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Karl Reitter: Mindestsicherung und ALVG Novelle, oder: wie Menschen auf die Lohnarbeit zugerichtet werden

Ab 1. Jänner 2008 soll die Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz (ALVG) in Kraft treten, ein Jahr später die „Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ realisiert werden. Beide Entwürfe ergänzen einander und sollen daher gemeinsam diskutiert werden. Mit einer Reihe von anderen Vorschlägen, insbesondere des beschlossenen Mindestlohnes von 1000 Euro im Monat, aber auch des in weiterer Ferne geplanten „Working Tax Credit“ nach dem Vorbild Großbritanniens[1], stellen sie ein Paket von Maßnahmen dar, das zwar in der Kontinuität der Sozialpolitik der II. Republik steht, aber doch neue Akzente setzt. Wie ich in Folge im Detail zeigen werde, laufen diese Projekte auf eine weitere substanzielle Entrechtung von Arbeitslosen hinaus. Die Zurichtung der Menschen zur Lohnarbeit, genauer, zur bedingungslosen Bereitschaft zur Lohnarbeit, durchdringt Geist und Buchstaben aller dieser Maßnahmen. Der geplante verschärfte Zugriff auf erwerbsarbeitslose Menschen ist so rigide und unverhüllt, dass es an Kritik bisher nicht mangelte. Nicht nur die verschiedenen Erwerbsarbeitsloseninitiativen wie der Verein Arbeitslosensprecherin oder die autonomen Amsand Frauen haben im Detail die Logik der Entwürfe analysiert, auch von der Arbeiterkammer Oberösterreich[2] und der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) gab es durchaus ablehnende Äußerungen. Die tatsächliche Dimension dieser Veränderungen lässt sich meines Erachtens nur dann verstehen, wenn diese Gesetze als Reaktion auf die Krise der Lohnarbeit verstanden werden. Nicht unbedingt die Jobs überhaupt, aber die interessanten, gut bezahlten und sozial abgesicherten Arbeitsplätze werden zum knappen Gut, das Versprechen, mehr Freiheit und Selbstbestimmung durch neue Selbständigkeit und flexible Arbeitsformen zu realisieren, entpuppt sich zumeist als sehr trügerisch. Zudem sind viele dieser neuen, prekären Arbeitsformen alles andere als frei gewählt, sondern stellen einfach das kleinste Übel dar, die eigene Existenz zu finanzieren. Wenn Einkommen, soziale Absicherung und Perspektiven schwinden, ist es dann verwunderlich, wenn Menschen gegen diese Tendenzen auf bestimmten Standards für ihre Erwerbstätigkeit beharren? Die geplanten Gesetze zielen nun exakt darauf ab, genau das nicht zuzulassen. Sie sind letztlich nur Teil einer weit umfassenderen Initiative, jeden Wunsch nach Selbstbestimmung im Keim zu ersticken und als unflexibel, störrisch, arbeitsunwillig, problematisch, ja pathologisch zu denunzieren und praktisch zu sanktionieren.

So sehr repressiv diese Maßnahem auch sind, so eröffnen sie doch die Möglichkeit, den gesellschaftlichen Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzuspielen. Eine ganze Reihe von theoretischen Fragen kann an hand dieser Maßnahmen diskutiert werden. Einmal der Charakter der Sozialdemokratie. Wir benötigen jetzt keine historische Rückschau, es genügt, wenn wir beim Thema bleiben: es geht um die unbedingte Ausrichtung auf die Bereitschaft zur Lohnarbeit. Bereitschaft ist tatsächlich das Stichwort. Wer soll als arbeitswillig gelten? „Arbeitswillig ist, wer bereit ist, eine … vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen, sich zum Zwecke beruflicher Ausbildung nach- oder umschulen zu lassen, an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt teilzunehmen, von einer sonst sich bietenden Arbeitsmöglichkeit Gebrauch zu machen und von sich aus alle gebotenen Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung zu unternehmen, soweit dies entsprechend den persönlichen Fähigkeiten zumutbar ist.“ [3] Schon in der Erstfassung des ALVG aus 1947 wurde die Definition der Arbeitswilligkeit über die Akzeptanz eines tatsächlichen Arbeitsplatzes auf die Akzeptanz von Schulungen und „sonst bietender Gelegenheit“ ausgedehnt. Praktisch versuche dieses Gesetz das durchzusetzen und abzusichern, was Marx als das entscheidende Moment der Klassenbeziehung erkannt hat. Nicht nur der aktuell beschäftigte Teil der Klasse, jede nur irgendwie erwerbsarbeitsfähige Person hat sich potentiell für die Lohnarbeit bereit zu halten und ihr soziales Dasein daran auszurichten. „Dem Kapital gegenüber ist sie [die Arbeitskraft K.R.] die bloße abstrakte Form, die bloße Möglichkeit der wertsetzenden Tätigkeit, die nur als Fähigkeit, Vermögen existiert in der Leiblichkeit des Arbeiters.“ (MEW 42; 219) Das Verhältnis zwischen Kapital und ArbeiterInnenklasse entfaltet sich nicht nur in der unmittelbaren Lohnarbeit, sondern bestimmt die soziale Existenzweise des Proletariats überhaupt. „Die Totalität aller Arbeit steht ihm [dem Kapital K.R.] δυνάμει gegenüber und es ist zufällig, welche ihm gerade gegenübersteht.“ (MEW 42; 218) Oftmals verwendet Marx, wenn er etwas sehr spezifisches aussagen möchte, ein nicht deutsches Wort. „General Intellect“ schreibt Marx grundsätzlich nur in englisch, für „der Möglichkeit nach“ verwendet er den altgriechischen Terminus„Λυνάμει“. Marx will also sagen: grundsätzlich existiert die ArbeiterInnenklasse gegenüber dem Kapital als reine Arbeitsfähigkeit, als Möglichkeit zur Lohnarbeit. Diese Potentialität geht der eigentlichen Anwendung der Arbeitskraft voraus und ermöglicht sie.

