlingmayer 2000: Pierre Bourdieu und die Frankfurter Schule. Eine Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln?, in: Rademacher, Claudia und Peter Wicechens (Hg.): Verstehen und Kritik. Soziologische Suchbewegungen nach dem Ende der Gewissheiten, Wiesbaden (Westdeutscher Verlag), S. 241-298. Bauman, Zygmunt 1995: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M. (Fischer Verlag). Beauvoir, Simone de 1983: Das andere Geschlecht, Reinbek (Rowohlt Verlag). Bourdieu, Pierre 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag). Bourdieu, Pierre 2005: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag). Bruckmann, Mónica und Theotinio Dos Santos 2006: Soziale Bewegungen in Lateinamerika. Eine historische Bilanz, in: Peripherie. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 142, 36. Jg., Nr. 1, 2006, S. 7-22. Butler, Judith 1991: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag). Foucault, Michel 1983: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag). Gramsci, Antonio 1919: Der Staat und der Sozialismus. Nachwort zu einem Artikel von For Ever „Zur Verteidigung der Anarchie“ vom 28. Juni bis 5. Juli 1919, aus: www.marxistische-bibliothek.de/ gramscistaat.html (11.03.2006) Hall, Stuart 1994: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg (Argument Verlag), S. 26-43. Holloway, John 2006: Das Konzept der Macht und die Zapatistas, in: ders.: Die zwei Zeiten der Revolution, Wien (Verlag Turia + Kant), S. 39-55. Honneth, Axel 1990: Foucault und Adorno. Zwei Formen einer Kritik der Moderne; in: ders.: Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze; Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag), S. 73-92. Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno 1990: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente; Frankfurt a. M. (Fischer Verlag). Hösel, Johannes von 2001: Neue Strategien. Die Repression beim G-8-Gipfeltreffen in Genua, in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 261, September 2001, http://www.graswurzel.net/261/strategien.shtml (22.05.2006) Kastner, Jens 2000: „Kein Wesen, sondern Positionierung“. Zur Geschichte der Identitätspolitik, in: Arranca!, Berlin, Nr. 19, Frühling 2000, S. 6-11. Kastner, Jens 2005: Staat und kulturelle Produktion. Ethnizität als symbolische Klassifikation und gewaltgenerierte Existenzweise, in: Schultze, Michael, Jörg Meyer, Britta Krause und Dietmar Fricke (Hg.): Diskurse der Gewalt – Gewalt der Diskurse, Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern/ Brüssel/ New York/ Oxford/ Wien 2005 (Peter Lang. Europäischer Verlag der Wissenschaften), S.113-126. Kastner, Jens 2006: Globalisierungskritik und Kräfteverhältnisse. Zur Staatskonzeption bei Zygmunt Bauman, Pierre Bourdieu, Noam Chomsky und Subcomandante Marcos, in: Marchart, Oliver und Rupert Weinzierl (Hg.): Stand der Bewegung? Protest, Globalisierung, Demokratie – eine Bestandsaufnahme, Münster 2006 (Verlag Westfälisches Dampfboot), S. 172-193. Landauer, Gustav 1989: Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus. Herausgegeben von Siegbert Wolf, Frankfurt a. M. (Luchterhand Verlag). Poulantzas, Nicos 2002: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg (VSA). Anmerkungen: [1] Der Zusammenhang zwischen der Theorie Bourdieus und der Frankfurter Schule findet sich ausgebreitet bei Bauer/Bittlingmayer 2000. [2] Bereits der Anarchist und Aktivist der Münchener Räterepublik von 1919, Gustav Landauer (1989), hatte sich gegen ein solches Staatsverständnis verwehrt und den Staat als „soziales Verhältnis“ begriffen. In den 1970er Jahren sind es