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Martine Lemire und Nicolas Poirier:
Gespräch mit Toni Negri
[1]

Le Philosophoire: Ihr intellektueller Werdegang weist eine starke Kohärenz auf – das Projekt, die Immanenz des Realen auf der Grundlage einer materialistischen „Methode“ zu denken: Wenn Sie Ende der 70-Jahre mit dem Marxismus gebrochen haben, so deshalb, weil diese Denkweise Ihres Erachtens in einem dogmatischen Diskurs erstarrt war, der die Kategorien des Kapitals im Raster einer verkürzenden und verarmenden Lektüre der Welt verdinglicht hatte und infolgedessen unfähig war, der Tätigkeit der revolutionären Subjektivität Rechnung zu tragen.

Das Werk, das Sie 1979 veröffentlichten, Marx oltre Marx[2] (Marx über Marx hinaus) stellte in dieser Hinsicht einen Versuch dar, den Kern einer „materialistisch-subjektivistischen“ Methode freizulegen, die sowohl den objektiven historischen Veränderungen als auch dem Selbstkonstituierungsprozess der ArbeiterInnenklasse als revolutionärer Klasse Aufmerksamkeit widmete:  „Die materialistische Methode – in genau jenem Maße, wie sie sich gänzlich subjektiviert findet, völlig offen nach vorne gerichtet, schöpferisch – kann in keinerlei Form von dialektischer Totalität oder logischer Einheit eingeschlossen werden.“[3] Dieses „Über Marx hinaus“ sei letztendlich bei Marx selbst zu entdecken, insofern eine bestimmte Dimension des Marx’schen Denkens auf einen allgemeineren revolutionären Materialismus hindeutet, der schon bei Machiavelli und Spinoza gegenwärtig ist. Ist der Sinn Ihres Bruchs mit dem Marxismus auf diese Weise zu verstehen?  Den Marxismus aufgeben, oder sogar Marx selbst, um den „wahren“ Materialismus wiederzufinden?

Toni Negri: Tatsächlich habe ich viel in der Wirklichkeit der Kämpfe gelebt; ich war ein Agitator, ich habe bereits Anfang der 60er-Jahre damit begonnen, mich politischen Aktivitäten zu widmen. Ich kam aus einer klassischen philosophischen Ausbildung und bereitete meine Abschlussarbeit über den jungen Hegel bei Hyppolite vor; anschließend habe ich über Kant und die Weiterentwicklungen des kantischen Formalismus in der Rechtsphilosophie gearbeitet. Ich habe auch über den deutschen Historismus gearbeitet – besonders Dilthey und Weber. Von den 60er-Jahren an habe ich Politik zu machen begonnen, auf eine Art, die sich von dem, was die „offizielle“ Partei und die ArbeiterInnenbewegung machten, einigermaßen unterschied: Es ging darum, in die Fabriken zu gehen und zu schauen, was sich dort abspielte.

Zum selben Zeitpunkt habe ich angefangen, Marx wiederzulesen – ihn wiederzulesen, denn ich hatte Marx, ohne ihn in Wirklichkeit zu lesen, bereits davor gelesen gehabt: Ich war Kommunist, bevor ich Marxist war, ein Kommunismus, den ich in den Kibbuzen in Israel entworfen hatte, wo ich, als ich jung war, gelebt hatte. So fing ich also an, Marx wiederzulesen, indem ich praktische Untersuchungen und Forschungen betrieb, „Untersuchungen-mit“, wie es damals hieß, Untersuchungen mit den ArbeiterInnen: Wir gingen in die Fabriken, um zu sehen, wie die Produktion vonstatten ging, wie sich die Beziehungen zwischen den Menschen gestalteten, wie ein Diskurs aufgebaut werden konnte, wie der Arbeitstag erlebt wurde. Es handelte sich um eine Untersuchung der Dispositive, die – in der Gesellschaft ebenso wie in der Fabrik – das ArbeiterInnenleben aufrechterhielten und die von unten her rekonstruiert werden mussten. Das war es, was die Grundlage meiner Relektüre des Marxismus abgab; ich las die großen Marx’schen Werke wieder, die historischen ebenso wie die theoretischen, und versuchte zu begreifen, wie die Ausbeutung der Arbeitskraft und die auf die Reproduktion dieses Lebenssystems ausgerichtete soziale Organisation installiert wurden, und zwar vom subjektiven Standpunkt aus, denn in Wirklichkeit konnte allein der subjektive Standpunkt tatsächlich die Kämpfe bestimmen.

Mein Problem mit dem Marxismus bestand nicht darin, Gesetze zu entdecken, die die Gesellschaft im Allgemeinen regeln konnten, sondern zu begreifen, wie die Leute in diesem System der offenkundigen Ausbeutung daran zu denken beginnen konnten, sich zu befreien, vitale und politische Alternativen aufzubauen. Für mich war die Relektüre des Marxismus, und vor allem seine Neuerfindung, also eine fundamentale Angelegenheit, jedoch gemeinsam mit vielen anderen KameradInnen – ich bin kein Philosoph, ich bin jemand, der immer in kollektiven Situationen gelebt hat, ich arbeitete mit vielen anderen Leuten: Seit 1956, das heißt seit der ungarischen Revolution sowie der Krise, die es in der italienischen Kommunistischen Partei und in den Gewerkschaften gegeben hatte, haben sich viele zu fragen begonnen, ob es nicht eine andere Art und Weise gab, sich den Sozialismus vorzustellen, die Kämpfe, die Organisation – allgemeiner gesprochen, das Projekt einer Transformation der Gesellschaft.

Im Übrigen glaube ich, dass Castoriadis Ihnen das besser als ich erklären hätte können, denn es ist derselbe Weg, den Socialisme ou Barbarie verfolgte – oder auch Leute, die die Entwicklung vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus in Frankreich miterlebt haben: Es gab diese große Konvergenz, diese allgemeine Koalition des Denkens in den 50er- und 60er-Jahren, bis zum Jahr 1968. Mai ’68 ist nicht die Revolution der StudentInnen, es ist eine Revolution, die an die allgemeine Interpretation der Gesellschaft rührte, die damals bestand; es ist – glaube ich – die erste große kollektive Krise des Marxismus als Theorie der Gesellschaft.

