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Frauen der Precarias a la deriva: Fragen, Illusionen, Schwärme, Meuten und Wüsten
Zu Untersuchung und Militanz der Precarias a la deriva

Übersetzt von Birgit Mennel

Der hier vorliegende Text der Precarias a la deriva versteht sich einerseits als Dokumentation dessen, was sich mit dem Namen der Precarias a la deriva und mit dem Prozess der Findung und Erfindung dieses Namens verbindet, andererseits aber auch als Dokumentation einer Suchbewegung nach Begriffen, die über diesen Namen hinausgreifen mögen – und zwar nicht einfach als theoretisch brauchbarer Begriffsbestand, sondern als aktualisierbare Möglichkeit einer bestimmten Praxis, einer militanten politischen Ethik. Der gemeinsame Name Precarias a la deriva existiert heute in vielerlei Hinsicht nicht mehr: Es werden keine Derives, keine Streifzüge mehr unter diesem Namen unternommen, es finden keine Zusammenkünfte mehr unter ihm statt und es werden keine neuen Texte mehr mit ihm gezeichnet. Manchmal gibt es Gründe, die Namen zu ändern und manchmal auch Gründe, die Begriffe zu ändern. Stets aber gibt es Gründe dafür, der Bildung und dem Zustandekommen von Namen und Begriffen Aufmerksamkeit zu schenken. So könnte dieser Text denn auch als Vorschlag verstanden werden, andere und neue Begriffe zu bilden und eine andere und neue Praxis zu entwickeln.

Dieser Text ist Teil des Buches Nociones comunes. Experiencias y ensayos entre investigación y militancia, Madrid: Traficantes de Sueños 2004, in dem die Erfahrungen unterschiedlicher Gruppen (Derive Approdi, CallCenterUntersuchung, Colectivo Situaciones etc.) mit militanter Untersuchung reflektiert werden. In seiner deutschen Übersetzung ist der Text Teil des Buches „Was ist dein Streik?“ Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität, in dem Texte der Precarias a la deriva sowie ein Anhang von Marta Malo de Molina versammelt sind. Das Buch erscheint im Herbst 2011 beim Verlag Turia + Kant in der Reihe Es kommt darauf an. Texte zur Theorie der politischen Praxis.

Dieser Text richtet ein Zoom auf einen konkret zurückgelegten Weg militanter Untersuchung (ihre Werkzeuge, Antriebskräfte und Gratwanderungen). Einen Weg, der bislang den Namen Precarias a la deriva trägt. Dieses Zoom erzählt vielleicht etwas über Untersuchung und Militanz sowie über die virtuose Bewegung von einer zur anderen und wieder zurück. Die Mehrzahl der hier aufgeworfenen Fragen ist inspiriert durch den Austausch mit anderen AutorInnen des Buches Nociones comunes[1] (im Speziellen mit dem Colectivo Situaciones und einem Compañero aus Barcelona), durch Gespräche im Rahmen des Workshops „Investigación militante, producción de pensamiento y transformación social“[2] sowie durch verschiedene Momente der – formellen und informellen – Diskussion im Kreis der Precarias a la deriva selbst. Tatsächlich sind wir von diesem Austausch und diesen Begegnungen derart durchtränkt, dass wir uns schon nicht mehr sicher sind, wem wir was gestohlen haben. Sehr wohl im Klaren sind wir uns jedenfalls darüber, wie sehr unser Schreiben und Denken durch all diese Zusammentreffen belebt wurde.

Fragend voranschreiten

Unsere FreundInnen vom Colectivo Situaciones sagen: „Nur wer sucht, der findet.“ Wir hatten eine Frage gefunden: „Was ist dein Streik?“ Weit über unsere jeweiligen Interpretationen der Welt hinaus organisierte sich unser gemeinsamer Werdegang um diese Frage herum. Daraus entstanden die Precarias a la deriva. Gewiss, wir kamen nicht nackt. Politische Lektüren und Erfahrungen (mit dem Operaismus, Feminismus, Hausbesetzungen, Antirassismus etc.) hatten sich dem Körper der einen oder anderen von uns eingeschrieben, wie auch eine ganze Reihe von Unzufriedenheiten: Unzufriedenheiten mit Organisationsformen, die sich auf eine (politische oder clanartige) Identität oder Ideologie stützten; mit einem politischen Handeln, das sich den Losungen eines Ernsts unterstellte, der den Fragen unseres fragmentierten Alltags auswich; mit öffentlichen Interventionsformen, deren Beweiskraft sich von Mal zu Mal mehr verbarg; mit fleischlosen, sich im Kreis drehenden und daher absolut harmlosen Erkenntnisdispositiven. Zweifellos waren es nicht allein diese gemeinsamen Unzufriedenheiten, die am Ausgang unseres Weges standen. Solche Unzufriedenheiten standen auch am Anfang vieler anderer Versuche militanter Untersuchung, die über die Vorreden dennoch nicht hinauskamen. Der Unterschied lag in der Stärke der einen Frage („Was ist dein Streik?“), die in einem bestimmten Augenblick (dem Generalstreik vom 20. Juni 2002) anhand einer konkreten Maßnahme (der Befragung von Streikposten) aufgeworfen wurde und die nicht nur einen heterogenen Zusammenhang von Frauen entstehen ließ, sondern diese Frauen unmittelbar an den Rand ihrer selbst versetzte.