dann Louis Althusser und Nicos Poulantzas, die hinsichtlich des Staates vom Repressionsparadigma abweichen. Poulantzas (2002) fasst den Staat als Kristallisation von Kräfteverhältnissen. [3] Die Ereignisse sind ausführlich auf indymedia dokumentiert, auch auf deutsch gibt es bereits einige Zeuginnenaussagen: http://germany.indymedia.org/2006/05/147611.shtml (22.05.2006) [4] In den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war der Anarchismus in verschiedenen Ländern, u. a. in Form anarchosyndikalistischer Gewerkschaftsbewegungen, eine der treibenden Kräfte der ArbeiterInnenbewegung. Die Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) hatte noch in den frühen 1920er Jahren etwa 150.000 Mitglieder, die spanische CNT (Confereación Nacional del Trabajo) war in den 1930er Jahren die größte Gewerkschaft der Welt und soziale Bewegungen in Lateinamerika sind ohne ihre anarchistischen Ursprünge nicht denkbar (vgl. dazu Bruckmann/Dos Santos 2006). [5] Dass gewaltsame Unterdrückung ebenso wie deren Androhung nach wie vor wirksame Mittel zur Durchsetzung von Herrschaft sind, wird hier nicht bestritten. Nur sind sie eben nicht mehr die wichtigsten. [6] Die Macht ohne den König zu denken heißt, neue Machtverfahren zu untersuchen, „die nicht mit dem Recht sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit dem Gesetz sondern mit Normalisierung, nicht mit der Strafe sondern mit Kontrolle, und die sich auf Ebenen und in Formen vollziehen, die über den Staat und seine Apparate hinausgehen“ (Foucault 1983: 110). Macht ist also „der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“ (Foucault 1983: 114). [7] „Die symbolische Gewalt richtet sich mittels der Zustimmung ein, die dem Herrschenden (folglich der Herrschaft) zu geben der Beherrschte gar nicht umhin kann, da er, um ihm und sich selbst, oder besser, seine Beziehung zu ihm zu erfassen, nur über Erkenntnismittel verfügt, die er mit ihm gemein hat, und die, da sie nur die verkörperte Form des Herrschaftsverhältnisses sind, dieses Verhältnis als natürlich erscheinen lassen (…).“ (Bourdieu 2005: 66) Als paradigmatisches Beispiel für die Paradoxien der symbolischen Gewalt gilt Bourdieu die männliche Herrschaft. [8] Als einen solchen Effekt mit ganz handfesten Auswirkungen habe ich beispielsweise „Ethnizität“ zu beschreiben versucht, vgl. Kastner 2005. [9] Auch die im Anfangszitat zum Ausdruck kommende Illusion, der herrschenden Ordnung gefährlich zu sein, obwohl die objektiven Bedingungen für Störmomente kaum gegeben sind – so reicht die ganze technische Ausrüstungen des bundesweiten Linksradikalismus wohl gerade an die einer mittelgroßen Sparkassenfiliale heran –, wird durch die Repressionshypothese genährt. Was im Übrigen kein Argument für Gramscis sonstige Haltung dem Anarchismus gegenüber ist. [10] Der in Lateinamerika immer noch beliebte Demo-Spruch, dass das vereinigte Volk nicht zu besiegen sein wird („El pueblo unido jamás será vencido!“), formuliert auf mitteleuropäische Verhältnisse bezogen nichts anderes als eine Schreckensvision. [11] Zum Staatsverständnis in der globalisierungskritischen Bewegung vgl. Kastner 2006. [12] Mein Dank gilt der grundrisse-Redaktion, die mich auf viele offene und fragliche Aspekte dieser Skizze aufmerksam gemacht hat. Auch wenn der Text – nicht zuletzt aufgrund der vielen darin verwendeten Großbegriffe – sicherlich immer noch undichte Stellen enthält, kann er vielleicht dazu dienen, die Diskussion über die aufgezeigten Schwächen gegenwärtiger sozialer Bewegungen in Gang zu halten. |
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