Ich habe also die Marx-Lektüre wieder aufgenommen, und ich habe gegen 1962/63 mehr oder weniger zu schreiben aufgehört, es sind meine letzten Texte, die eben an Hegel, an Kant, an die deutsche Philosophie anknüpften – all das, was meine Abschlussarbeit betraf. Ich habe 1968/69 wieder zu schreiben begonnen, ausgehend von dieser neuen Marx-Lektüre: Es begann mit einer Relektüre von Keynes, dessen, was Reformismus des Kapitals genannt wurde, des „New Deal“, der ganzen Entwicklung des amerikanischen Kapitalismus und der Klassenkämpfe in Amerika. Danach bin ich zu einer Relektüre der Grundrisse übergegangen. Und schließlich wurde ich 1977, als ich mich in Frankreich befand, weil man mich in Italien mit einem gewissen Argwohn zu betrachten begann, von Althusser eingeladen, Vorlesungen am ENS-Ulm zu halten; dort habe ich diese Lehrveranstaltung zum Thema „Marx über Marx hinaus“ organisiert: Ich begann an den Grundrissen – einem Werk, das das Kapital vorbereitet und das in begrifflicher Hinsicht sehr viel turbulenter ist, mit vielen Hypothesen, die noch nicht in einer definitiven Sprache geschlossen und verschlossen sind – nachzuvollziehen, wie z. B. die historische Analyse direkt in der Begriffskonstruktion sowie der Konstruktion des Marx’schen Projekts zum Tragen kommt. Von hier ausgehend habe ich begonnen, den Begriff der Ausbeutung, den Begriff der ArbeiterInnenklasse, und auch jenen der Globalisierung neu zu definieren, all die Konzepte, die in der Folge in den aufeinander folgenden Phasen meiner Arbeit verknüpft bleiben werden.

Zum selben Zeitpunkt habe ich mich wieder der Lektüre von Spinoza zugewandt. Er war ein wichtiger Autor in dieser Periode – um ’68 oder nach ’68 –, es gab die Lesart, die Deleuze von Spinoza gegeben hatte, etwas, was mich sofort berührt hat;  Alexandre Matheron hatte ebenfalls gerade sein großes Buch über Spinoza herausgebracht, und sogar Althusser interessierte sich für Spinoza.  Es gab auch eine ganze Literatur sehr viel akademischeren Stils, Gueroult insbesondere, die hinter all dem stand. Für mich war die Bezugnahme auf Spinoza mit der Notwendigkeit verbunden, einen neuen, sagen wir „subjektiven“ Interpretationsrahmen zu behaupten, selbst wenn der Begriff „subjektiv“ viel zu viele Dinge bedeutet und etwas vage bleibt: Subjektivität bedeutet für mich immer ein Ensemble von Singularitäten, die sich in präzise bestimmten Momenten und Ereignissen finden, oder vielmehr eine Reihe von singulären Entscheidungen, die an Augenblicke des Bruchs rühren, kollektive Bewegungen, in denen die Subjektivität transindividuell wird und die konstitutive Momente darstellen. Viel mehr als die Subjektivität ist es die Konstitutivität des Subjekts oder der Singularität, die mein Problem bildet.

Aus diesem Grund kann ich, was bestimmte Punkte angeht, Marx wieder aufnehmen, vor allem die Idee, dass es die Kämpfe, die großen historischen Bewegungen sind, die selbst die Kontrollstrukturen schaffen, von denen diese abhängig sind und die immer wichtiger werden. In einer solchen Konstruktion wird die historische Veränderung als eine Konfrontation interpretiert, die gerade nicht mehr dialektisch ist, das ist evident, denn wenn es die Subjektivitäten oder die handelnden, konstitutiven Singularitäten sind, die die historischen Erschütterungen bestimmen, dann kann keine Teleologie angesetzt werden; bestimmend ist vielmehr das Risiko, der Kampf, der Augenblick der Entscheidung, das, was ich in der Folge den Kairos genannt habe.

Es handelt sich also um eine Lektüre von Marx, die in diesem historischen Klima einer Revision, einer Überarbeitung des traditionellen Marxismus verortet werden kann, die jedoch von einer anderen Seite her Marx treu bleibt, denn das Problem bestand – und besteht nach wie vor – darin, die Ausbeutung zu erklären sowie das zu verstehen, was auf eine radikale Transformation der Welt, zum Widerstand, zur Zurückweisung hindrängt. In den 60er-Jahren hatte ich viele kleine Essays geschrieben, Texte, die zur Hälfte philosophisch, zur Hälfte direkte Agitation sind: Es gab in dem, was ich machte, daher immer einen kontinuierlichen Austausch zwischen der politischen und der theoretischen Wirklichkeit der Bewegung. Ich habe übrigens in der Folge bei Foucault eine ziemlich ähnliche Methode wiedergefunden, und eben deswegen war Foucault, glaube ich, in Wirklichkeit mit denselben Problemen konfrontiert wie wir, mit Problemen, die wir gegenwärtig immer noch haben.

P.: Sie verwenden häufig das Wort „Tumult“, das Machiavelli entlehnt ist. Bei Machiavelli, in den Erörterungen über die ersten Dekade des Titus Livius (Discorsi), ist der Begriff mit der Restauration oder der Erfindung der Freiheit in Momenten politischer Erneuerung verbunden. Der Tumult begleitet jeden Ausbruch schöpferischer Freiheit bzw. der Erschaffung von Freiheit. Die Unruhe, die Erregung und, auf derselben semantischen Linie, die Unordnung, die Schreie und der Lärm stehen in Verbindung mit der politischen Krise, der Problematik der Revolution. „Wenn man die Unruhe verdammt, verdammt man das Prinzip der Freiheit“, schreibt Machiavelli in Kapitel 4. „Die Aufstände eines freien Volkes“, fährt er fort, „sind selten verderblich für seine Freiheit. Sie sind gemeinhin durch die Unterdrückung veranlasst, die es erträgt, oder durch die Furcht, unterdrückt zu werden.“ Die Multitude manifestiert sich in Zeiten der Unruhe, beispielsweise im Moment der Streitigkeiten zwischen den Untertanen und dem Senat in der Römischen Republik. Die Multitude ist dann, ich zitiere, „stark von der Notwendigkeit der Veränderung ergriffen“. Sie selbst sprechen vom „Projekt der Multitude“ als konstituierender Macht.