Führen wir dies näher aus: Ein Streik ruft immer dazu auf, die Identität der ArbeiterInnen wieder im Zentrum zu verorten. Zweifellos ist der Streik ein sonderbarer Umtrieb für all jene, die eine auf den Kopf gestellte ArbeiterInnen-Identität haben: Pflegerinnen, Sexarbeiterinnen, Sozialarbeiterinnen, prekarisierte Freelancerinnen (Übersetzerinnen, Designerinnen, Journalistinnen, Forscherinnen), Professorinnen, Reinigungskräfte, Studentinnen, die bei Telepizza arbeiten, sowie alle Vagabundinnen und Umherstreunenden eines von zunehmender Pauperisierung geprägten Arbeitsmarkts. Wir können das, was die Arbeiter im klassischen Sinn des Wortes machen, immer nachahmen und die Augen davor verschließen, dass es nicht notwendigerweise bedeutet, die Welt anzuhalten oder die Produktion zu stören, wenn wir in unserer „atypischen“ (obwohl zunehmend die Mehrheit betreffenden) Position in der Netzwerkökonomie einige Stunden lang (und seien es auch 24) die Arme verschränken. Wir können die Praxis des Streiks aber auch ernst nehmen und sie als Herausforderung begreifen. Wir können fragen: „Was ist dein Streik?“

In dieser Frage verdichten sich drei Bewegungen. Eine erste der Äußerung: der Äußerung eines durchaus gegenwärtigen, zugleich philosophischen und praktischen Problems. Dieses Problem betrifft die Formen, in denen die Reproduktion der Ordnung materiell unterbrochen wird, und zwar ausgehend von der eigenen Position in den Kreisläufen der deregulierten, prekarisierten und flexibilisierten Stadtfabrik. Es betrifft die Frage nach der Umwandlung einer Bedingung in Angriffskraft und Vermögen zur Veränderung: Wie kann die Ordnung, in die ich eingeschrieben bin und die ich täglich nähre, durch eine Geste der Unterbrechung, des Sich-Entziehens destabilisiert werden? Was für eine Geste kann das sein? Kann sie kollektiv und öffentlich vollzogen werden? Des Weiteren eine zweite Bewegung der Situation: Die Frage „Was ist dein Streik?“ lädt dazu ein, von sich und vom eigenen Alltag auszugehen, an der Kreuzung zwischen Lebensbedingungen und Lebensform, zwischen sozioökonomischer Situation und Subjektivität, und mit dieser Frage jene alte feministische Praxis wieder aufzugreifen, die sich weigerte, das Persönliche vom Politischen, Mikro- von Makroebene sowie die Theorie von der Praxis zu trennen und dazu aufforderte, die Existenz zu politisieren, den eigenen Alltag zum Kampffeld zu machen.[3] Schließlich eine dritte Bewegung der Interpellation, der Anrede: Ja, es geht darum, von sich auszugehen, aber eben auch aus sich herauszugehen (aus einem Ich, das durch die soziale Atomisierung in enge Grenzen hineingezwängt und durch die professionalistische Ideologie angetrieben wird, aus sich selbst ein Projekt zu machen; aus einem Ich, das an den Flexibilitäts- und multiplen Präsenzanforderungen zerbricht). Aus sich herausgehen heißt, die Distanzen zu überwinden, die ein hyperfragmentierter, hypersegmentierter und hyperkompetitiver sozialer Raum allenthalben vervielfältigt; es bedeutet den Versuch, Fragen zu stellen und sich Fragen zu stellen, um zu sehen, was passiert, wie die Anrede das Ich und das Du affiziert, wenn aus dem Zwischenraum etwas auftaucht, das in beiden und darüber hinaus widerhallt.

So fügen wir uns also in das unsichere Territorium eines verlagerten Wir ein. Wir stehen nicht außerhalb jenes – von der Prekarisierung der Existenz durchzogenen – sozialen Feldes, in dem wir die Frage aufwerfen: Die Frage schließt uns unmittelbar und persönlich mit ein. Aber wir stehen auch nicht vollständig innerhalb dieses Feldes, insofern unsere Stimme die Stimmen all jener repräsentieren kann, die wir ansprechen. Wir sind drinnen und draußen, zwischen Tür und Angel, Verlagerte. Gibt es möglicherweise eine andere aktuelle Form, sich in einem durch Fragmentierung und Zerstreuung dermaßen geprägten Terrain zu verorten, wie es die Stadtfabrik im Zentrum der Weltökonomie ist? Eine andere Form der Platzierung in einem derart unendlich diversifizierten Raum-Zeit-Gefüge, in dem das Zusammentreffen nicht der Ausgangspunkt, sondern eine mühselige Herausforderung ist? Wir fragten uns, ob es nicht vielleicht eine Möglichkeit gäbe, sich in diesem Gefüge aufzuhalten, die nicht von der Anspannung derer durchsetzt ist, die sich alleine wissen und die zugleich von einem Begehren nach einem noch zu erfindenden Gemeinschaftlichen durchdrungen sind (und daher auf ein unsicheres Außen lauern).