Dem Kapital permanent als universale Arbeitskraft zur Verfügung zu stehen, wird auch aktiv politisch durchgesetzt. Das Kapital hat noch nie auf den zwanglosen Zwang der Verhältnisse allein vertraut, sondern stets die aktive Bereitschaft zur Lohnarbeit mit mannigfachen Methoden gesichert. Ideologisch wird diese Durchsetzung durch die selbstverständlich angenommene Identifikation der Form der Erwerbsarbeit mit Arbeit überhaupt untermauert. Aber Lohnarbeit ist nicht mit Arbeit an sich gleichzusetzen und umgekehrt. Lohnarbeit ist nur eine bestimmte, historische Form der Arbeit, nicht Arbeit schlechthin. Marxens Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft terminiert in Formkritik, damit schließt auch der III. Band des Kapitals. Er will zeigen dass die spezifischen Formen die sozialen Verhältnisse bedingen wie umgekehrt, ohne Lohnarbeit kein Kapital und kein Kapitalismus. „Es ist ebenso klar, dass, wenn von der Arbeit als Lohnarbeit ausgegangen wird, so dass das Zusammenfallen der Arbeit überhaupt mit der Lohnarbeit selbstverständlich erscheint, dann auch als natürliche Form der Arbeitsbedingungen, gegenüber der Arbeit überhaupt, das Kapital und die monopolisierte Erde erscheinen müssen.“ (MEW 25; 833) „In der Tat, indem die Lohnarbeit nicht als eine gesellschaftliche bestimmte Form der Arbeit, sonder alle Arbeit ihrer Natur nach als Lohnarbeit erscheint (sich dem in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen Befangenen so vorstellt),…“ (MEW 25; 832) muss es scheinen, als ob Arbeitsmittel notwendig Kapital, als ob Grund und Boden notwendig Grundeigentum seien. Spezifische gesellschaftliche Formen werden so als Naturalformen jeder Kritik enthoben. Aber bereits gegenwärtig ist Arbeit nur mit Zwang und Ignoranz vollständig mit Erwerbsarbeit zu identifizieren. Aufbauend auf eine Studie in der Schweiz[4] errechnete die Sozialwissenschaftlern Marion von Osten folgendes Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit: „In einer groß angelegten Studie des Statistischen Bundesamts der Schweiz im Jahr 2004 wurde die unbezahlte, gratis geleistete Arbeit bemessen. Man kam zu folgendem Ergebnis: In einem der wohlhabendsten Länder der Welt werden jährlich 6,9 Milliarden Arbeitsstunden bezahlt, 8 Milliarden Stunden hingegen werden pro Jahr unbezahlt geleistet. Dreiviertel der Gratis-Arbeit wird dabei von Frauen, ein Viertel von Männern übernommen, während im Durchschnitt Frauen im Lohnarbeitssektor um 18 Prozent schlechter bezahlt werden als Männer.“[5] Ziehen wir noch die Tätigkeiten im wissenschaftlichen, künstlerischen, medialen Feld in Betracht, ebenso die Nachbarschaftshilfe, das politische Engagement in NGOs sowie die im Alltag geleistete gegenseitige Hilfestellung, so lässt sich generell sagen: Unsere Gesellschaft und damit auch der offizielle, geldvermittelte Wirtschaftssektor ist auf die Nichterwerbstätigkeit angewiesen, deren Ausmaß generell die Lohn- und Erwerbsarbeit übersteigt. Diese Arbeit ist nicht abzuschaffen, im Gegenteil, die kapitalistische Gesellschaft bedarf ihrer dringend. Bei kaum einem anderen Thema zeigt sich die einseitige Ausrichtung der Sozialdemokratie einzig und allein auf die Lohnarbeit deutlicher, als bei der Frage der Kinderbetreuung. Kinder werden von sozialdemokratischen Funktionären prinzipiell nur als störender Faktor für die Frau angesehen, sich völlig in die Lohnarbeit zu werfen. Aber selbst flächendeckende Kinderbetreuungsplätze werden die Haus- und Reproduktionsarbeit nicht abschaffen, sondern nur aus dem offiziellen Blickwinkel verdrängen.