Aber was kann, außerhalb eines Marx’schen Klassenkampfzusammenhangs, die Glieder dieser konstituierenden Macht miteinander verbinden, auf welchem Terrain können sie sich treffen, wenn der Begriff der gemeinsamen Interessen, der eine vertragstheoretische Machtkonzeption, die Transzendenz des Staates sowie die Idee einer koordinierenden Souveränität voraussetzt, unangemessen ist? Wenn das Gemeinsame durch Praxen, Affekte, Begehrensweisen, Austauschformen produziert wird, ohne deshalb – zumal es nicht von einem Identitätsprinzip aus wirksam wird – einen politischen Körper zu bilden, wie manifestiert sich dann konkret sein Widerstand gegen die Unterdrückung sowie die Erfindung neuer Werte, seine Transformationsenergie? Wie kann der Individualismus des Begehrens, selbst wenn es eine Kohärenz oder eine Gemeinschaft von Begehrensweisen gibt, ein kollektives Funktionsgesetz werden, ein Bündnisse generierendes Zukunftsprinzip, wie kann er eine historische Kraft konstituieren bzw. die Singularitäten solidarisieren? Hinzu kommt der Befund, dass die sozialen Bande heute immer weniger territorialer Art sind, dass die Tendenz, der technischen Entwicklung folgend, auf eine Deterritorialisierung der affinitiven Netzwerke hingeht. Welche kollektive Verantwortung kann also diese neue Art des In-der-Welt-Seins begleiten?

T. N.: Es gibt diese Idee bei Machiavelli, das scheint offensichtlich – eine Idee, die nicht nur den Erhalt der Freiheit oder ihre Bekräftigung betrifft, sondern die auf etwas sehr Materielles hinweist, wie z. B. den Kampf der Wollarbeiter für den Erhalt dieser Freiheitsmacht, mithin den Kampf einer der am meisten ausgebeuteten Klassen der florentinischen Gesellschaft des 13. und 14. Jahrhunderts. Ich glaube, dass es eine Art von materialistischer Dialektik gibt im Diskurs Machiavellis, der unter diesem Gesichtspunkt sehr stark erscheint, obwohl ich ihn heute nicht mehr „dialektisch“ nennen würde: die Idee eines extrem starken Antagonismus, gestützt zudem durch die Analyse, die Machiavelli von der Römischen Republik, insbesondere dem Verhalten der römischen Plebs gibt, eine Analyse der Struktur dieser Republik sogar, in der die Aufrechterhaltung der Freiheit durch die Komitien, die Volksversammlungen hindurch erfolgt ist.

All das ist, glaube ich, Teil jener großen Tradition des Materialismus, jener großen Geschichte, die nie geschrieben wurde. Denn der Materialismus hat niemals eine Geschichte gehabt, die Philosophiegeschichte kennt keine Geschichte des Materialismus. Der Materialismus wird immer als ein Denken in Opposition vorgebracht, ein Denken des Paradoxen, das zur dominanten, durch die Ausfaltung der Transzendenz charakterisierten Philosophie im Widerspruch steht. Für mich war es sehr wichtig, diese materialistischen Elemente wiederzuentdecken, in der Perspektive einer Konstruktion der Immanenz in der politischen Philosophie, vor allem wenn man berücksichtigt, dass die gesamte metaphysische und ontologische Geschichte in Wirklichkeit eine politische Geschichte ist. Man müsste auf eine gewissermaßen phänomenologische Weise versuchen, die verschiedenen subjektiven Kerne des Materialismus festzuhalten, die je nach Epoche sehr unterschiedlich sind: Denn es ist offensichtlich, dass die Wollarbeiter im Florenz des 14. Jahrhunderts nicht dasselbe sind wie die Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert oder die Leute, die sich im 17. Jahrhundert im Holland Spinozas für die Freiheit schlugen.

Es gilt die spezifischen Arbeits- und Ausbeutungsformen freizulegen; das ist für mich fundamental, und unter diesem Gesichtspunkt bin ich noch immer Marxist. Für mich bleibt in der Tat das Wissen darum, wer das Subjekt ist, sowie das Verständnis der Art und Weise, wie dieses Subjekt materiell organisiert ist, von zentraler Bedeutung: Um welche Achse herum organisiert sich sein Wille? Wie strukturiert sich seine Sprache? Welche Art der gegenseitigen Implikation charakterisiert seine Bedürfnisse, seine Begehrensweisen? Anhand dieser Fragen können wir zu einer Definition des Multitude-Begriffs gelangen, der in den verschiedenen Epochen niemals der gleiche ist: Was für Machiavelli die Multitude war, ist nicht die Multitude von heute; die Multitude ist ein historischer Begriff und muss deshalb wie jeder historische Begriff bestimmt werden. Gewiss bedeutete die Multitude für Machiavelli einen Zusammenhang von nahezu professionellen Arbeitern, die eine gewisse Befähigung zur ordentlichen Verarbeitung von Wolle und Seide besaßen; heute hätten wir eher von extrem hochqualifizierten Arbeitsfähigkeiten auszugehen.

P.: Was ist es dann also, das Ihres Erachtens heute all diese Singularitäten, die die Multitude konstituieren, miteinander verbinden kann?

T. N.: Für die ArbeiterInnenklasse beispielsweise scheint das sehr klar zu sein: Die ArbeiterInnenklasse ist eine der Formen der Multitude, die sich gegen die Macht aufgelehnt haben. Diese Form von ArbeiterInnenschaft ist natürlich sehr singulär: Es handelt sich um eine massifizierte, undifferenzierte Arbeit. Die Form ihrer produktiven Organisation ist ihr von außen auferlegt, und deshalb ist die Form ihrer Vereinigung als Masse außerhalb ihrer selbst zu suchen. Eine Erfindung wie jene der Partei in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung war von der Form abhängig, in der sich die Arbeit entwickelte: Die Arbeiter hatten nicht die Möglichkeit, autonom zu sein; sie brauchten eine Leitung, eine Avantgarde, also etwas, was von außen kam. Die Frage heute ist, ob in Verhältnissen, in denen sich die Multitude als Ensemble von Singularitäten ausformt – immaterielle, intellektuelle, affektive, relationale Arbeit –, die Fähigkeit, sich selbst zu leiten, nicht der Form innewohnt, in der sie produziert. Ich will damit sagen, dass die heutige Multitude durch diese neue soziologische Form von „Vergemeinschaftung“ charakterisiert ist, die nicht mehr dieselbe ist wie die der ArbeiterInnenklasse. Für diese war das Gemeinsame eine Wirklichkeit, die durch etwas anderes ausgedrückt werden musste: ein Ideal der Machtergreifung, eines sich entfaltenden Programms, mithin einer Teleologie, die sich außerhalb der ArbeiterInnenklasse herstellt – eine Art Weg, der zurückgelegt werden muss.