So begann also unser Weg der militanten Untersuchung. Denn die Precarias a la deriva sind nicht mehr (und nicht weniger) als dies: Sie sind weder eine Gruppe noch ein Raum, sondern ein unsicheres Voranschreiten, das zudem jedes Mal aufs Neue unternommen werden muss. Der nächste Schritt ist niemals über den Augenblick eines eigensinnigen militanten Beharrens hinaus gesichert. Aber Militanz bekommt hier einen völlig neuen Sinn. Wir werden weiter unten darauf zurückkommen. Im Moment sagen wir nur Folgendes: In dem Maße, wie die Precarias a la deriva nicht mehr sind als ein Werdegang, lässt sich auch nur genealogisch erklären, worauf dieser beruht. Vergegenwärtigen wir uns also nochmals den Verlauf des begangenen Weges. Zur Frage „Was ist dein Streik?“ kommen rasch andere Fragen („Was ist deine Prekarität?“, „Was ist dein Krieg?“) sowie eine ganze Reihe von Prozeduren hinzu.

Erste Prozedur: die Derive[4]. Anstatt uns hinzusetzen und in statischer Manier zu sprechen, entscheiden wir uns dafür, uns zu bewegen, die Kreisläufe der urbanen Prekarisierung zu durchqueren, wie so oft in unserem Alltag, dieses Mal jedoch nicht alleine, sondern gemeinsam; wir erzählen uns gegenseitig von der Materialität unserer Prekaritäten, wir spüren ihre Markierungen im metropolitanen Raum auf, treffen auf beliebige andere und befragen diese. Die Derive – wenn sie denn eine Derive ist, wenn sie die Stadt wie ein gemeinsames Gelände zu betreten erlaubt, das wir zusammen erforschen, sprichwörtlich voranschreitend und (uns) fragend, wenn sie also funktioniert (was niemals durch eine „Technik“ gesichert ist, sondern in der Praxis gedacht und erprobt werden muss) – ermöglicht es, die Distanz zwischen dem Ich und dem Du, dem Wir und dem Sie, den Untersuchenden und den Untersuchten, der AktivistIn und „den Menschen“ zu durchbrechen; eine Distanz, die in standardisierten Interviewformen und anderen Techniken der qualitativen Sozialforschung oder auch im Agitprop, der Kommunikationsform der klassischen Militanz schlechthin, so leicht aufkommt. Die Derive, wenn sie denn eine Derive ist, mit ihren Elementen der Beweglichkeit, des ununterbrochenen Durchschreitens verschiedener Milieus, der subjektiven Ortsverlagerung, der Durchquerung einer ganzen Reihe von (sozialen, räumlichen und zeitlichen) Grenzen, die unseren Alltag bestimmen (wie jene, die die Arbeit vom Leben, einen Stadtteil vom anderen oder die vernetzte Zeitlichkeit einer Kommunikationsarbeiterin von der einer Hausarbeiterin und transnationalen Pflegerin trennen) – eine solche Derive also stellt ein Glück der Verfremdung her, das eine Entkoppelung der Formen der Wahrnehmung und des routinierten Austauschs erlaubt: Auf diese Weise können wir die Dinge und uns selbst mit neuen Augen sehen, von ihnen und uns selbst mit neuen Worten erzählen, mit Worten, die die normalisierte Wirklichkeit des „Alles ist schrecklich“ und „Rette sich, wer kann“ aushebeln. Genau dort, in diesem durch die Prozedur der Derive eröffneten Zeit-Raum, spielt sich mitunter ein Ereignis kollektiver Wahrnehmung ab, das die Subjektivitäten und das Feld der Möglichkeiten über das Möglichste hinaus öffnet.

Zweite Prozedur: Aufzeichnung und Erzählung. Von Beginn an begleiteten wir die Derive mit der audiovisuellen Aufzeichnung des Getanen, Gesehenen und Gesagten sowie mit Erzählungen. Die Idee bestand nicht so sehr darin, einem informativen Willen zu folgen und einen bestimmten Verlauf wiederzugeben („wir erzählen euch, was passierte, genauso wie es geschah“), sondern uns, mit einem propädeutisch-kommunikativen Willen ausgestattet, auf eine kollektive Arbeit an der Wahrnehmung einzulassen. Es ging darum, diese aus der besonderen Erfahrung der Derive entstandene singuläre Praxis, „sich einen Namen zu geben“, „von sich zu erzählen“, nämlich aus unserem prekarisierten Alltag, einer Ausarbeitung, Überarbeitung und Zirkulation zu öffnen (durch eine Website, ein Buch, ein Video sowie die öffentlichen Präsentationen dieser Materialien), um diese Praxis dank der erzielten Resonanzen und Verdichtungen in ein (teilweises, von bestimmten Seiten erfolgendes) „Uns-einen-Namen-Geben“ zu transformieren, das viele zu involvieren vermag. In diesem Sinn schrieben wir von Anfang an, dass es unsere Absicht war, „die Frage der Kommunikation ernst zu nehmen, nicht nur als Mittel zur Distribution, sondern auch als neuen politischen Ort, als politische Kompetenz und Ausgangsmaterie der Politik“[5]. Aber wenn wir von Kommunikation sprechen, spielen wir nicht auf jene fleischlose Sphäre der Kommunikation an, in der konsumierbare, verdauliche und austauschbare Zeichen und Losungsworte zirkulieren. Uns interessiert eine Kommunikation, deren Äußerungen am Boden bleiben, von einem spezifischen Ort aus erfolgen, mit den Lebensformen, aus denen sie hervorgehen, unauflöslich verbunden sind und als ProduzentInnen von Subjektivität und Imaginärem fungieren; uns interessiert eine Kommunikation, die nicht so sehr in der Lage ist, Zustimmung zu erzeugen, dafür aber zu erschüttern vermag und sich darauf versteht, in anderen, die ebenfalls suchen und sich Fragen stellen, unerwartete Resonanzen herzustellen; uns interessiert eine Kommunikation, die sich aus Differenten zusammensetzt und daher Produktion eines neuen Wirklichen am Rande des Existierenden ist.