Alle Gesetzesänderungen des ALVG zielen darauf ab, die potentielle Verfügbarkeit über die Arbeitskraft zu erhöhen und sie auf die Kapitalverwertung auszurichten. Das Ausmaß der Lohnarbeitsbereitschaft für Personen, die für Kinder die älter als 10 Jahre sind zu sorgen haben, wird von 16 auf 20 Stunden hinaufgesetzt. Ein Detail, zweifellos, aber ein symptomatisches. Arbeit außerhalb der Lohnarbeit wird eben nicht anerkannt, gilt als nichts, als keine Arbeit. Dazu passt noch ein weiterer Aspekt der ALVG Novelle: wer als erwerbsarbeitslos bei „verschwiegener Erwerbstätigkeit“, sprich beim Pfusch erwischt wird, hat sich nicht nur wie bisher 6 Wochen Bezugssperre eingehandelt, sondern muss ab 1. Jänner 2008 statt 2 Wochen nun 4 Wochen Arbeitslosengeld oder Notstandhilfe zurückzahlen. Das bedeutet in Summe 10 (!) Wochen keine Arbeitslosenunterstützung oder Notstandshilfe.

Eine weitere Dimension betrifft das Verhältnis des Staates zur Gesellschaft. Zumindest bei diesen zentralen Fragen – immerhin geht es um die materielle Reproduktion von Menschen mit geringem oder keinem Erwerbseinkommen – entpuppt sich die These vom neoliberalen Rückzug des Staates als reines Gerede. Die Tendenz geht in die gegenteilige Richtung. Der Staat baut sowohl seine Kompetenz als auch seine materiellen Apparate des Zugriffs zügig aus. Private Arbeitsvermittler aber auch sogenannte „Sozialökonomische Betriebe“ sollen im Auftrag des AMS mit gleichen Kompetenzen und Befugnissen wie das AMS selbst gegenüber den Arbeitslosen agieren können. Mit dieser Bestimmung werden mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die bisher illegale Praxis des AMS, Erwerbsarbeitslose sogenannten Sozialökonomischen Betrieben zwangsweise zu vermitteln, wird legalisiert. Diese Betriebe, wie etwa Trendwerk, stellen eine trübe Mischung aus Leiharbeitsfirma und Arbeitsvermittlung dar. Die Zwangszuweisungen bzw. die verkündeten Bezugssperren bei Weigerung dort zu dienen, wurde sowohl vom Verwaltungsgerichtshof als illegal erkannt[6] als auch von der Volksanwaltschaft mehrfach gerügt: „Bei der Zuweisung arbeitsloser Menschen zu sozialökonomischen Betrieben und gemeinnützigen Beschäftigungsprojekten ist in der Praxis dafür Sorge zu tragen, dass im Fall der Ablehnung einer solchen "Beschäftigung" gegen die/den jeweilige(n) Arbeitslose(n) nur dann Sanktionen (Sperre des Arbeitslosengeldes bzw. der Notstandshilfe) verhängt werden, wenn im Einzelfall ein reguläres, allen Zumutbarkeitskriterien entsprechendes Dienstverhältnis oder aber eine taugliche Wiedereingliederungsmaßnahme vorliegt. Stellt sich das "Beschäftigungsverhältnis" demgegenüber als Mischform aus Dienstverhältnis und Wiedereingliederungsmaßnahme dar, so kann eine Teilnahme der arbeitslosen Person nur auf freiwilliger Basis erfolgen.“[7]