Tendenziell gesehen ist die heutige Situation nicht mehr die gleiche: Neue Formen zeichnen sich ab, in denen die singulären subjektiven Energien ihr Schicksal, ihr Projekt, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen beginnen. Das ist heute ein grundlegender Tatbestand: Die politische Konstitution interveniert nicht mehr von außen, sondern wird im Inneren produziert; man könnte dies als Selbstproduktion bezeichnen, die Produktion seiner selbst als kollektiver Körper, als multitudinärer Körper, und diese Selbstproduktion wird gerade durch den Tatbestand der Produktion im biopolitischen Sinn des Begriffs ermöglicht, der Produktion einer Lebensform also. Heutzutage ArbeiterIn zu sein bedeutet, OperatorIn einer Transformation der Natur oder der Materialien zu sein, die man vor sich hat, das heißt sich in einer Welt zu bewegen, wo Erfindung und Kommunikation den Ausgangsstoff bilden; all das hängt letztlich damit zusammen, dass wir es sind, die dies bewirken, die Intervention der ArbeiterIn selbst ist bestimmend in diesem Prozess. Das ist es, was ich Subjektivität nenne.

P.: Ist der Widerstand nicht trotzdem ein Wiederaufleben des Interesses und schlussendlich der Sieg eines Klassenkampfes, von dem sie gesagt haben, es handle sich nur um ein „winzig kleines Konzept“? Wenn das Gemeinsame historisch und politisch produziert wird und von soziologischen Bestimmungen abhängt, kann man den Begriff des Klassenkampfs dann wirklich hinter sich lassen, und liegt darin nicht die Gefahr, die Geschichte auszublenden? Welcher Platz wäre demnach der Soziologie einzuräumen?

T. N.: Ich glaube, dass der Klassenkampf – man kann ihn auch anders nennen – das grundlegende Prinzip des Kampfes bleibt. Traditionell wurde der Klassenkampf in Wirklichkeit in dialektischen Begriffen gedacht, als etwas, das eine Überschreitung des Klassenkampfs mit sich bringt und somit den Triumph einer gewissen Rationalität herbeiführt, die Erfüllung seines Schicksals durch die Arbeiterklasse. Ich glaube, dass all das heute viel schwieriger zu denken ist. Ich weiß daher nicht, ob der Klassenkampf überholt ist, ich weiß einfach nur, dass der Begriff der Multitude gleichwohl ein Klassenbegriff bleibt, weil er an die Idee der Arbeit, an den Widerstand gegen die Ausbeutung gebunden bleibt, und das ist etwas, was zusehends konstitutiv wird. Auf dem Spiel steht nicht nur die Beseitigung des Elends, sondern die aktive Herstellung einer neuen Welt. Das Problem der Machtergreifung um einer anderen Form der Verwaltung des Kapitals willen ist heute nicht das fundamentalste Problem; worauf es ankommt, das ist die Herstellung einer andersartigen Macht und Dynamik, die wir in der kapitalistischen Produktion bereits vorfinden. Es gilt jedes Mal zu entdecken, was vor sich geht: Niemand erfindet die Wirklichkeit, das Äußerste, was sich tun lässt, ist, Begriffe zu erfinden, um jene kontinuierliche Veränderung zu beschreiben, die das Reale mit den ihm eigenen Kräften ist. Nicht wir sind es, die die Welt verändern, es ist die Welt, die sich selbst verändert, und nach und nach muss man in der Lage sein, diesen Wandel zu verstehen.

Das Problem, wie sich die Multitude eint, stellt sich daher nicht: Die heutige Multitude ist nicht die ArbeiterInnenklasse, die der Einigung bedurfte – eben weil sie eines äußeren Projekts, einer Avantgarde bedurfte –, sondern eine Macht, die tatsächlich hin auf eine Vervielfältigung der Singularitäten und ihrer Fähigkeiten gehen kann. Es handelt sich also nicht um ein Problem der Einigung, sondern um ein Expansionsproblem. Viele Leute stellen mir ständig Fragen zur Multitude, als ob „Multitude“ einfach nur der neue Beiname der ArbeiterInnenklasse wäre. Das ist jedoch nicht das Problem: Die Multitude ist heute gerade eine neue Weise zu arbeiten, eine neue Form des „sozialen Lebens“, eine neue Ausdrucksform, die die Politik selbst konstituiert. Es sind alle Momente des Lebens, die der Einigung der Macht entgegnen.

P.: Sie haben auf Castoriadis verwiesen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Begriff der konstituierenden Macht und der Idee eines instituierenden Imaginären, von der Castoriadis spricht und die er als Vermögen der Selbstschöpfung und des Auftauchens des Neuen in der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt definiert?

T. N.: Ich war mit Castoriadis sehr gut befreundet, ich habe mit ihm also sehr ausführlich über all diese Dinge gesprochen. Ich beziehe mich in meinem Buch Il potere costituente[4] (Die konstituierende Macht) tatsächlich auf den Imaginationsbegriff, den ich reichlich verwende und der von Spinoza kommt – auf einen Begriff ontologischer und konstitutiver Imagination. Aber er ist nichtsdestotrotz sehr verschieden von Castoriadis’ Begriff.

Es gibt in Wirklichkeit zwei Dinge bei Castoriadis, die ich nicht akzeptiere: Das erste ist ein gewisser Jungianismus, das heißt die Konzeption einer kollektiven Psychologie, eines kollektiven Unbewussten, eines kollektiven Imaginären. Ich habe nicht wirklich eingesehen, wie das in einem kollektiven Projekt funktionieren kann. Der zweite Punkt betrifft seine Idee von der griechischen Polis: Ich hatte immer den Eindruck, dass es sich um ein Demokratieideal handelt, das einerseits politisch und andererseits pazifiziert ist. Für mich gibt es diese Abschließung im historischen Prozess nicht. Außerdem machte Castoriadis vielleicht den Fehler, seine Reflexionen zu stark an die Kontingenzen des Kalten Krieges zu binden; auf einer gewissen Ebene waren seine Konzepte wirklich unbrauchbar. Devant la guerre war kein nützliches Buch, verglichen mit den tiefgründigeren Dingen, die ansonsten bei ihm zu finden waren.