Dritte Prozedur: Workshop und Versammlung. Nach (und nur nach) einer Reihe von Eintauchbewegungen in die vielschichtigen metropolitanen Kreisläufe, sowie im Ausgang von der Überarbeitung des Aufgezeichneten und Erzählten, war es jedes Mal wichtig, uns zu treffen, um uns in Ruhe an Einordnungen und Unterscheidungen ebenso zu versuchen wie am Aufspüren gemeinsamer Probleme, der Identifikation von Punkten, an denen eine Potenz greifbar wird, sowie schließlich – von diesen Punkten ausgehend – dem Aufstellen von Arbeitshypothesen. In den Workshops und Versammlungen haben die gemeinsamen Wahrnehmungen, die in den Derives entstanden waren und mittels Aufnahme und Erzählung überarbeitet wurden, mitunter seltenen Momenten eines kollektiven Denkens, einer gemeinsamen Produktion von Wahrheit Raum geschaffen: kleinen und zerbrechlichen kollektiven Ereignissen, in denen sich Sache und Name gleichzeitig ergeben und sich dem Körper einschreiben. Was bedeutet das? – Dass die Sache nun nicht mehr eine unendliche und ungreifbare Komplexität darstellt und der Name nicht länger in der bloßen Eitelkeit des Geredes oder auch im Mechanismus der Überdeterminierung und eines Erfassens der Sache verbleibt, sondern dass sich beide (Sache und Name) gleichzeitig ergeben und so eine mächtige gemeinsame Wirklichkeit erlangen, die uns subjektiv verändert. Dergestalt kann die Sequenz Derive-Aufzeichnung/Erzählung-Workshop/Versammlung als ein (bescheidenes, aber äußerst wertvolles) Handwerkszeug in Erscheinung treten, das der Wiederaneignung der Bedingungen für eine Wahrheitsproduktion dient.[6]

Zu welchen ungewissen Wahrheiten und Sicherheiten sind wir auf dem von den Precarias a la deriva zurückgelegten Weg gelangt? An erster Stelle steht ein Gemeinbegriff: jener der Prekarität, die nicht als Mangel, sondern als Ungewissheit in Bezug auf einen nachhaltigen Zugang zu jenen materiellen und immateriellen Ressourcen zu verstehen ist, die für die volle Lebensentfaltung eines Subjekts grundlegend sind; also Prekarität als ständige Bedrohung und Erpressung, die das soziale Band durchquert und zusammenschnürt; aber auch Prekarität als unbeugsames Begehren nach Mobilität und Flucht vor unerträglichen Verhältnissen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Prekarität heute also nicht so sehr ein Zustand, der einen bestimmten Bevölkerungsteil betrifft, sondern eine verallgemeinerte Tendenz zur Prekarisierung der Existenz, die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit angeht. An zweiter Stelle steht eine harte Bestätigung der Grenzen: jener Grenzen, die sich aufrichten durch Individualisierung und extreme Deregulierung der Arbeitsleistung, durch die damit einhergehenden Komponenten der Unterwürfigkeit und des mit dieser Einzug haltenden Wettbewerbsgeists sowie durch die Konstituierung der individuellen Identität im Zuge der persönlichen Selbstaktivierung um Projekte herum (ein Wanderunternehmen, eine berufliche Laufbahn, ein Kunstwerk, ein Heiratsplan). All diese Elemente werden von einer machtvollen Stratifikation des Arbeitsmarktes (entlang der Achsen von Geschlecht, Klasse, sozialer und nationaler Abstammung, Ethnie, Rassisierung, Sexualität, körperlicher Verfassung und Alter), von einer flexiblen, aber darum nicht weniger effizienten Segmentierung des metropolitanen Raums sowie von einer starken sozialen Fragmentierung begleitet und erneut in sie eingespeist. An dritter Stelle steht ein Punkt der Potenz: der Potenz, welche in unseren relationalen und kommunikativen Fähigkeiten sowie in unserer Befähigung zur Sorge liegt, die Waffen darstellen, um die Organisation jenes historisch den Frauen zugeschriebenen Kontinuums Sex-Aufmerksamkeit-Sorge zu subvertieren, das gegenwärtig eine Reihe von Neugestaltungen und Krisen erfährt und dadurch eine neue Zentralität erlangt (wir verstehen Krise hier nicht ausschließlich negativ, sondern vor allem als ambivalentes Moment einer Öffnung des Realen sowie, im gegebenen Fall, als Gelegenheit zur Neuerfindung von Lysistrata, Antigone und Sappho[7]).