Diese „Mischform aus Dienstverhältnis und Wiedereingliederungsmaßnahme“ wird nun mit mehren Paragraphen legalisiert. Die Kompetenzen des AMS werden auf private Vermittler ausgedehnt (§ 10, Abs 1 Z 1) und unumwunden festgehalten: „Als Beschäftigung gilt auch ein Arbeitsverhältnis im Rahmen eines Sozialökonomischen Betriebes (SÖB) oder eines Gemeinnützigen Beschäftigungsprojektes (GBP). Im Rahmen eines solchen Arbeitsverhältnisses ist nach Maßgabe der Abs. 2 bis 4 auch ein befristeter Transitarbeitsplatz mit der Zielsetzung der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zumutbar.“[8] Welche Betriebe nun tatsächlich zu Dienstleistern aufsteigen werden, ist noch unbestimmt, die KandidatInnen stehen aber wohl fest. Es handelt sich um staatsnahe Institutionen und Einrichtungen, von denen auch viele ein Naheverhältnis zur SPÖ und zur Arbeiterkammer aufweisen. Job- Transfair ist eine Tochterfirma des bfi, das wiederum ein Naheverhältnis zur Arbeiterkammer und zur SPÖ aufweist. FlexWork wiederum ist eine gemeinnützige GmbH des Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds (WAFF), somit unabdingbar SPÖ nahe. Eine besondere Spezialität stellt das BBRZ (Berufliches Bildungs- und Rehabilitationszentrum) dar. Dieser Institution obliegt es schon bisher, im Auftrag des AMS mittels medizinischer und psychologischer Untersuchungen die Arbeitsfähigkeit der Menschen zu testen und zu klassifizieren. Das BBRZ hat schon jetzt das Recht, Menschen gegen ihren Willen auch als arbeitsunfähig einzustufen und so in die Zuständigkeit des Sozialamts abzuschieben. Im § 25 des AMSG, einem Begleitgesetz zum ALVG, wird nun dem Datentransfer und der Datenerhebung Tür und Tor geöffnet.

Allerdings kann dieser verstärkte Zugriff nur aus einer Perspektive verstanden werden, die den Klassengegensatz als zentral strukturierendes Moment erkennt. Die Durchsetzung der Erwerbsarbeitswilligkeit kann unmöglich klassenneutral als bloße Formung aus einem Machtdispositiv verstanden werden. Wenn diese Maßnahmen nicht als repressive Sicherung und Durchsetzung spezifisch historischer Formen, konkret der Lohnarbeit, verstanden werden, werden sie überhaupt nicht verstanden.

