|
Robert Foltin: Autonomer Antiimperialismus In den 1960ern erreichte der Prozess der Entkolonialisierung sein Ende, bis auf Ausnahmen erreichte ein großer Teil der Staaten des globalen Südens die formale Unabhängigkeit. Durch die Existenz der Sowjetunion war es in einem Teil der Staaten möglich, eine vom Westen unabhängige Politik zu machen. Die anderen waren nicht mehr wie die Kolonien als Absatzmärkte interessant, sondern entwickelten sich zu Rohstoffproduzent_innen und verlängerte Werkbank mit billigen Arbeitskräften. Nicht umsonst war die dominierende Theorie der Gegner_innen dieser Weltordnung die sogenannte Dependenztheorie, die davon ausging, dass die Verwirklichung des aktuellen Kapitalismus in der ungleichen Aufteilung der Welt besteht und dass die richtige Strategie dagegen eine nachholende Industrialisierung notwendig mache. Wenn es Staatschefs wagten, den Besitz internationaler Konzerne zu nationalisieren, d.h. einen Teil der Gewinne im eigenen Land zu verwerten, war das bei den entsprechenden Kräfteverhältnissen ein Grund für militärische Interventionen der USA, wie in den 1950ern im Iran, in Guatemala und der Dominikanischen Republik. Im Rahmen des Konzeptes der „Eindämmung“ eines realen oder projizierten kommunistischen Vormarsches führten die USA seit 1964 einen offenen Krieg in Vietnam. Durch den Widerstand gegen diesen (aber auch durch die Siege in Kuba 1959 und Algerien 1962) wurde der Antiimperialismus zu einem wichtigen Thema der Bewegung der Studierenden. Wenn die Hauptaktivität auch gegen den US-Imperialismus gerichtet war, wurde auch die deutsche Bewaffnung der portugiesischen Kolonialmacht und die Unterstützung von Diktatoren des Südens wie den Schah von Persien, den Franco-Faschismus in Spanien oder die Obristendiktatur in Griechenland durch die BRD skandalisiert und in Demonstrationen angeprangert. Nur kleine Minderheiten unterstützten die Befreiungsbewegungen direkt, die meisten beschränkten sich auf die radikale Parole „Sieg dem Vietkong“. In der Folge wurden Verbindungen zu den entsprechenden Befreiungsorganisationen gesucht, die ins ideologische Konzept passten, die kommunistische Linke orientierte sich an den von der Sowjetunion unterstützten Staaten und Bewegungen, die Maoist_innen (Marxisten-Leninisten) an solchen, die auch gegen den „Sozialimperialismus“ auftraten. Die libertäre Szene kritisierte schon damals autoritäre Entwicklungen und richtete sich an bewaffnet kämpfende Bewegungen, die noch keinen Staat hatten. Die Unterstützung war nicht unkritisch, aber fast immer wurde angenommen, dass die sozialen Komponenten der Befreiungskämpfe die nationalen auf lange Sicht dominieren werden[1]. Indirekt floss eine aus der Komintern (Kommunistische Internationale) kommende Etappentheorie ein: die nationale Befreiung sei ein erster Schritt zur Emanzipation (vgl. die Kritik daran an der Erklärung der Revolutionären Zellen 1991: „Gerd Albartus ist tot“, ID-Archiv 1993, S. 28). In der zweiten Hälfte der 1970er war schon zu erkennen, wie sich einige siegreiche Regime entwickelten. Am erschreckendsten waren die Massaker in Kambodscha. Verstärkt durch den Krieg zwischen Vietnam und China wurde der Antiimperialismus immer mehr in Frage gestellt. Es blieb der Kampf gegen den Imperialismus, weil dessen Unterstützung von Diktatur und Folter ja nicht aufgehört hatte. Im Gegenteil, diese wurden mehr wie in der Türkei 1980, Lateinamerika wurde inzwischen überhaupt von Diktaturen überzogen. „Neuer“ Antiimperialismus Als für die Linke im globalen Süden gar nichts mehr zu gehen schien, erlitt der (US)-Imperialismus eine seiner größten Niederlagen nach dem Rückzug aus Vietnam: Im Februar 1979 wurde das iranische Schah-Regime, eine der stärksten Bastionen des „Westens“ im Nahen Osten, gestürzt. Obwohl die Linke den Widerstand gegen das Schah-Regime trug, setzte sich der reaktionäre Antiimperialismus des Mullah-Regimes durch. Waren die siegreichen antikolonialen Kämpfe in den letzten Jahrzehnten Guerillakriege, die sich in „Volkskriege“ verwandelten, so kehrten mit der iranischen Revolution wieder die städtischen Aufstände zurück. Die iranische Revolution war nur der zugespitzteste Ausdruck eines Typus von Revolte, die ihre Basis in den städtischen Slums hatte und noch hat. Diese entzündeten sich häufig an der Verteuerung von Grundnahrungsmitteln, weshalb sie als Brotrevolten, Hungerunruhen oder Anti-IWF-Unruhen (Internationaler Währungs Fond) bezeichnet wurden (der IWF verlangte die Abschaffung von Subventionen auf Grundnahrungsmittel): ihre Ausdrucksformen waren Massendemonstrationen, Krawalle und Plünderungen. Die Protangonist_innen aus den Slums der Städte wurden damit das Subjekt eines „neuen“ Antiimperialismus[2]. Für den autonomen Antiimperialismus ging es nicht um die Beschreibung des Elends, des Hungers und der Schlächtereien, sondern darum „von wem das Blut stammt“, nicht den Privilegierten, sondern der weltweiten Armut. Es sollten auch nicht bestimmte Befreiungsbewegungen bewertet werden und nicht beklagt, dass sich fast überall neue Eliten an die Spitze der Staaten gesetzt hatten, denn „uns geht es nur darum […] nach ihrem Gebrauchswert für eine sozialrevolutionäre Bewegung zu fragen.