Dennoch wäre es ein Fehler, zu glauben, dass diese Prozeduren der Schlüssel zu unserem Weg militanter Untersuchung sind, dass wir mit ihnen über die Zutaten für ein mögliches methodologisches Modellverfahren verfügen, die wir an andere weitergeben können, die ebenfalls auf der Suche sind. Im Gegenteil, der Schlüssel liegt in den tatsächlichen Operationen, die die Prozeduren hervorzubringen erlauben. Daher ergibt sich aus so vielen Erfahrungen militanter Untersuchung die Einsicht, dass Rezepte nicht weiterhelfen: Eine Derive kann etwas Banales oder aber ein wirkliches Ereignis sein, eine Abfolge von Derives kann am Ende eine Reihe von unzusammenhängenden Sprüngen bilden, die sich in Ekstase übersetzen, oder aber den wahrhaft virtuosen Vorgang einer kollektiven Kartographie des begangenen Geländes produzieren. Es kommt nicht darauf an, welches Instrument man wählt; vielmehr kommt es darauf an, zu erkennen, was ein bestimmtes Instrument produziert, welche Veränderungen es erzeugt, wohin es uns führt – also die Bahn zu erkennen, die sich auf der Grundlage seines wiederholten und abgewandelten Gebrauchs abzeichnet. Daher gilt es ebenso hervorzuheben, bis zu welchem Punkt sich – weit über die Prozeduren hinaus – die Precarias a la deriva um eine (vierfache) Suchbewegung sowie um eine Herausforderung herum artikulieren, die als Orientierungsprinzipien in einer Reise mit offenem Ende fungieren. Die Suche ist die nach Gemeinbegriffen in Bezug auf die Prekarisierung der Existenz, nach Singularitäten, die jenes verlagerte Wir zusammensetzen, nach Formen der Kooperation, des Widerstands und der Flucht, die jede von uns auf situierte Weise individuell oder kollektiv praktiziert, sowie nach möglichen Räumen des Zusammenkommens, die die Frage der Vielheit ernst nehmen. Die Herausforderung besteht darin, einen virtuosen Prozess zu eröffnen, in dem die Erkenntnisproduktion, die Produktion von Subjektivität und das Gewebe affektiv-sprachlicher Territorialitäten keine getrennten Momente sind, sondern vielmehr Teil einer einzigen Abfolge, die von einem durch und durch materiellen Begehren nach dem Gemeinsamen angetrieben wird, angesichts einer Situation, in der das Gemeinsame in Stücken liegt.

Schließlich hätten uns weder die Fragen noch die Prozeduren, weder die Suchbewegungen noch die Herausforderung irgendwohin geführt, hätte es nicht zum einen einen bestimmten Sinn gegeben, der im Kairós liegt, ein bestimmtes Vermögen, die Gelegenheit am Schopf zu packen, um an der Schwelle der Zeit die Würfel zu werfen; und zum anderen jene heterogene Kombination von unterschiedlichem Know-how, jene Kombination von relationalen Fähigkeiten und Techniken der im Laufe des Prozesses entfalteten Bewegung in unterschiedlichen, ausgebreiteten, miteinander verflochtenen Territorien, die ein variabler Zusammenschluss von Frauen ermöglicht hat.

Untersuchung und Organisation

Nach einem Prozess von eineinhalb Jahren, mit Derives, Workshops und Versammlungen im Rücken, einem Buch und einem Video in den Händen, einer Menge an Fotos, Dias, da und dort verstreuten audiovisuellen Bruchstücken und Erzählungen sowie einigen Handlungsversuchen und öffentlichen Präsentationen, die wir im Lauf der Zeit erprobt hatten, einem zerstreuten und gedrungenen Netzwerk, das sich um das Projekt herum diskontinuierlich, aber darum nicht weniger wirklich zusammenfügte, trieb uns eine Unruhe um, die der Konsistenz und Organisation galt. War das fragende Voranschreiten, an dem wir uns mit unserem Handwerkszeug versuchten, Netze zu spinnen imstande, die der Zentrifugalkraft der Stadtfabrik – mit ihrer Flut von Stimuli und deregulierten Zeitlichkeiten – standhalten konnten? Bis zu welchem Punkt war unser Verfahren der Aktionsforschung in der Lage, substanzielle Veränderungen in unseren prekarisierten Leben zu produzieren? Konnte diese wiederholte Verbindung von Äußerung, Situation und Anrede einen starken subjektiven Bruch im großen Zusammenhang des Wir erzeugen, einen Bruch, der uns einer gegenseitigen Verpflichtung näher bringt und der die Ambivalenz, die uns ausmacht, in eine bestimmte Richtung hin auflöst?[8] War es möglich, dass ein Weg der militanten Untersuchung das Problem lösen würde, das in der Herausbildung von Kristallisationspunkten rebellischer Netzwerke in einer Welt bestand, in der es schon ein voller Erfolg ist, sich auch nur wiederholt mit einer stabilen und größeren Gruppe von Menschen in ein und demselben Raum-Zeit-Gefüge zu treffen? Diese Fragen waren es, von denen wir uns ganz und gar zusammengeführt sahen in der Trockenheit der postmodernen Wüste, das heißt – wie unsere FreundInnen vom Colectivo Situaciones sagen – in der ontologischen Wirklichkeit der (sozialen, raum-zeitlichen, subjektiven) Zerstreuung. Und sie führten uns unmittelbar zu weiteren Fragen. Wie lässt sich ein Gemeinwille in der Welt der Zerstreuung produzieren? Und wie lässt sich das Effektivwerden der Verbindung zwischen Denken und Politik ermessen, wenn die Effizienz- und Wachstumskriterien der alten Politik sich als unbrauchbar erweisen? Wie lassen sie sich ermessen, ohne in Selbstgefälligkeit und/oder Resignation zu verfallen?