Abgesehen davon gibt es den absolut bewundernswerten und konstruktiven Aspekt von Castoriadis, sein Bemühen in Socialisme ou Barbarie, den Marxismus neu zu entwerfen, vor allem die Idee des kollektiven Kapitals, all die Ideen, die er mit Lefort und anderen ausgearbeitet hat, die auch in der Frankfurter Schule wiederzufinden waren und an denen sich der Situationismus inspiriert hat. Das sind für mich sehr wichtige Dinge, insbesondere die Idee der konstitutiven Imagination, in der nicht nur die Werte des Widerstands gegen die Ausbeutung zu finden sind, sondern die auch eine konstruktive Idee der Gesellschaft enthält.

P.: Was Sie ebenfalls von Castoriadis unterscheidet, ist, dass es Ihres Erachtens keinen wirklichen Grund gibt, an die Existenz des Unbewussten zu glauben.

T. N.: Ich habe immer gesagt, dass ich kein Unbewusstes habe – das ist ein bisschen ein Scherz. Aber tatsächlich glaube ich nicht an die Produktivität der Psychoanalyse in den Sozialwissenschaften. Im Gegenteil: Auf der Grenze, auf den inneren Blockaden des menschlichen Seins und seiner Ausdrucksfähigkeiten zu beharren – was, wie ich glaube, grundlegende freudianische Elemente sind, wenn ich auch andererseits nicht sagen möchte, dass es ein ursprüngliches Übel im Sinne der analytischen Ideologie gibt – bedeutet meines Erachtens, sich der Möglichkeit zu begeben, die Befreiung unter einem kollektiven und selbst individuellen Gesichtspunkt zu denken; man findet sich in einer Situation, in der selbst die Ausübung der Imagination schwierig wird. Was diesen Punkt betrifft, bin ich durch und durch Spinozist, und wenn es im Leben Übel, Grenzen, Blockaden gibt, dann nicht in dem Sinn, denke ich, dass diese dem Sein eingeschrieben wären, sondern im Sinn von etwas, das sich von außen auferlegt. Jedes Mal, wenn die Entwicklung des Seins blockiert ist, liegt dies an anderen, von außen kommenden Kräften.

P.: Könnten Sie die wichtige Rolle präzisieren, die sie in Ihrem Denken der Sprache, den sprachlichen Elementen in der Krise des Kommandoverhältnisses zumessen? Inwieweit hat die performative Funktion der Sprache für Sie eine politische Dimension?

T. N.: Ich glaube, dass die Sprache zu einem produktiven Element geworden ist, beispielsweise in der Informatikindustrie oder allgemeiner in den Wissenschaften, die sich auf die Kommunikation und die sprachliche Erarbeitung gründen; sie ist eine der machtvollsten Maschinen für die Produktion. Andererseits gibt es in dem Maße, wie die Arbeit zusehends immateriell, intellektuell, affektiv wird – und über die von der Maschineneffizienz besetzten Räume hinausgeht –, offenkundig soziale Räume, die von der Sprache als Beziehungsform dominiert werden, und auf der Grundlage dieser Beziehungen erscheint eine ganze Reihe von Werten (z. B. affektive Werte), die für die Reproduktion der Welt von zunehmender Bedeutung sind.

Drittens ist die Sprache das Bild – und im Übrigen nicht nur das Bild, sondern auch die Einbildungskraft bzw. die Imagination –, die Form, in der sich die Konstitution einer intersubjektiven Beziehung imaginieren und leben lässt. Wenn jeder und jede von uns eine Singularität ist, so werden wir in der Sprache und dem Kontakt mit den anderen zu einer Realität jenseits des Ereignisses unserer Existenz. Eine Singularität ohne Sprache ist unvorstellbar, so wie eine reine Monade unvorstellbar ist. Die Monade existiert nur, weil sie in die Sprache eingefügt und eingetaucht ist. Was bedeutet, dass wir durch eine Sprache konstituiert sind, dass wir ohne eine vorgängige Sprache, die uns rekonstituiert, modifiziert, verändert, nicht existieren würden. Die Sprache ist so gesehen sehr bedeutsam, sie ist ein Arbeitsinstrument, eine Kommunikationsform, eine Seinsweise im spinozistischen Sinn.

P.: Zur Frage der Biomacht: In Nummer 10 der Zeitschrift Réfractions entwickelt Fabio Ciaramelli eine Kritik am Begriff der Biomacht, den er für insofern inkohärent hält, als dieser Begriff die Frage der Institution ausblendet. Dank der Biomacht werde ein Zusammenhang zwischen Natur und Kultur, Bios und Polis zu denken versucht, ohne die Vermittlung der gesellschaftlichen Institution zu bedenken, die allein das Leben menschlich zu machen in der Lage ist, und zwar in dem Maße, wie sie den Individuen die gesellschaftlichen Bedeutungen zur Verfügung stellt, die ihrer gemeinsamen Existenz Sinn geben. Dieser Versuch einer Naturalisierung der Macht sei, so Ciaramelli, sinnbildlich für eine Weigerung, die konstitutive Rolle der Geschichtlichkeit für das gesellschaftliche Leben zu denken. Es entsteht in der Tat der Eindruck, dass beispielsweise für Agamben, der in Homo Sacer diese Logik bis zum Äußersten treibt, die Geschichte komplett verschwindet, insbesondere die Geschichte des Kampfes der Unterdrückten gegen die Macht: Die Tätigkeit der Individuen in der Geschichte und ihre Rückwirkung hinsichtlich der tatsächlichen Realität der Macht ist vollkommen abwesend, man hat den Eindruck, dass die Biomacht vom Himmel fällt. Und diese Tendenz ist im Übrigen auch bei Habermas zu finden, der die Freiheit auf der Basis von kommunikativen Anlagen, die der menschlichen Gattung zueigen sind, zu begründen versucht und aus der Sprache eine transhistorische Universalie macht, die der genetischen Ausstattung von naturhaft auf wechselseitige Kommunikation angelegten Individuen eingeschrieben ist.