“ (AUTONOMIE Neue Folge Nr. 10, S. 2) In den 1960ern herrschte in den postkolonialen Regionen des Südens die paradoxe Situation, dass die Multis zu wenig Arbeitskräfte fanden, obwohl es einen Überschuss an Menschen gab (das Folgende nach AUTONOMIE Neue Folge Nr. 10, S. 4ff). Die bäuerlichen Verhaltensweisen passten sich nicht an die Notwendigkeiten des Arbeitsmarktes an. Es wurde nur so viel gearbeitet, bis genug Geld als Ergänzung zur bäuerlichen Subsistenz vorhanden war. Die Bäuer_innen wehrten sich in Guerillakriegen, wie etwa die „maoistischen“ Naxaliten in Indien. Die „Grüne Revolution“, die Einführung von „Hochertragssorten“, eingesetzt zur „Bekämpfung des Hungers“ industrialisierte die Landwirtschaft mit den negativen Folgen wie massivem Einsatz von Düngemitteln, Umweltzerstörung und Monokulturen. Ein (Neben)effekt wird besonders betont: die Vertreibung der Bäuer_innen von ihren kleinen Landwirtschaften (die „Grüne Revolution“ gegen die „Rote Revolution“). Diese Vertreibung der Bäuer_innen von ihrem Land ist mit ein Grund für die Hungerkatastrophen, die in den 1970ern die Medien füllten. Hatten bis dahin postkoloniale Regime noch versucht, reformerische Entwicklungen zu fördern und damit eine „konsumierende Klasse“ der Arbeiter_innen und Bäuer_innen, so wird das jetzt durch Diktaturen mit Unterstützung der Multinationalen Konzerne beendet. Die „neue internationale Arbeitsteilung“ bedeutete die Errichtung von Freien Produktionszonen und Weltmarktfabriken, in denen weder soziale noch demokratische Rechte gelten. Inseln der Billigarbeit, oft hauptsächlich Frauen und Kinder, schwimmen in einem Meer der Armut. Viele der von ihrem Boden Vertriebenen finden sich in den Slums wieder und überleben dort durch die Zunahme des informellen Sektors: „Kleinstproduzenten, Besitzern von Kleinläden, fliegenden Händlern und Gelegenheitsarbeitern, kurz den ärmsten aller unterdrückten sozialen Schichten“ (AUTONOMIE Nr. 10, S. 49). Diese Strukturen und die Arbeit der Frauen machen es möglich mit den geringen Löhnen zu überleben. „Die Klasse der Nicht-Arbeiter“ (Autonomie Nr 10, S. 46ff) hat ihre Moral vom Land mitgebracht, eine „moralische Ökonomie“ für gerechte Preise der (Über)Lebensmittel, sind in den Hungerrevolten häufiger Konsument_innen aktiv und nicht Produzent_innen. Die Kampfformen verändern sich. War die Kampfform für die bäuerliche Bevölkerung der Guerillakrieg, so sind es jetzt Aufstände in den Slums, die sich an Preiserhöhungen entzünden. Diese IWF-Revolten richten sich sowohl gegen den Imperialismus in Gestalt des IWF wie auch gegen die eigenen Eliten. Gegen diese Unruhen sowohl durch ländliche Guerilla wie Slumrevolten wird Bevölkerungspolitik eingesetzt: „Entwicklung“ bedeutet die Verhinderung hoher Geburtenraten, nicht geborene Kinder sind billiger als militärische Gewalt gegen „überflüssige“ Unterklassen. Bevölkerungspolitik wird so in Überschneidung mit feministischen Aktivitäten zu einem zentralen Angriffspunkt autonomer Politik. Ausgehend von dieser Analyse und beflügelt durch die europäischen Revolten und militanten Auseinandersetzungen 1980 / 1981 ist das sozialrevolutionär antiimperialistische Konzept der AUTONOMIE (Nr. 10, S. 60ff) die Gleichzeitigkeit einer neuen Massenarmut von prekär Lebenden in den Metropolen und den Aufständen in den drei Kontinenten. Die Unterklassen des globalen Südens haben ohne Angriffe in den Metropolen keine Chance, die sich in den Unruhen in London, Zürich, Amsterdam und auch Berlin bereits abzeichnete. Der Kongress von IWF und Weltbank wurde im September 1988 in Berlin zu einer drei Jahre andauernden Kampagne der Autonomen genutzt. Nicht mehr der Sieg nationaler Befreiungsbewegungen steht auf der Agenda, sondern Unterdrückung und Ausbeutung durch transnationale Konzerne und internationale Organisationen[3]. Die Bekämpfung der Gen- und Reproduktionstechnologie wird als Teil des antiimperialistischen Kampfes gesehen. So wendet sich die Rote Zora gegen den Zwang im Süden, Kinder zu verhindern. Als der amerikanische Präsident Ronald Reagan in der Bundesrepublik Mittelstreckenraketen aufstellen lässt (die NATO-Nachrüstung), entsteht dagegen die (zahlenmäßig) stärkste Bewegung, die es je in Europa gegeben hat. Die (vielleicht noch nicht) Autonomen trugen die militanten Auseinandersetzungen gegen Rekrutenvereidigungen etwa im Mai 1980 in Bremen und sahen sich als Teil dieser Anti-Kriegs-Bewegung. Sie beteiligten sich, obwohl versucht wurde, sie als „gewalttätig“ auszugrenzen. Ihre Kritik an der Friedensbewegung beschränkte sich nicht allein auf die kontrollierbare Zurücknahme von Aktionsformen, sondern setzt sich auch inhaltlich damit auseinander. Die Argumente werden in dem Papier der RZ „Krieg – Krise – Friedensbewegung“ am deutlichsten ausgebreitet, wahrscheinlich das meist gelesene Papier der RZ: die Aufrüstung mit Raketen wird kritisiert, während die Friedensbewegung die realen „heißen“ Kriege des Imperialismus ignoriert, wie von Großbritannien um die Falklandinseln / Malvinas. Die Bedrohung werde nur abstrakt gesehen, in Europa dominierten apokalyptische Vernichtungsfantasien (ID-Archiv 1993, S. 467f). Antiamerikanische und neutralistische Positionen wurden in Frage gestellt[4], wie sie in Teilen der Friedensbewegung existieren (472ff). Im selben Aufsatz betonen sie auch den „Bankrott nationaler Entwicklungsmodelle“ und ihre Einpassung in das ökonomisch-imperialistische Weltsystem: „Der forcierte Nationalismus, dieses zweischneidige Erbe der Entkolonialisierung, der so lange nationale Eliten und Unterklassen zusammengeschmiedet hat, wird als Klammer offensichtlich brüchig.“ (S. 476) Es wird bereits die Fruchtlosigkeit der „Etappentheorie“ konstatiert, an der sich manche Antiimperialist_innen weiter orientierten. Nach der deutschen Einheit wurde der Internationalismus von einigen ganz verworfen, andere reden nicht mehr darüber. Es herrscht die Auffassung vor, dass der Antiimperialismus der 1980er unkritisch gewesen wäre. „Und damals wurde, wie so oft, wenn bei uns eine richtige Kritik geübt wird, das ganze über Bord geworfen. Um diese Fehler nicht mehr zu machen, um nichts falsch zu machen, hat man lieber überhaupt keine internationalistische Politik mehr gemacht. Irgendwie hat das dazu geführt, dass für viele Deutschland zum Nabel der Welt wurde,“ betont eine interviewte Internationalistin in AK Wantok (2010, S. 278). Als Antwort auf die rassistischen Mobilisierungen wird von Teilen der Szene Antirassismus zum Betätigungsfeld, ohne darauf einzugehen, dass dieser aus dem Antiimperialismus entstanden ist und und sich nicht von der internationalen Aufteilung der Welt abtrennen lässt. Antirassismus „Rassismus sei bis in die 1980er kein Thema gewesen, wie Ingrid Strobl 1992 schrieb, muss ebenso wie die Kritik, es habe keine Migrant/innen in den Reihen der Linken gegeben und der theoretische Austausch mit vom Rassismus Betroffenen habe gefehlt, wovon Klaus Viehmann im selben Jahr ausging, relativiert werden.