Die Beantwortung all dieser Fragen kann nur immanent und situationsspezifisch erfolgen. Wir sprechen aus dem heraus, was wir sind: Wir meinen, dass es sich lohnt, aus der Zerstreuung heraus zu sprechen und zu handeln, Zuflucht nicht in kleinen, heilsamen Identitäten, in tröstlichen Splittergruppen oder veralteten Ideologien zu suchen, sondern stattdessen den Versuch zu wagen, die Wüste mit weit geöffneten Augen zu durchqueren. Denn, wie Deleuze/Guattari uns sagen: „Die Sandwüste hat nicht nur Oasen, die so etwas wie Fixpunkte sind, sondern auch eine rhizomatische Vegetation, die vorübergehend ist und ihren Standort den örtlichen Regenfällen entsprechend wechselt und damit zu Veränderungen der Wegstrecke führt.“[9] Diese Wüste ist nämlich der Raum, den wir bewohnen, Bedingung und Herausforderung der politischen Handlung heute; was wir von hier aus sagen und tun können, wird unerhoffte Resonanzen finden.

Wir wissen indessen auch, dass die Zerstreuung nicht notwendigerweise ein Unvermögen oder eine Unmöglichkeit darstellt, wenn es darum geht, einen Gemeinwillen zu produzieren. Dies haben wir am 13. März 2004 in Madrid, Barcelona und so vielen anderen Städten erlebt: Nach den furchtbaren Attentaten vom 11. März wurde die Zerstreuung durch die Empörung angesichts der Verbindung von Angst, Lüge und Tod in eine entschlossene, trauernde Meute verwandelt, die den Verkehr auf den städtischen Hauptadern für mehr als zehn Stunden zum Erliegen brachte. In Städten der ganzen Welt war dergleichen zu erleben, als mit der Ankündigung der ersten Bombardierungen des Irak Tausende Personen auf die Straßen stürzten und an manchen Orten die Normalität drei Tage lang zusammenbrechen ließen. In engeren lokalen Grenzen war dies in ganz Europa zu erleben, in den Zyklen studentischer Mobilisierung, angesichts der Kämpfe von Arbeitslosen und Intermittents[10], des starken öffentlichen Auftretens von Sans-Papiers durch Blockaden und Besetzungen, als Revolte, die einen Einschnitt in das Raum‑Zeit-Gefüge eines der Subsumption unterworfenen Alltags setzt. Vielleicht besteht das Paradox unserer Zeit genau darin, dass sich die Bienen, nachdem sie zum Schwarm geworden waren, aufs Neue zerstreuen. Mehr noch, wir können das Ausmaß und den tiefgreifenden Charakter der gegenwärtigen Zerstreuung ermessen, wenn wir uns vor Augen führen, wie diejenigen, die sich aktiv an der Meute beteiligten, Straßensperren errichteten und sehr laut schrien: „Die Politik gehört uns“, schließlich als normalisierte Subjekte an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Zerstreuung bedeutet hier auch eine radikale Diskontinuität zwischen den verschiedenen Identitäten, die jedes Individuum an den unterschiedlichen Orten, die es besetzt, annimmt. Das raubt der Meute aber nicht ihre Kraft, es schmälert nicht im Geringsten ihre Wirklichkeit. Es zwingt uns nur, unser Denken und Handeln mit größter Radikalität seinen Ausgang von der Zerstreuung nehmen zu lassen. Und dies ohne Illusionen oder auch Illusionismen. So gesehen ist es eine äußerst schlechte Illusion, zu glauben, dass die militante Untersuchung eine Lösung für die Zerstreuung anbieten kann (oder gar die Lösung ist). Sie kann sehr wohl ein Mittel in der Zerstreuung oder von ihr her darstellen: um sie zu durchqueren, ihre materiellen und subjektiven Grundlagen zu analysieren, ihre Zwischenräume zu erforschen und Hypothesen aufzustellen, mit denen das politische Experimentieren arbeiten kann; um etwas gegen die Zerstreuung zu bewirken, indem die Punkte der Blockade und der Potenz in den ihr innewohnenden Praxen aufgespürt werden, indem an diesen Punkten gearbeitet wird, indem sie zusammengefügt werden und sprachlich-affektive Territorialitäten zwischen denjenigen Punkten geschaffen werden, die nicht bereits von vornherein über Territorien verfügen.