Gibt es bei Ihnen nicht eine analoge Tendenz dazu, die Frage des Gesellschaftlichen und Politischen schlicht auf das Problem einer dem Leben selbst immanenten Organisation zu reduzieren?

T. N.: Bei Agamben ist die Konzeption der Biomacht eine im Grunde naturalistische Konzeption, naturalistisch auf eine ziemlich merkwürdige Art und Weise, weil sie so naturalistisch wie mystisch ist. In Wirklichkeit gibt es bei Agamben eine extrem zweideutige Entwicklung: Agamben ist gegenwärtig damit beschäftigt, das, was der mystische Grund der Autorität ist, in einen lebendigen und biopolitischen Grund zu transformieren. Hinter dieser Vorstellung von Biomacht liegt eine schmittianische Konzeption der Macht: Es ist also zutreffend, dass es bei Agamben an der Stelle, wo die Foucault’sche Konzeption der Biomacht und der Biopolitik historisch bestimmt war, eine Dehistorisierung der Biomacht gibt.

Ich für meinen Teil benütze den Begriff der Biomacht in einem historischen Sinn. Als ich diesen Begriff in meiner Arbeit eingeführt habe, wollte ich damit die reale Subsumption der Gesellschaft unter das Kapital ausdrücken, denn es gibt einen Augenblick, wo das Kapital eine fast totalitäre, allgemeine, verallgemeinerte Macht über das Gesellschaftliche hat. Und ich verweigerte mich gerade sowohl den Habermas’schen Lösungen – das heißt transzendentalen Lösungen, die eine Neudefinition der Macht im Sinne von auf ein kantianisches transzendentales Vermögen gegründeten Kommunikationsnetzwerken versuchen – als auch den Benjamin’schen Lösungen – die ein wenig so wie bei Agamben aussehen.

Agamben ist einer meiner besten Freunde, ich spreche mit ihm ständig darüber: Er ist meines Erachtens in einer Art antitotalitärem Delirium befangen, das ihn die Welt auf ein Vernichtungslager reduzieren lässt, in dem allenfalls extreme Spielräume verbleiben, in einem gänzlich dialektischen negativen Denken, das nur dann, wenn man alles erlebt hat, zum Vorschein kommt, das nur an der Grenze auftaucht. Das ist ein wenig das, was in der Postmoderne geschieht: Die Postmoderne hat in Wirklichkeit diese Idee der Subsumption, das heißt der Kontrolle, der Kolonisierung des Lebens durch das Kapital, für eine fundamentale phänomenologische Aussage genommen, indem sie die Schlussfolgerungen der Epigonen des traditionellen Marxismus, wie etwa der Frankfurter Schule, in eine weniger an Marx orientierte und allgemeinere Sprache übersetzte.

Ich denke, dass diese ganze Entwicklung in Wirklichkeit von einem Antagonismus beherrscht ist: Das Kapital ist ein Verhältnis, es ist kein Kommando, oder genauer: Es ist ein Kommando, das sich auf ein Verhältnis bezieht. Das Kapital existiert nicht ohne Ausbeutung, und die Ausbeutung ist immer das In-Arbeit-Setzen der lebendigen Energien. Vor dem Kapital gibt es immer eine lebendige Arbeit, und diese lebendige Arbeit leidet offensichtlich, und zwar eben insofern sie lebendig ist. Das Leiden und die Ausbeutung existieren, weil das Kapital irgendwo an das Lebendige rührt: Das ist es, was das biopolitische Gewebe bildet, über das die Biomacht in der Tat eine totalitäre Macht zu entfalten versucht, ohne dass sie das aber jemals zustande brächte; gelänge es ihr nämlich, so bedeutete dies ihre Negation. Es verhält sich wie mit der Atombombe: An jenem Tag, an dem sie abgeworfen wird, stirbt alles, selbst der, der sie abwirft.

Das ist die Kritik, die ich an Agamben üben würde, auch wenn in der Entwicklung seiner Thesen eine Eleganz liegt, eine Fähigkeit, die Vielfalt der Lebensformen und Lebensweisen sowie möglicher Alternativen wirklich zu verstehen. Das Problem ist, dass man angesichts der ganzen Geschichte des Agamben’schen Denkens von seinem Anfang bis heute bemerkt, dass es auf diesem Terrain extrem äquivok ist. Ich habe gerade einen Artikel für ein Buch über Agambens Denken geschrieben, das in Italien erscheinen wird, und ich sage am Ende des Artikels, dass sein Denken mich an jenes eines cartesianischen Philosophen des 17. Jahrhunderts erinnert, nämlich das Denken Arnold Geulincx’, der behauptet, dass alles, was geschieht, sich im Willen Gottes hält, selbst das Übel. Das ist das Paradox eines allmächtigen Gottes, der alles beherrscht, im Verhältnis zu dem die einzige mögliche Lösung darin besteht, sich dem Schicksal anzuvertrauen. Andererseits gibt es bei Agamben diese Heidegger’sche Basis, die ihn letztlich blockiert.

P.: Aber gibt es bei Ihnen nicht ebenfalls eine gleitende naturalistische Bewegung, zumal Sie doch behaupten, zwischen Natur und Kultur sei kein Unterschied zu machen?

T. N.: Was diesen Punkt angeht, so glaube ich, dass wir tatsächlich in postmoderne Verhältnisse eingetreten sind – ich sage postmodern, weil wir uns nicht in jener Hypermoderne befinden, von der Beck spricht –, und ich denke, dass wir eine echte Zäsur erleben; eine Zäsur, die genau durch die reale Subsumption des Kapitals, durch den Triumph des Kapitalismus charakterisiert ist, einen gleichwohl zweideutigen Triumph, denn der Kapitalismus ist gezwungen, die ganze Welt unter seine Vormundschaft zu stellen – in dem Maße, wie der Widerstand universal wird. Wenn das Kapital aber ein Verhältnis zwischen einer toten Arbeit und einer lebendigen Arbeit ist, wenn das Kapital die Kontrolle von allem übernimmt, dann diffundiert es dieses Verhältnis auch, und deshalb finden wir überall Widerstände, in allen Räumen des Lebens, denn kein Raum entgeht mehr der Ausbeutung. Die Natur selbst wird samt und sonders unter das Kommando des Kapitals genommen.