“ (Seibert 2008, S. 14) Von den Migrant_innen in Zusammenhang mit den deutschen Operaist_innen war schon die Rede, sowohl in den Betriebsgruppen wie im Häuserkampf in Frankfurt der 1970er. Antirassistische Kämpfe spielten schon vor 1968 eine Rolle, wenn auch nicht so bezeichnet, wie z.B. die Kampagnen gegen den rassistischen Film „Africa Addio“ (Seibert 2008, S. 35ff) In den 1960ern und 1970ern wurde gegen Auslieferungen von Genoss_innen an Griechenland, in den Iran, in arabische Staaten, nach Lateinamerika und nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 protestiert. Traurige Berühmtheit erlangte der Tod von Cemal Altun am 30. August 1983, der sich aus dem Fenster des Verwaltungsgerichtes in Berlin stürzte. Er hätte als Linker an die Türkei ausgeliefert werden sollen (Seibert 2008, S. 181ff) Der Unterschied zu späteren Kämpfen mit Flüchtlingen war, dass es damals Genoss_innen waren, für die sich die Bewegungen einsetzten. Nicht nur die Diktaturen, sondern auch die massiven ökonomischen Einbrüche im globalen Süden führten in den 1980ern zu einer Zunahme von Flüchtlingen. Die Regierungen in Europa begannen die Bedingungen für diese zu erschweren: Visumzwang, Arbeitsverbote, Sachleistungen statt Geld und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit. So begann eine autonome Flüchtlingspolitik, die die von Unterstützer_innenkreisen aus kirchlichen und sozialen Bereichen ergänzte. Die RZ schalteten sich bereits 1986 mit einem Papier („Zorn Extra“) ein, der ihre antiimperialistische Motivation begründete: Sie sehen die Flüchtlingsarbeit als „konkreten Antimperialismus“. „Die Migrationsbewegungen [...] sind Ausdruck und Folge der Zerstörungen, mit denen der Imperialismus die Herkunftsländer überzieht; ihre Anzahl ist die Kehrseite des tatsächlich erreichten Grades an kapitalistischer Durchdringung.“ (ID-Archiv 1993, S. 539) Die Maßnahmen gegen die Flüchtlinge seien solche, die später arbeitslose Jugendliche und ausgesteuerte Proleten betreffen werde (S. 540). „Es ist das gleiche imperialistische System, das die Menschen dort vertreibt, sie hier in Lager sperrt und ihnen als Sozialpolitik gegenüber tritt.“ (S. 542) Eine Revolutionäre Zelle kritisierte 1992 ihren damaligen Aktivismus als gescheitert („Das Ende unserer Politik“ Jänner 1992, ID-Archiv S. 35ff). Sie hätten sich damals in der Flüchtlingsarbeit engagiert, um die Politik der Autonomen um die antirassistische Komponente zu erweitern. Eine gesamtgesellschaftliche Perspektive sollte eingebracht werden. Es sei ihnen nicht gelungen, daraus eine breitere Kampagne zu entwickeln, weil sie „Flüchtlingspolitik ohne Flüchtlinge“ gemacht hätten (S. 41). Aufgrund der Verschärfung der staatlichen Flüchtlings- und Ausländerpolitik und den pogromartigen Übergriffe (der Auftakt mit den Ausschreitungen in Hoyerswerda war im September 1991 schon gemacht) hätte die radikale Linke endlich die Brisanz des Themas erkannt. Die Gesetze gegen Migrant_innen und Flüchtlinge wurden scheibchenweise verschärft und nach der deutschen Einigung eskalierte diese Entwicklung durch rechtsradikale Anschläge und pogromartige Mobilisierungen. Die Ermordung von Ausländer_innen und Menschen, die nicht ins rechtsradikale Bild passten wurden zu einem weit verbreiteten Phänomen. Heime für Asylwerber_innen wurden angezündet und forderten Todesopfer: drei am 23. November 1992 in Mölln, fünf Tote am 29. Mai 1993 in Solingen, zehn Tote am 18. Jänner 1996 in Lübeck. Noch schockierender waren nicht die rassistischen Taten rechtsradikaler Einzeltäter, sondern die Belagerung von Wohnheimen von „Ausländer_innen“ durch tausende Menschen, meist Anrainer_innen. Von 17. bis 20. September 1991 griffen Bewohner_innen und Sympathisant_innen von Neonazis in Hoyerswerda zuerst ein Vertragsarbeiter_innenheim und schließlich ein Flüchtlingsheim an. Die Migrant_innen wurden abtransportiert und machten Hoyerswerda zur „ersten ausländerfreien Stadt“ Deutschlands. Dieser Erfolg provozierte eine Reihe weiterer Ausschreitungen. In Mannheim-Schönau demonstrierten Ende Mai 1992 Anwohner_innen gegen Flüchtlinge. Vom 22. bis zum 26. August 1992 wurde das Regenbogenhaus in Rostock-Lichtenhagen von Tausenden belagert und angezündet. Nur durch Glück konnten sich hunderte Menschen über das Dach eines Nachbarhauses retten. Die Polizei griff erst mit großer Verzögerung ein und ging dabei konsequenter gegen Antifaschist_innen vor, die die vietnamesischen Vertragsarbeiter_innen schützen wollten. Dieses Pogrom bestätigte die Regierung darin, das Asylrecht in Deutschland endlich abzuschaffen (als wichtigste Maßnahme gilt die Drittstaatenregel, nur im Ankunftsland darf ein Asylantrag gestellt werden). Das konnte auch eine Demonstration von Zehntausenden in Bonn nicht verhindern. Weil der Regierung der rechtsradikale Terror aus dem Ruder lief und das internationale Image litt, wurden Rechtsradikale doch verfolgt. Antirassistische Lichterketten in ganz Deutschland traten 1992 ausdrücklich gemäßigt gegen die offene „Ausländerfeindlichkeit“ auf. Das Asylrecht konnte weiter drastisch eingeschränkt werden, von manchen als Abschaffung bezeichnet. Besonders deutlich war das in Österreich, wo die Sozialdemokratie