Wir glauben dies verdeutlicht zu haben, doch vielleicht ist es notwendig, darauf zu beharren: Die Zerstreuung, von der wir sprechen, die Zerstreuung, die unsere prekarisierten Körper in den Metropolen des Zentrums der Weltökonomie erfahren, ist eine Zerstreuung, die durch die Beschleunigung und Hyperaktivierung in einem Raum – dem Raum der Postmoderne – bedingt ist, in dem sich alles mit hoher Geschwindigkeit bewegt und in dem grundsätzlich dennoch nichts passiert: daher Wüste. In diesem Zusammenhang bekommt die Entscheidung bei denen, die sich entrüsten, die nicht resignieren, die rebellieren, eine fundamentale Bedeutung: Entscheidung als Entschluss für das „genau hier“ (hier gehen, fragen, handeln, sich organisieren), als beharrliches Begehren, das in seiner Beharrlichkeit einen Einschnitt in der Beschleunigung der postmodernen Erfahrung vorzunehmen erlaubt. Entscheidung nicht als Wille oder Voluntarismus, sondern als subjektive Anspannung. Entscheidung als Materie einer neuen Politik des Begehrens, die sich beharrlich in die Suchbewegung nach neuen Welten einfügt. Und hier würden wir sagen: Militant ist, wer von einer derartigen Entscheidung durchdrungen ist. Und militante Untersuchung heißt jener Prozess einer Wiederaneignung unserer Fähigkeit, Welten zu schaffen, der – in Gang gesetzt durch eine eigensinnige und militante Entscheidung, der die Aprioris, die „Es muss so sein“, die (neuen und alten) Modelle nichts gelten – das Wirkliche mittels einer Reihe von konkreten Verfahren befragt, problematisiert, vorantreibt.

Womit wir einmal mehr bei der Frage nach den Wirksamkeitskriterien in der dynamischen Beziehung zwischen Denken und politischer Handlung wären. Was sollen wir sagen? Zweifellos können diese Kriterien nicht von den Dringlichkeiten und der Ungeduld einer bestimmten Figur von militanter Subjektivität diktiert werden, die von der Rückkehr des Gemeinsamen im Sinne der kompakten Masse träumt. Das Gemeinsame der Gegenwart kann nur von einer permanenten Spannung durchzogen sein, die es mit dem Begehren der Singularität unterhält, es kann nur ein Gemeinsames sein, das sich von der Vielheit her formuliert: das Gemeinsame der Meute, das Gemeinsame von Seattle, Buenos Aires und Madrid. Gegen diese Art von Verlegenheit, die die Erfahrungen der Aktionsforschung einer vergeblichen Spannung unterwirft, aber auch gegen jegliche dilettantische Derive sowie gegen sämtliche postmodernen Ekstasen ist es notwendig, eigene Kriterien zu erarbeiten, die dem Prozess inhärent sind und die eine Aufmerksamkeit für die tatsächlichen (materiellen und subjektiven) Veränderungsprozeduren ebenso beinhalten wie eine Treue gegenüber den Suchbewegungen, Fragen und Anforderungen, die das Gemeinsame organisieren und die zuweilen ihrerseits befragt und erneuert werden müssen.

Von irgendeinem Ort der Metropole Madrid, Mai 2004


[1] Nociones comunes. Experiencias y ensayos entre investigación y militancia, Madrid: Traficantes de sueños 2004. In der Einleitung zu diesem Buch (S. 13–40, hier: S. 39; die allgemeinen Teile dieser Einleitung sind im vorliegenden Band unter dem Titel „Gemeinbegriffe. Erfahrungen und Versuche zwischen Untersuchung und Militanz“ zu finden) beschreibt Marta Malo dessen Entstehungsgeschichte wie folgt: „Die anfängliche Idee zu diesem Buch entstand vor einigen Jahren, im Kollektiv TrabajoZero, das sich im besetzten Sozialzentrum El Laboratorio in Lavapiés, Madrid, versammelte. Jahre später, nachdem TrabajoZero bereits verschwunden war, öffnete der Verlag Traficantes de sueños eine Tür, um dieses Projekt wieder aufzugreifen. Von Anfang an war es als Versuch konzipiert, Anfragen bezüglich einiger gegenwärtiger Erfahrungen militanter Untersuchung oder untersuchender Handlung […] auszusenden; die Beteiligten wurden eingeladen, ihre eigene Praxis zu reflektieren, die Erfahrungen miteinander zu konfrontieren und sie schließlich auf ein viel weiter angelegtes Gemeinsames hin zu öffnen, als eine Art Werkzeugkiste für so viele andere Subjekte, die nicht mehr mit allzu vielen Sicherheiten rechnen, die aber bereit sind, einen unsicheren Weg der Suche nach Gemeinbegriffen gegen die traurigen Leidenschaften der Fragmentierung, der Prekarisierung und der Angst einzuschlagen.“ [Anm. d. Übers.]

[2] Es handelt sich um einen Workshop, der in einem von Frauen besetzten Haus, Escalera Karakola, am 29. März 2004 im Rahmen einer wandernden Reihe von Workshops und Zusammentreffen zwischen dem Colectivo Situaciones und selbstorganisierten madrilenischen Wirklichkeiten durchgeführt wurde. Im Workshop nahmen HerausgeberInnen der Zeitschrift Contrapoder, die Precarias a la deriva und ein Compañero des Colectivo Situaciones teil – sowie zudem andere befreundete Menschen, Bekannte und Anonyme, denen wir hier danken möchten.

[3] Da wir alle Frauen waren, war unser Ausgehen von uns selbst notwendigerweise ein sexuiertes; das heißt, wir nahmen die weibliche Differenz, die ihrerseits von anderen Differenzen (Rassisierung, Sexualität, Klasse, Alter, körperliches Befinden etc.) durchzogen ist, besonders ernst.  