Das Leben, auf der anderen Seite, was lässt es anderes übrig als eben den Widerstand von etwas, das außerhalb des Kapitals steht? Aber außerhalb des Kapitals zu stehen, heißt das nicht, in das Spiel der vom Kapitalismus bestimmten Verhältnisse einzutreten? Wenn Sie in die Toskana oder nach Burgund fahren und sich umsehen, dann sehen Sie, dass alles durch die menschliche Arbeit bestimmt ist: Die Natur sehen Sie nicht mehr, außer in der Gestalt, die der Mensch ihr gegeben, in die er sie verwandelt hat. Diese Transformation der Natur ist etwas Grundlegendes, und was uns angeht, verhält es sich ganz genauso: Wie ließe sich ein Leben von der Geburt bis zum Tod führen, wenn nicht in diesem aufs Engste verflochtenen Verhältnis von Natur und Kultur? Genau deshalb ist von Biopolitik die Rede, weil die Politik sich gänzlich in die Form eingeschaltet hat, welche das Leben angenommen hat.

P.: In der Perspektive, die Sie einnehmen, betonen Sie die historische Chance des Individuums, seine kritischen Fähigkeiten und erfinderischen Praktiken freizusetzen, und zwar über die Ausübung einer wirklich partizipativen Demokratie sowie insbesondere dank der Dezentralisierung der Macht und der netzwerkartigen Kommunikation. Während Sie von Marx bestimmt konzeptuelle Einsätze (wie etwa Tendenz, Antagonismus, Produktion von Subjektivitäten) wiederaufnehmen, grenzen Sie sich von ihm gleichzeitig über die Weigerung ab, die Notwendigkeit in die Geschichte einzuführen – deren Motor sei vielmehr das gesellschaftliche Begehren verbunden mit der Fähigkeit zur Neuerung. Es handelt sich also um einen Aufruf zum Ausdruck, zur Machtsteigerung (im spinozistischen Sinn), zur Deliberation und zum gemeinsamen Handeln.

Die neue Welt könnte allerdings auch nicht kommen. Denn es besteht die Gefahr einer Konzentration der Souveränität durch jene selben technologischen Werkzeuge, aus denen Sie Instrumente einer möglichen Befreiung machen. Im Übrigen sind die Ungleichheit der Austauschformen, die Verbreitung der Sicherheitsideologie sehr wohl Realitäten. Die Tertiärisierung der postindustriellen Gesellschaft – das, was manche eine manageriale Verwaltung der Welt nennen – verwandelt nicht zwangsläufig die immaterielle Arbeit, deren Entfremdungscharakter Sie einräumen, in eine kreative intellektuelle Arbeit. Eine merkantile und konsumistische Konzeption der Freiheit scheint sich durchzusetzen, samt der drohenden Homogenisierung und Massifizierung, die damit einhergeht. Sind die zahlreichen Widerstandsformen nicht Brüche von bloß lokaler Fruchtbarkeit, eine Vielheit von versetzten Geschichten, fortgerissen von der allgemeinen Expansionsbewegung des Kapitalismus? Oder aber stellt die „universelle merkantile Republik“ – um auf die Formel von Adam Smith zurückzugreifen – über die Spezifizierung der Märkte tatsächlich und paradoxerweise die Bedingungen für den Erhalt der kulturellen Diversität, die Anerkennung der Alteritäten bereit, sodass hierin der Ausgangspunkt für das Handeln sowie die Neudefinition von Handlungsbedingungen und Denkkategorien läge?

Unter welchen Bedingungen kann man aus dem Fortschrittsgedanken noch ein begriffliches Werkzeug machen, und zwar außerhalb jedes teleologischen Horizonts, zumal Sie dessen Notwendigkeit ja zurückweisen?

T. N.: Ich habe niemals Prognosen darüber abgegeben, was geschehen wird, ich habe lediglich gewisse Verhältnisse dargestellt, die mir ganz und gar Antagonismen zu erzeugen scheinen. Aus diesem Grund sehe ich die Globalisierung positiv, denn sie zerstört eine ganze Reihe von Mythen und bewirkt eine Freisetzung der Subjektivität in Reaktion auf die kapitalistische Herrschaft. Es ist offensichtlich, dass das Kapital die Globalisierung nicht gewollt hat. Das Kapital befand sich in Wirklichkeit vier oder fünf Jahrhunderte lang in einer absolut vollständigen Symbiose mit dem Nationalstaat: Der Nationalstaat bildete die wahrlich perfekte Dimension seiner Entwicklung, seiner Fähigkeit, gesellschaftliche Regeln aufzustellen, seines Reproduktionsvermögens. Die Tatsache, dass das Kapital nicht mehr die Möglichkeit hat, die Entwicklung auf gesellschaftlichem Terrain zu kontrollieren, treibt es dazu, immer höhere Kontrollpunkte zu bestimmen – beispielsweise die Arbeitsorganisation zu verändern, die immaterielle Arbeit im Sinn eines Produktionszentrums als grundlegendes Element anzuerkennen. Die immaterielle Arbeit ist nichts, was durch das Kapital gewünscht würde, Letzteres ist sich des Umstands sehr bewusst, dass die immaterielle Arbeit ungeahnte Freiheitsmöglichkeiten mit sich bringt. Die immaterielle Arbeit ist zwar als solche nicht zureichend, um eine Freiheitsalternative zu schaffen, aber ebenso wahr ist es, dass immaterielle, intellektuelle, wissenschaftliche, sprachliche Arbeit ohne einen bestimmten Grad von Freiheit nicht möglich sind. Wir befinden uns also in einer extrem komplizierten Situation, in der wir von einer Phase zur nächsten übergehen, von der Moderne zur Postmoderne: Wir befinden uns gewissermaßen wie zwischen Mittelalter und Neuzeit, in einer Art „Interregnum“, samt all den Gefahren, die diese Situation erzeugt.