zum dortigen Lichtermeer „Gesetze statt Ausländerhetze“ plakatierte. Ein staatlich angeordneter Rassismus wurde als Alternative gegen eine unkontrollierte Fremdenfeindlichkeit gesetzt (vgl. Foltin 2004, S. 228f). Antirassismus wurde ein wichtiges Betätigungsfeld der autonomen Bewegung. Neben öffentlichkeitswirksamen Aktionen wurden Grenzcamps organisiert, um die Überwachung der Grenzen zu beobachten und wenn möglich zu stören. Ergänzt wurde das durch Workshops und Diskussionen. Das erste Grenzcamp im September 1992 in Rechnitz, im Süden Österreichs, behinderte den Einsatz des österreichischen Bundesheeres an der Grenze (vgl. Foltin 2004, S. 227). Ein weiteres folgte im August 1998 in Forchtenstein, an der damaligen Schengengrenze zu Ungarn. In Deutschland wurde das erste Grenzcamp 1998 in Görlitz an der polnischen Grenze „aus der feministischen, autonomen Bewegung von und für FrauenLesben(Transgender) organisiert. Die weiteren sechs Grenzcamps wurden unabhängig davon aus der gemischtgeschlechtlichen autonomen Bewegung organisiert.“ (Wiesental 2011, S. 78f) Nach der EU-Erweiterung um eine Reihe osteuropäischer Staaten verlagerte sich die rassistische Überwachung immer öfter ins Innere und an die Grenzen Europas und des Mittelmeeres. Autonome FrauenLesben versuchten immer wieder die spezielle Situation von weiblichen Flüchtlingen einzubringen, in den meisten Camps wurden auch eigene Bereiche für FrauenLesben und später auch Transgender abgegrenzt (Groß 1997, S. 190f). Immer wieder tauchen in den Camps Probleme zwischen (privilegierten) Mehrheitsdeutschen und Flüchtlingen oder Migrant_innen auf. „Paternalismus heißt für mich auch, Gleichheiten zwischen Menschen herzustellen, die dann doch keine sind.“ (cross the border 1999, S. 71) Das wird in einer Diskussion von Aktivist_innen von „Kein Mensch ist illegal“ geäußert. Dazu wurden mögliche Änderungen angesprochen (Wiesental 2011, S. 84f): Die Sprache muss eine sein, in denen die Unterstützer_innen nicht privilegiert sind, die ungleiche Ressourcenverteilung muss angesprochen werden wie auch die Möglichkeiten, die weiß-deutsche Aktivist_innen im Vergleich zu Flüchtlingen und Migrant_innen haben, nämlich dass sie in ihren Alltag zurückkehren können. Festgeschriebene Bilder, was Status, Klasse, Bildung, Hautfarbe, Religion usw betrifft, müssen in Frage gestellt werden wie die Weiß-deutsche Dominanz und ein (oft unbewusster) Eurozentrismus. Wirkliche Lösungen außer, dass darüber geredet wird, wurde aber nicht gefunden. Die theoretischen Diskussionen, die in den USA durch die Bürger_innenrechtsbewegung und Black Power ausgelöst worden waren und die Solidarität und der Aktivismus mit Schwarzen GIs in Deutschland (vgl. Seibert 2008, S. 99ff) hatten vorerst keinen direkten Einfluss auf die analytische Betrachtungsweise des Rassismus. Erst in den 1980ern griffen Feministinnen die Diskussionen Schwarzer Frauen aus den USA auf und setzten sich mit der Situation von Migrantinnen auseinander. Die Kritik an einem Weißen „Mittelklassefeminismus“ sollte die mehrheitsdeutsche, männliche (und heterosexuelle) Linke allerdings genauso treffen. In den 1990ern (mit dem Papier „Drei zu Eins) erreichte die Diskussion über die vielfache Unterdrückung durch „Klassismus, Sexismus und Rassismus“ die autonome Szene. Die postkoloniale Theorie bot eine Einordnung dieser Fragen, wenn auch keine Lösung (das folgende nach Grimm 1997). Die Postcolonial Studies entstanden aus den Cultural Studies, die sich hauptsächlich mit Kultur als Alltagspraxis beschäftigen. So analysiert Edward Said Dokumente, die zeigen, dass die tatsächliche Beschaffenheit des „Orients“ nichts mit der Realität zu tun hat, sondern von den westlichen Forscher_innen und Beobachter_innen konstruiert wurde. Gayatri Spivak setzte den Schwerpunkt darauf, dass die „epistemische Gewalt“ des Westens die „Subalternen“ zum Schweigen bringe. Sie finden nicht nur keine Repräsentation, sondern sie werden auch nicht dargestellt. Selbst wenn sie handelten, werde das mit einem eurozentristischen Blick bewertet[5]. Homi Bhabha versucht Möglichkeiten des Widerstands außerhalb der kolonialen Autorität und der stummen Verdrängung indigener Traditionen zu finden, indem er das Konzept der „Hybridisierung“ einführt. Diese Auflösung kultureller Identitäten mache die Migrant_innen zu revolutionären Subjekten, die sich schließlich nicht mehr in rassistische oder nationalistische Diskurse einschreiben müssen (S. 52f). Für die Bewegungen gehe es um die kulturellen Dimensionen des Kolonialismus / Imperialismus. In der Geschichte wird aufgezeigt, dass Dichotomien wie Demokratie-Despotie, zivilisiert-primitiv, fortschrittlich-rückschrittlich, rational-irrational immer wieder angewendet werden, um die Unterschiede zwischen Kolonisator_innen und Kolonisierten festzumachen[6]. Ähnliche Konstruktionen können im aktuellen Rassismus immer wieder festgestellt werden, etwa wenn es um die Rolle des Islams und des Westens geht, häufig wird die „primitive, rückschrittliche, irrationale Frau unter dem Diktat des muslimischen Mannes“ an der Sichtbarkeit des Kopftuches festgemacht (vgl. Müller-Uri 2014). Herrschaftsstrukturen drücken sich nicht nur in Kriegen und Unterdrückung von Menschen des globalen Südens aus, sondern im konkreten Rassismus auf der Straße und in den Institutionen, den immer schärfer werdenden staatlichen Maßnahmen und im Ausbau der Grenzbefestigungen der „Festung Europa“. Migration verläuft in einem Spannungsfeld zwischen dem rassistischen Diskurs in der Bevölkerung, in den Medien und in der Politik, dem Versuch der staatlichen Kontrolle der Migration zwischen Abschottung und Regulierung, die bis hin zu tödlichen Maßnahmen sowohl an den Grenzen, in den Gefängnissen und auf der Straße reicht, sowie der Aktivität von Antirassist_innen aus der Mehrheitsbevölkerung, die sich zwischen Paternalismus („moralischer Antirassismus“) und Zusammenarbeit mit sich wehrenden Flüchtlingen und Migrant_innen bewegt. Letzteres ist Thema und Aktivität der Autonomen. „Die Entwicklung sozialer Gegenmacht können wir uns nur als international zusammengesetzte und orientierte Bewegung vorstellen, an deren Vernetzung wir mitknüpfen wollen.