[4] Die Derive ist eine den SituationistInnen entlehnte Praxis des Erkundens einer Stadt durch zielloses Umherschweifen, wobei die Precarias a la deriva diesen in einer transformierten Version wieder aufgreifen und das durch den Zufall geprägte Umherschweifen des Flaneurs, also des männlichen bürgerlichen Subjekts durch einen situierten Derive ersetzen, der durch die alltäglichen Räume einer jeden Beteiligten führt und als Interview in Bewegung durch die kollektive Wahrnehmung der Umgebung geprägt wird; vgl. Precarias a la deriva, „First Stutterings of ‚Precarias a la deriva‘“, http://caringlabor.wordpress.com/2010/12/14/precarias-a-la-deriva-first-stutterings-of-precarias-a-la-deriva/; die situationistische Definition des Derives findet sich u. a. in der „Theorie des Derives“ von Guy Debord; vgl. ders., „Theory of the Derive“, http://www.bopsecrets.org/SI/2.derive.htm [Anm. d. Übers.].

[5] Precarias a la deriva, „Primeros balbuceos del laboratorio de trabajadores“, in: Dies., A la deriva (por los circuitos de la precariedad feminina), Madrid: Traficantes de sueños 2004, S. 25.

[6] Wir bemächtigen uns dieser Formulierung von Antonio Negri, der schreibt: „Alles, was ich benenne, hat eine Existenz. Aber es handelt sich darum, zu verstehen, was für eine Existenz es hat. Uns interessiert, dass der Name die Sache in die Existenz ruft und dass der Name und die Sache da sind. Die Erkenntnisprobleme entstehen, weil meine Benennung chaotisch ist und die Sachen, die ich in die Existenz rufe, sich auf undeutliche Weise zeigen. Das Sein entwischt mir. Indem ich zum Beispiel, unter den unendlich vielen möglichen, einen bestimmten Namen ausspreche, verleiht mein Gehirn einer Sache Existenz, die sich Name nennt; zweifellos verleiht es nicht immer zugleich einem Namen Existenz, der die Sache benennt. Und indem ich, unter den unendlich vielen möglichen, einen gemeinsamen Namen hervorbringe, verleiht mein Gehirn einer gemeinsamen Sache Existenz, die sich gemeinsamer Name nennt; zweifellos verleiht es nicht immer zugleich einem gemeinsamen Namen Existenz, der etwas Gemeinsames aus einem Zusammenhang von Sachen in die Existenz ruft. Daher ist das, was dem Namen und dem gemeinsamen Namen Wahrheit verleiht, das, was Name und Sache ‚da selbst‘ zusammenbringt, eben jenes ‚zugleich‘.“ A. Negri, Kairòs, Alma, Venus, Multitudo, Rom: Manifestolibri 2000, S. 19.

[7] Für alle diese Fragen vgl. Video und Buch mit dem Titel A la deriva (por los circuitos de la precariedad feminina). [Bei den hier genannten Frauen handelt es sich um antike Figuren: Lysistrata ist die Hauptfigur einer Komödie von Aristophanes, der Name würde übersetzt so viel wie „Heeresauflöserin“ bedeuten; Antigone ist die Tochter des Ödipus und der Iokaste, die sich ihrem Onkel, dem König von Theben, widersetzt; Sappho ist eine antike griechische Dichterin, die um 600 vor unserer Zeitrechnung lebte und wirkte. (Anm. d. Übers.)]

[8] Wir sprechen hier von Ambivalenz in jenem Sinn, wie Paolo Virno das Wort in seinem Text „Ambivalencia del desencanto: oportunismo, cinismo y miedo“, in: Ders., Virtuosismo y revolución. La acción política en la era del desencanto, übers. v. Raúl Sánchez Cedillo, Hugo Romero und David Gámez Hernández, Madrid: Traficantes de sueños 2003, S. 45–75, verwendet. In diesem großartigen Text legt Virno dar, dass Opportunismus, Zynismus und Angst die herrschenden emotionalen Färbungen in einer postfordistischen Welt sind, die durch eine Verfasstheit der „stabilen Instabilität“ charakterisiert ist (oder auch, wie im Video A la deriva. Por los circuitos de la precaridad feminina dargelegt, durch eine „Gewöhnung an das Unvorhersehbare“). Diese emotionalen Färbungen wären dann die reaktiven Abwandlungen eines ambivalenten Kerns, der durch die Notwendigkeit unablässiger Anpassungen an eine sich ständig verändernde Welt geprägt ist. Zweifellos könnte (und kann) sich dieser Kern auch anders abwandeln, er kann seine Ambivalenz in eine bestimmte Richtung der Veränderung hin auflösen, die der Neuerfindung des Gemeinsamen zugute kommt.

[9] Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 1992, S. 525 f.

[10] Der Ausdruck „Intermittents“ bzw. genauer noch „Intermittents du spectacle“ bezieht sich (in Frankreich) auf einen verwaltungsmäßig festgelegten Status von Personen, die in verschiedenen Sektoren des Kulturbereichs („spectacle“) unter der Bedingung der „Intermittenz“ („intermittence“), das heißt alternierender Perioden der Beschäftigung sowie der Arbeitslosigkeit, arbeiten. Es handelt sich also grundsätzlich um einen Status der Beschäftigung bzw. der Lohnarbeit, der von jenem klassischer „freier Berufe“ zu unterscheiden ist. [Anm. d. Übers.]

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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