Deshalb glaube ich z. B., dass es heute, in unserer Situation, nicht möglich ist, unsere Zukunft von einem theoretischen Gesichtspunkt aus zu ersinnen, ohne die Hilfe der großen Kämpfe, der großen Ausdrucksformen der wirklichen Bewegung. Wir befinden uns in einer Situation, in der wir uns vorstellen können, dass bestimmte Wege möglich sind, dass Befreiung eher möglich ist als in früheren Zeiten; denn es hat eine Wiederaneignung der Produktionsmittel stattgefunden, die wir nun mit uns tragen, beispielsweise in unserem Gehirn. Es ist nicht mehr das Kapital, das uns die Produktionsmittel bereitstellt, im Gegenteil, wir sind es, die sie entwickeln. Das Kapital ist nicht mehr imstande, die Mobilität der Bevölkerungen von vornherein zu bestimmen, die Arbeitskraft in der Welt nach Nationalitätsniveaus bzw. kolonial bestimmten Räumen zu hierarchisieren; es gibt diese Bewegungen, die dabei sind, alles zu erschüttern, und hierin liegt die Positivität der Globalisierung. Die Globalisierung wurde dem Kapital in Wirklichkeit durch die Klassenbewegungen aufgezwungen. In dieser Transformation haben sich neue Kräfte, neue Subjektivitäten zu bilden begonnen – die Multituden. Das ist eine vielleicht chaotische Bewegung, hinsichtlich derer es sehr schwierig ist, zu begreifen, was geschehen wird, aber die Virtualitäten und Potenzialitäten in ihr werden zusehends stärker.

Ich komme aus dem Iran zurück, wo ich etwa zehn Tage verbracht habe; es war das erste Mal, dass ich dort hingefahren bin. Es ist beeindruckend, hinter einem „theologisch-politisch-kapitalistischen“ Regime sowie den schrecklichen, traurigen und bösartigen Priestern, die diese Gesellschaft befehligen, eine unvorstellbare gesellschaftliche Revolution am Werk zu sehen, nämlich die Revolution der Frauen – der Fortbestand der traditionellen Disziplin, die die Frauen am Herd und unter dem Tschador hält, ist der kritische Gegenstand dieser Gesellschaft. Hier ist eine globalisierte gesellschaftliche Revolution am Werk: einerseits eine in einem islamischen Land nicht auszudenkende sexuelle Revolution; und andererseits das Internet, die verallgemeinerte Kommunikation, und zwar mit Hilfe des Persischen, das vielleicht eine der dominanten Sprachen in der ganze Region geworden ist. Das sind wirklich großartige Dinge, denn es ist unsicher, ob im Iran Möglichkeiten zur schnellen Transformation eines nach wie vor diktatorischen Regimes bestehen, und es sind nicht die AmerikanerInnen, die Freiheit und Demokratie bringen werden. Aber es gibt jene großartige Bewegung, die durch die Globalisierung existiert.

P.: Zu Recht erinnern Sie daran, dass es keine rein theoretische Arbeit sein kann, die Geschichte zu denken, und dass das historische Werden ständig durch die Praxen neu erfunden wird, dass es also notwendig ist, auf Vorhersagbarkeit zu verzichten und die Möglichkeiten offen zu lassen.

Könnte man nicht gleichwohl in den Blick zu nehmen versuchen, was das Gemeinsame, das selbst hervorgebracht ist, seinerseits hervorbringen kann, wenn die Wirkungskraft des politischen Handelns und des kreativen Widerstands nicht mehr von deren territorialen Verankerung abhängt, wenn die – traditionellerweise national konzipierte – StaatsbürgerInnenschaft nur eine überkommene historische Bedingung ist? Ist das vielleicht der Frieden, ein dauerhafter Frieden?

T. N.: Ich bin davon überzeugt, dass wir uns heute in einer Situation des permanenten Krieges befinden. Diese Situation entsteht aus der Tatsache, dass die Funktion der Biomacht immer mehr eine rein repressive und unter diesem Gesichtspunkt parasitäre Funktion ist. Der Krieg ist also im Begriff, in diesem Übergang von der Moderne zur Postmoderne zum fundamentalen Ordnungselement zu werden. Es gibt keine Möglichkeit mehr, den Wert nach klassischer Manier zu betrachten: Der Wert war eine bestimmte Zeit, die in Arbeit umgesetzt wurde, und auf der Grundlage dieser Zeit ließen sich Reichtümer erpressen. Heute ist das alles vorbei: Die Innovation wird durch die Erfindung, durch die Wissenschaft hervorgebracht. Wir verorten uns zusehends auf biopolitischem Terrain – ich denke an die informatische Produktion, an die Produktion des Lebendigen, an die Lebensindustrien, an die Techniken und Technologien des Lebens –, und auf diesem Terrain werden die Kontrolle und die Partizipation der Menschen absolut fundamental. All das lässt uns in einer Situation zurück, in der gerade das traditionelle Fundament in einer Krise ist, und zwar in einer radikalen Krise: Wir sind im Begriff, eine andere Welt zu erleben. Eine andere Welt ist bereits da – es ist die Welt der Kooperation, der Enteignung des Kapitals und seiner Produktionsmittel, mithin der Rückgewinnung der Produktivkräfte.

Doch es ist auch eine tragische Welt, denn es ist offensichtlich, dass die ArbeitgeberInnen, die AusbeuterInnen, kurzum das Kapital sich nicht alles gefallen lassen. In dieser tragischen Welt ist das Wiederergreifen der Tugendkraft und der Ethik vonseiten des Subjekts von grundlegender Bedeutung. Der Widerstand, die Militanz, die Ausübung gesellschaftlicher Liebe als einer ontologischen Kraft des Aufbaus von Beziehungen und Sprache sind fundamentale Angelegenheiten; ebenso wie die Selbstproduktion als Subjekt und als Kollektiv. Wir befinden uns in der Mitte dieses ungeheuren Übergangs, in dem die Biopolitik, die Biomacht den Krieg als Ordnungsform betreibt.

Aus dem Französischen von Stefan Almer und Stefan Nowotny


[1] Die französische Originalversion dieses Gesprächs ist in Nr. 24 (Frühjahr 2005) des Webzines Le Philosophoire (www.webzinemaker.com/lephilosophoire/) bzw. auf der Website der Zeitschrift Multitudes (multitudes.samizdat.net/article.php3?id_article=1928) erschienen.

[2] T. Negri: Marx oltre Marx: quaderno di lavoro sui Grundrisse, Milano: Feltrinelli 1979.

[3] Hier zitiert nach der französischen Ausgabe: Marx au-delà de Marx: cahiers du travail sur les „Grundrisse“, Paris: Christian Bourgois 1979, S. 34.

[4] T. Negri: Il potere costituente. Saggio sulle alternative del moderno. Carnago: SugarCo 1992.

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ISSN 1814-3164 
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