“ (AG Grauwacke 2003, S. 316). Entscheidend ist aber die Tätigkeit der Migrant_innen zur Überwindung von Grenzen und zum Leben und Überleben in Europa. Die Bewegung der Menschen findet unabhängig von den Kontrollfaktoren statt und sehr oft ist sie unauffällig und beiläufig und gerade aus diesem Grund erfolgreich (vgl. Bojadžijev 2008, S. 120). Das wird als „Autonomie der Migration“ diskutiert, die Unabhängigkeit der Bewegung trotz Rassismus und Abgrenzungs- und Unterdrückungsmaßnahmen. Meisten sind die Aktivitäten unsichtbar, aber immer wieder gibt es spektakuläre Aktionen, die Bleiberecht fordern oder nur einfache Menschenrechte. Der Widerstand geht von der Überquerung der Grenzen über Besetzungsaktionen bis hin zu Hungerstreiks in den Gefängnissen. Migrant_innen versuchen auf vielen Wegen dorthin zu kommen, wo sie bessere Lebenschancen vermuten und wo sie bereits Menschen kennen. Durch die immer stärkere Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheiten in und um die Festung Europa sind sie immer mehr von Fluchthelfer_innen („Schlepper_innen“) abhängig. Gesetze und Verordnungen werden erlassen, um die verwandtschaftlichen und sozialen Netze zu zerreißen und die Migrant_innen möglichst zu vereinzeln. Zeitweise nimmt das die gewaltsame Form eines Krieges gegen Flüchtlinge an (mit tausenden Toten nicht nur im Mittelmeer). Das Schengener Abkommen von 1995, das die Bewegungsfreiheit in der Europäischen Union regelt, bedeutet für Migrant_innen, dass sie selbst dann nicht mehr relativ sicher sein können, wenn sie die Grenze überquert haben, sondern dass immer mehr „inländische“ Räume wie Bahnhöfe oder Bundesstraßen zu Grenzräumen umdefiniert werden und Kontrollen unterliegen. Im September und Oktober 2005 stürmten afrikanische Migrant_innen erstmals medial sichtbar die Grenzzäune zwischen Marokko und den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, einige Hundert waren erfolgreich, mindestens 14 starben an den Zäunen, hunderte wurden verletzt. Viele wurden von der marokkanischen Polizei in die Sahara deportiert und verdursteten dort (vgl. Milborn 2006. „Gestürmte Festung Europa“). So sichtbar war das Sterben an den Grenzen der „Festung Europa“ bisher noch nie. Inzwischen gehören die Toten dort und im Mittelmeer schon zum Alltag, obwohl versucht wird, die Überwachung und das Auffangen der Migrant_innen auf den afrikanischen Kontinent zu verlagern. Auch wenn viele Auseinandersetzungen unsichtbar stattfinden, es gibt sie, ob an den südlichen Grenzen Europas, in Transitlagern wie Calais oder in den Städten. 2012 beginnt eine bisher beispiellose Welle von Flüchtlingsprotesten in Deutschland. Nach dem Selbstmord eines iranischen Asylwerbers wurde die besonders harte Politik Bayerns in die Öffentlichkeit getragen. Was mit einem Hungerstreik von Flüchtlingen in Würzburg im März anfing, breitete sich im Sommer und Herbst auf andere Städte aus. Ein Angriffspunkt war die Residenzpflicht, die es Flüchtlingen nicht erlaubt, innerhalb von Deutschland zu reisen. Im Herbst marschierten Flüchtlinge von Würzburg nach Berlin, dort wurde auf dem Oranienplatz ein Flüchtlingscamp errichtet und die Gerhardt-Hauptmann-Schule besetzt. Im Mai 2013 fordert eine Gruppe „Lampedusa[7] in Hamburg“ ein Bleiberecht und führte Aktionen durch. Berlin und Hamburg sind aber nur die Spitze eines Eisberges von Protesten, ähnliches ereignet sich in vielen Städten Europas, so das Refugee Protest Camp vor der Votivkirche in Wien. Ende Juni / Anfang Juli will die Stadtteilregierung der Grünen 2014 in Berlin die Gerhardt-Hauptmann-Schule räumen lassen, muss dieses Vorhaben aufgrund der breiten Proteste durch Anrainer_innen, Schüler_innen und Antirassist_innen aufgeben. Bei allen Demonstrationen der um 2000 entstehenden „Antiglobalisierungsbewegung“ (oder „globale Protestbewegung oder „Bewegung der Bewegungen“) bildete die Kritik an den Migrationsregimen einen wichtigen Teil, überall beteiligten sich Vertreter_innen des globalen Südens, aber auch Flüchtlinge, Migrant_innen und ihre Unterstützer_innen. Globale Protestbewegung Bei einem Großteil der autonomen Szene in den 1990ern scheint der Internationalismus verschwunden zu sein. Auf Grund des Falls der Mauer 1989 und der deutschen Einheit 1990 stehen andere Themen im Zentrum: Antirassismus und noch mehr Antifaschismus. Es hatte aber auch damit zu tun, dass in den 1990ern die Feinde des Imperialismus, mit denen sich die Öffentlichkeit auseinandersetzen musste, nicht die „Guten“ waren wie der Irak Saddam Husseins oder das Jugoslawien von Slobodan Milosevic. Bei einem Teil von ihnen führte das bis hin zur Unterstützung militärischer Aktionen des „Westens“[8]. International gesehen war das anders. Die globale Protestbewegung trat zwar erst mit den Krawallen von Seattle im November 1999 an die Öffentlichkeit, hat aber eine Vorgeschichte, wozu Aufstände in Venezuela, Bolivien und Ecuador gehören, die großen Streiks in Frankreich 1994 und 1995 gegen die Pensionsreformen, die Überwindung des italienischen Winters in den 1980ern durch eine Bewegung der Studierenden, dem Kampf von Migrant_innen und vieler „Sozialer Zentren“ in ganz Italien. Und einiges mehr. Als direkte Vorgeschichte gelten die Zapatist_innen in Chiapas, dem südlichsten Bundesstaats Mexikos. Als am 1. Jänner 1994 das North American Free Trade Agreement (NAFTA, Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) zwischen Kanada, den USA und Mexiko in Kraft trat, begann in Chiapas die bewaffnete Erhebung durch das Ejercito Zapatista de Liberación National (EZLN, Zapatistische Armee der nationalen Befreiung). Einige Städte wurden besetzt, Land und Freiheit sowie mehr Rechte für die indigene Bevölkerung gefordert. Nach zehn Tagen Gegenoffensive der mexikanischen Armee und dem Rückzug der EZLN in die Wälder wurde auf Druck der Öffentlichkeit ein Waffenstillstand durchgesetzt. Seit dem existieren die selbstverwalteten Dörfer und die Zapatist_innen machen immer wieder mit politischen Interventionen auf sich aufmerksam. Die Zapatist_innen lehnen im Gegensatz zu konventionellen Guerillas die zentrale Rolle des bewaffneten Kampfes ab, sie ordnen ihn der Organisation der Gemeinden unter. Die EZLN und der Subcomandante verstehen sich als abhängig von der Selbstorganisation in den Dörfern (den „Räten der guten Regierung“). In den Äußerungen nach außen beeinflussen libertäre Elemente wie das „gehorchende Befehlen“ (Basisdemokratie und imperatives Mandat) und „Fragend gehen wir voran“, das sich gegen vorgegebene Revolutionskonzepte richtet. Eine Machtübernahme im Staat wird abgelehnt. Der „Sieg“ war nur möglich, weil internationale Kommunikationskanäle genutzt wurden, nicht nur das Internet, sondern auch die Art der Sprache des Subcomandante, poetisch statt agitatorisch und proklamierend. Internationale Treffen 1996 in Chiapas und 1997 in Spanien wurden zur Geburtsstunde von peoples global action (PGA). PGA ist ein Netzwerk von Gruppen wie den road protesters aus Großbritannien oder den Tute Bianche aus Italien, aber auch von Organisationen aus dem globalen Süden wie die Besetzer_innen der brasilianischen Bäuer_innenorganisation MST oder organisierten Kleinbäuer_innen aus Indien und Südkorea. Obwohl bei den Protesten gegen die Gipfel der Herrschenden viele aus dem globalen Süden stammten, wurde das meist von den Medien ignoriert (Habermann 2002, S. 145ff). PGA zieht eine konfrontative Haltung der Lobbyarbeit vor, zielt auf (gewaltlosen) zivilen Ungehorsam und vertritt eine dezentrale und autonome Organisationsphilosophie. Zur zweiten WTO-Konferenz in Genf trat diese globale Allianz das erste Mal mit einem globalen Aktionstag an die Öffentlichkeit. In Genf demonstrierten an die 10.000 Menschen, parallel dazu fanden in sechzig Ländern Aktionen dazu statt, allein in Indien über hundert. Ab dem Weltwirtschaftsgipfel in Köln am 18. Juni 1999 (J18, die Kürzel drücken das Datum aus) bestimmten in den nächsten Jahren Aktionstage den Rhythmus der globalen Protestbewegung. Wobei PGA immer nur ein Teil verschiedener Bündnisse war (vgl. Habermann 2002). Zur Vorgeschichte gehören aber auch die internationalen Demonstrationen gegen den IWF 1988 in Berlin und gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Köln. Der internationale Durchbruch gelang durch die Proteste gegen die WTO-Tagung in Seattle Ende November 1999. Die Konferenz konnte gestört werden, Delegierte erreichten die Tagungsorte nicht und saßen in ihren Hotels fest. Sowohl Gewerkschaftler_innen, die die regionale Wirtschaft vor den Einflüssen der Globalisierung schützen wollten wie auch ein breites Netzwerk ökologischer, kapitalismuskritischer oder antikapitalistischer, anarchistischer und autonomer Gruppen waren gemeinsam auf der Straße. Der verfrühte Abbruch der WTO-Veranstaltung erfolgte zwar wegen interner Streitigkeiten, aber es entwickelte sich der Mythos einer erfolgreichen Demonstration. Dass gerade dieses Ereignis so breit rezipiert wurde, hatte natürlich damit zu tun, dass es in der USA stattfand, im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Der Reigen der Demonstrationen wurde fortgesetzt, gegen eine Tagung von IMF und Weltbank in Washington im April 2000, gegen das WEF-Regional-Treffen in Melbourne in Australien im September 2000, gegen den EU-Gipfel in Nizza im Dezember 2000 und gegen die Tagung der OECD in Neapel im März 2001. Ende September 2000 fand die IWF / Weltbank-Tagung in Prag statt. Schließlich trafen sich jedes Jahr Unternehmer_innen und Politiker_innen in Davos, gegen die regelmäßig protestiert wurde. Spektakulär waren die Demonstrationen gegen den G-8-Gipfel in Genua im Juli 2001, ein Treffen der Staatschefs der acht „wichtigsten“ Nationen der Welt. Mehrere Hunderttausende protestierten, ein Demonstrant wurde von der Polizei erschossen. Seattle und Genua sind die Eckpunkte und Höhepunkte der globalen Protestbewegung. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York schien die Bewegung schwer getroffen, konnte aber bald wieder weltweite Bedeutung erlangen. Gegen den Krieg der USA gegen den Irak 2003 demonstrierten weltweit so viele und so international wie noch nie. Viele Autonome in Deutschland und Österreich ignorierten diese Friedensbewegung, manche bekämpften sie sogar, weil sie nicht die „richtige Linie“ vertrat. Viele Beteiligte der globalen Protestbewegung waren Anhänger_innen einer staatsorienterten Linken von Gewerkschaften und Parteien bis hin zu Attac als Kritikerin des „neoliberalen“ Kapitalismus. Trotzdem war das libertäre Spektrum immer sichtbar, anarchistisch in den USA, autonom in Europa. In letzterem antistaatlichen Spektrum dominierten drei Theorieströmungen (Holloway 2010, S. 186ff beschreibt diese als Zeichen nach der Krise der marxistischen Theorie): 1) der Anarchismus, 2) die Wertkritik, die von einem Widerspruch zwischen abstrakter und konkreter Arbeit ausgeht, trennt die Kämpfe (bei Holloway den Klassenkampf) vom Kapital ab 3) Und der (Post)Operaismus, der zu sehr die konkrete Arbeit und den Klassenkampf betont (als „Selbstverwertung“ eine Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist). Holloway will die Analyse des herrschenden Systems und den Aktivismus dagegen zusammen bringen (S. 190). Er geht zwar vom abstrakten Wert aus, sieht sich aber nicht als abgehobenen Intellektuellen, sondern als Teil der Bewegungen und versucht, die unterschiedlichen Kämpfe daraus zu entwickeln: das Tun gegen das Getane, von der ersten Empörung im „Schrei“ bis zu den vielen Widerständigkeiten gegen den Kapitalismus. Die Organisation der Macht hat eine bestimmte Form, weil das kapitalistische Weltsystem in den letzten Jahrzehnten ein anderes geworden ist: 1) Als Antwort auf die antiimperialistischen Kämpfe verlagerte das Kapital immer mehr Produktion in den globalen Süden, was sich in einer zunehmenden Stärke bestimmter Regionen, der (nicht nur) südlicher Staaten ausdrückt (BRICS – Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, aber auch Taiwan, Thailand oder manche Staaten Südamerikas). 2) Die Revolten von 1968 und danach forderten eine Umstrukturierung in den Metropolen in eine Richtung, die mit den Begriffen „Dienstleistungsgesellschaft“, „Wissensgesellschaft“ oder auch „Postfordismus“ nur teilweise bezeichnet werden kann. Die zentralen Industrien wurden reduziert und verlagert, die Städte entwickelten sich wieder zu (Dienstleistungs)Metropolen, die Trennung der Industrie von Wohn- und Freizeitbereich wird zumindest teilweise aufgehoben. 3) Ein ähnliches Produkt, wenn auch mit Verzögerung – nachdem die Revolutionen im Anschluss von 1968 durch Diktaturen niedergeschlagen wurden – war die Demokratisierung (beinahe) aller Regionen der Welt. In den 1980ern Lateinamerika, in den 1990ern Afrika und schließlich mit dem arabischen Frühling der Nahe und Mittlere Osten. Dass diese nicht nur zu emanzipatorischen Entwicklungen führte, sondern zu Bürgerkriegen (in Ruanda, in Somalia, in Jugoslawien etc) und imperialistischen Interventionen, die die Staaten auf einen westlichen Kapitalismus verpflichten sollen und dadurch oft noch mehr Chaos stiften (Afghanistan, Irak, in der letzten Zeit Libyen, Syrien und die Ukraine). 4) Und schließlich der Zusammenbruch der Sowjetunion, der der letzte Stein in der Produktion „Einer Welt“ war, von Hardt / Negri (2000) als Empire bezeichnet. Die Ungleichheit zwischen dem globalen Süden und den Zentren ist geblieben, hat sich aber verändert. Es gibt immer mehr Inseln des Reichtums in den armen Regionen, auch eine „Mittelklasse“, zugleich kehren die Slums in die Metropolen zurück. Eine Teilung zwischen biologisch oder kulturell begründeten „Rassen“ gibt es nicht mehr, trotzdem ist die Mehrheit der Schwarzen arm und die meisten Reichen sind Weiß. Die Welt teilt sich immer weniger in unterdrückende und unterdrückte Nationen, sondern in ein Leopardenfell aus Reich und Arm. Die Macht wird nicht mehr aus einem oder mehreren imperialistischen Nationalstaaten gebildet, sondern aus einem Netzwerk der Zusammenarbeit von Unternehmen, Manager_innen und Politiker_innen und internationaler Organisationen. Internationale Treffen wie in Davos werden aufgewertet wie auch Organisationen wie die Weltbank und der IWF. Die größte militärische Macht bleiben zwar die USA, aber sie agieren nur innerhalb der Machtausübung des Empire. Aber es ist nicht zufällig, dass die meisten militärischen Interventionen die USA durchführen und in einem kleineren Ausmaß einige Staaten der EU wie Frankreich. Die Nationalstaaten sind nicht verschwunden, sind aber nur Teil des Systems, oft nur noch dazu da, den demokratischen Konsens innerhalb bestimmter Regionen zu schaffen. Die Auseinandersetzungen um den G 8 Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 können als das Nachholen der internationalen Bewegungen in Deutschland gesehen werden. Die Demonstrationen gelten als großer Erfolg, auch wenn auf Grund der Krawalle in Rostock am Rande der Auftaktdemo eine Spaltung entlang der Gewaltfrage befürchtet wurde. Durch eine so genannte „Fünf-Finger-Taktik“ konnte das Tagungsgelände blockiert werden. Das antistaatliche, autonome Spektrum wurde durch zwei Netzwerke repräsentiert, die „Interventionistische Linke“ und das hauptsächlich aus antifaschistischen Gruppen bestehende „Ums Ganze“. Der Kapitalismus ist wieder zum Thema geworden, wenn auch vom Imperialismus noch wenig gesprochen wird. Die globale Protestbewegung ist inzwischen aus den Schlagzeilen verschwunden, ein Teil der Organisationen besteht weiter, etwa die Landlosenbewegung in Brasilien oder Via Campesina, ein Verband von Kleinbäuer_innen. Inzwischen ist ein Internationalismus neuer Bewegungen aufgetaucht. Rebellierende Studierende von Großbritannien über Chile bis hin zu Kalifornien beziehen sich aufeinander (vgl. Foltin 2011, S. 178ff) und in ganz Europa wurden nach der Räumung des Ungdomshuset in Kopenhagen Häuser besetzt[9]. Mit dem arabischen Frühling und einer Reihe von Bewegungen in vielen Weltregionen werden die internationalen Entwicklungen wieder mehr beachtet. Gerade jetzt scheinen aber konterrevolutionäre Entwicklungen zu dominieren, Kriege, Bürgerkriege, Interventionen und die Vorbereitung eines größeren Konfliktes zwischen dem Westen und Russland. Oder ist das ein Anfang eines Konfliktes zwischen dem „Westen“ und den sich wirtschaftlich entwickelnden Staaten im Süden (BRIC, Brasilien, Russland, Indien, China)? Literatur: affront (Hg.) (2013): Darum Feminismus! Diskussionen und Praxen.Münster: Unrast verlag. A.G. Grauwacke (2003): Autonome in Bewegung aus den ersten 23 Jahren. Berlin / Hamburg / Göttingen: Assoziation A. ak wantok (Hg.) (2010): Perspektiven Autonomer Politik. Münster: Unrast-Verlag. AUTONOMIE Neue Folge. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft Nr. 10 (1982): Antiimperialismus in den 80er Jahren. Hamburg. AUTONOMIE Neue Folge. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft Nr. 11 (1982): Imperialismus in den metropolen. Zwang zur Arbeit. Neue Armut. Hamburg. Cross the border (1999): kein mensch ist illegal. Ein Handbuch zu einer Kampagne. Berlin: ID-Verlag. Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich. Wien, edition grundrisse. Foltin, Robert (2011): Und wir bewegen uns noch. Zur jüngeren Geschichte sozialer Bewegungen in Österreich. Wien: Mandelbaum Verlag. Geronimo (1995): Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen. 4. überarbeitete Auflage. Berlin / Amsterdam: Edition ID-Archiv. Grimm, Sabine (1997): Postkoloniale Kritik. Edward Said, Gayatri C. Spivak, Homi K. Bhabha. In: Die Beute. Politik und Verbrechen, Sommer 1997, S. 48-61. Groß, Almut (1997): Autonome Frauen und FrauenLesben. In: Schultze / Gross (1997): Die Autonomen, S. 172-210. Habermann, Friederike (2002): Peoples Global Action: Für viele Welten! In pink, silber und bunt. In: Walk, Heike / Boehme, Nele: Globaler Widerstand, S. 143-156. Hardt, Michael / Negri, Antonio (2000): Empire. Cambridge (Mass): Harvard University Press. ID-Archiv im IISG Amsterdam (1993) (Zwei Bände): Die Früchte des Zorns. Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora. Berlin: Edition ID-Archiv. Interface (Hg) (2005): Widerstandsbewegungen. Antirassismus zwischen Alltag & Aktion.Berlin / Hamburg: Assoziation A. Müller-Uri, Fanny (2012): Antimuslimischer Rassismus.Wien: Mandelbaum Verlag. Schultze, Thomas / Gross, Almut (1997): Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der autonomen Bewegung. Hamburg: Konkret Literatur Verlag. Seibert, Niels (2008): Vergessene Proteste. Internationalismus und Antirassismus 1964 – 1983. Münster: Unrast. Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia+Kant. Walk, Heike / Boehme, Nele (2002a): Globaler Widerstand. Internationale Netzwerke auf der Suche nach Alternativen im globalen Kapitalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot. Wiesental, Ann (2011): Antirassistische Grenzcamps und feministische Perspektive. Aushandlungsprozesse entlang von verschränkten Machtverhältnissen. In: affront : Darum Feminismus!, S. 77-91. [1] Die PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) wurde als säkulare Organisation unterstützt, weil sie keinen Staat hatte. Für die Unterstützer_innen war der Kampf nicht nur gegen Israel gerichtet. Ein verbreiteter Spruch von damals war: „Der Kampf gegen Israel führt über den Sturz der reaktionären arabischen Regime.“ [2] Die AUTONOMIE Neue Folge bewertete die iranische Revolution ausgesprochen positiv und unterstützte die schließlich unterdrückte sozial-revolutionär-islamischen Strömung der Volksmudschaheddin.
[3] Die Störung dieses Kongresses wurde aus zwei Gründen ein Erfolg: 1) die Autonomen hatten in Berlin mit seinen Hausbesetzungen eine echte soziale Basis, sowohl was Infrastruktur betraf als auch militante Erfahrung. In anderen Städten mit hauptsächlich angereisten Demonstrant_innen hätte das nicht so gut funktioniert. 2) was aber noch wichtiger ist, auch ein „reformistisches“ Spektrum mobilisierte, es gab keine Bündnisse, aber zuverlässige Absprachen, sodass viele „gewaltfreie“ Aktionen stattfanden, von Straßentheater und Trommeln bis zum „Beklatschen von Bankern“ (vgl. Geronimo 192ff und Grauwacke 203ff). [4] Schon im Jänner 1981 wird im Revolutionären Zorn Nr. 6 aufgegriffen, dass die BRD als „US-Kolonie“ betrachtet werde, wo sie doch selbst aktiver Teil des Imperialismus ist (ID-Archiv 1993, S. 297f). Und im Papier „Beethoven gegen MacDonald“ betonen die RZ den Unterschied zwischen Antiimperialismus und Antiamerikanismus, weil Anschläge von Rechtsradikalen gegen US-Soldaten der Linken zugeordnet und zugetraut wurden (S. 364ff). [5] Dass die „Subalterne nicht sprechen kann“, bezieht sich bei Spivak auf eine 17-jährige Frau, die 1926 Selbstmord beging, weil sie es nicht schaffte, im Rahmen der antikolonialen Bewegung ein Attentat durchzuführen. Ihr Motiv blieb im Dunkeln, weil sich nur die koloniale und die antikoloniale Version durchsetzte: Sie habe sich umgebracht als Zeichen gegen die Kolonialherrschaft um die traditionellen Gebote zu befolgen. Obwohl sie selbst Spuren in eine andere Richtung legte, da sie sich während der „unreinen Phase“ der Menstruation tötete. „Sie hatte sich zu repräsentieren versucht, und zwar über die Selbstrepräsentation des Körpers, aber das war nicht durchgedrungen.“ (Spivak 2008, S. 145). Texte und Zeichen richten sich immer nach den vorherrschenden Interpretationen. [6] Die Zapatist_innen nutzten das Gefälle in solchen Wahrnehmungen, um die Verhältnisse auch symbolisch in Frage zu stellen. Warum ist der Sprecher Subcomandante Marcos ein Mann, ein Weißer und ein Abkömmling der Mittelklasse? Es wird ihm zugehört! Zugleich wird dieses Instrument der Repräsentativität durch die Anonymität der Maske in Frage gestellt. Marcos ist auch als Sprecher nur ein Symbol. Er ist kein Kommandant, sondern der Subcomandante. (vgl. Habermann 2002, S. 150). Im Mai 2014 hat er übrigens seine „Führungsrolle“ abgegeben. [7] Lampedusa ist eine italienische Mittelmeerinsel, auf der viele Flüchtlinge aus Afrika stranden. Viele Tote bleiben bei ihren Versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, zurück. [8] Am meisten betrifft das den deutschesten Teil der Linken, die „Antideutschen“. Sie sind nicht viele, aber ihr Einfluss reicht weit über ihre Sekten und Zirkel hinaus, zB. auf die große antifaschistische Szene. [9] In Österreich waren die „Internationalen Aktionstage für Besetzungen und autonome Räume“ für dortige Verhältnisse relativ erfolgreich, in Wien wurden Häuser besetzt und Aktionen gemacht, aber auch in Innsbruck, Linz, Graz und Salzburg (vgl. Foltin 2011, S. 136ff). Und die Bewegung der Studierenden vom Herbst 2009 baute auf internationaler Kommunikation auf und strahlte zumindest teilweise auf Europa aus (vgl. Foltin 2011, S. 186ff). |
|