Die kapitalistische Herrschaft ist sowohl eine Zeit- wie eine Raumordnung. Die geplante Gesetzesnovelle intensiviert den Zugriff auf die gesamte Lebenszeit der Arbeitslosen. Was sie zu tun und zu lassen haben, welche Ausbildung als angemessen erscheint und welche nicht, all das soll völlig in der Kompetenz des AMS liegen. Dazu sei noch ein weiterer Mosaikstein erwähnt, wieder nur ein Detail, aber erneut sehr bezeichnend. Bisher hätte das AMS alle Maßnahmen begründen müssen. In der Realität ist das natürlich nicht geschehen, sondern Maßnahmen wurden in der Regel autoritär verkündet. Allerdings konnte in diesen Fällen oftmals mit Erfolg der mühevolle Weg einer Klage beim Verwaltungsgerichtshof beschritten werden. Diese Praxis der ultimativ verkündeten Maßnahmen kontrastierte zudem mit den mit Anglizismen gespickten salbungsvollen Ausführungen auf diversen Hochglanzbroschüren und Ankündigungen. Sollte die bürgerliche Soziologie weitere Komposita mit dem Wort Gesellschaft kreieren wollen, so böte sich der Ausdruck „Die Neusprechgesellschaft“ an; an empirischem Material dürfte es im Umkreis des AMS nicht fehlen. Im Entwurf für den § 9 wird nun diese lästige Pflicht elegant entsorgt. „Das Arbeitsmarktservice hat der arbeitslosen Person die Gründe anzugeben, die eine Teilnahme an einer Maßnahme … notwendig oder nützlich erscheinen lassen, so weit diese nicht auf Grund der vorliegenden Umstände wie insbesondere einer längeren Arbeitslosigkeit in Verbindung mit bestimmten bereits zB im Betreuungsplan erörterten Problemlagen, die einer erfolgreichen Arbeitsaufnahme entgegen stehen als bekannt angenommen werden können. Eine Maßnahme zur Wiedereingliederung kann auch auf die persönliche Unterstützung bei der Arbeitssuche abzielen.“ Mit dem letzten Satz wird zudem eine weitere illegale Praxis des AMS legalisiert. Der Verwaltungsgerichtshof stoppte nämlich mit Geschäftszahl 2004/08/0017[9] die euphemistisch „aufsuchende Vermittlung von Langzeitarbeitslosen“ genannte Praxis, bei der Betreuer buchstäblich zu jeder Tageszeit Arbeitslose zuhause aufsuchten.[10] Entwürdigung bekommt so eine legistische Basis. In diesem Kontext ist auch die Anhebung des Pensionsantrittsalters in vielen europäischen Staaten zu sehen. Teilweise bereits durchgesetzt (Deutschland, Italien, Österreich) wird eine weitere Verlängerung der Lebensarbeitszeit gefordert. Sogar eine Anhebung des Pensionsantrittsalters auf 70 Jahre wurde in einigen Ländern erwogen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 75 Jahren für Männer und 81 Jahren für Frauen in Österreich bedeutet das eine weitere Reduktion der Ruhephase am Lebensende. In diesem Zusammenhang muss auch die Zustimmung von SPÖ und Gewerkschaft zu längeren Durchrechnungszeiten der Wochen- und Monatsarbeitszeit erwähnt werden. Bei Bedarf kann die tägliche Arbeitszeit (für eine bestimmte Phase) wieder 10 Stunden betragen. Die Bereitschaft, das eigene Dasein nach den Bedürfnissen des Kapitals auszurichten, wird weiters mit dem § 9 Abs. 2 durchgesetzt. Die Passage ist so formuliert, dass in der Realität jede Grenz der Zumutbarkeit für den täglichen Arbeitsweg aufgehoben ist. „Wesentlich darüber liegende Wegzeiten [über 2 Stunden K.R.] sind unter besonderen Umständen, … zumutbar.“  Keine Sorge, die besonderen Umstände werden immer gegeben sein. Dieser Passus stellt sozusagen die Peitschenvariante der geplanten „Mobilitätsprämie“ dar. Da die in Aussicht gestellte finanzielle Zuwendung von maximal 4600 Euro kaum Menschen veranlasste dem Arbeitsmarkt nachzuziehen, soll nun der Druck verstärkt werden.

Positive Aspekte?

Der Entwurf zum Arbeitslosenversicherungsgesetz enthält auch Bestimmungen, die als positiv erachtet wurden. „Freie Dienstnehmer“ werden obligatorisch in die Arbeitslosenversicherung einbezogen; „Selbständige“, können sich freiwillig versichern lassen. Ihre Entscheidung ist dann aber für acht Jahre bindend. Ich denke, es können zwei Gründe für diese Ausweitung angeführt werden. Der erste ist sehr naheliegend: es geht einmal darum, die Kassen zu füllen. Da die neuen Arbeitsformen ansteigen, entgehen dem Staat zunehmend die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung. Ich möchte hier die Entwicklung der Arbeitsformen exemplarisch für Wien darstellen, zumal gut aufgearbeitete Statistiken der Gemeinde[11] vorliegen. 1995 gab es in Wien insgesamt 833.073 versicherte Beschäftigungsverhältnisse, im Jahre 2006 waren es 920.772, das ergibt ein Plus von 87.650 versicherten Personen. Worauf ist nun diese Steigerung der Erwerbsarbeit zurückzuführen? Einzig und allein auf den Anstieg der sogenannten selbständigen Beschäftigung (von rund 51.000 auf 79.000) und den „neuen Beschäftigungsformen“ wie geringfügige Beschäftigung und freie DienstnehmerInnen. Ihre Zahl wurde 1995 noch gar nicht statistisch erhoben. Der Grund dafür ist, dass sie erst 1996/1997 in die Sozialversicherungspflicht aufgenommen wurden, also gewissermaßen „geschaffen“ wurden. 2006 betreffen diese Arbeitsformen rund 78.000 Menschen. Ohne diesen Anstieg wäre die Zahl der Beschäftigten um etwa 20.000 gesunken.

Die Ausweitung des Kreises der Versicherten ist eine pragmatische, nachhinkende Reaktion auf die veränderten Strukturen der Arbeitsverhältnisse. Aber zugleich festigt diese Novelle auch diese Verhältnisse. Das gilt insbesondere für die so genannten „Freien DienstnehmerInnen“. Dieser rechtliche Zwitter zwischen herkömmlichem Arbeiter- und Angestelltenverhältnis und tatsächlich formal Selbständigem war und ist in der Regel einfach eine Methode, kollektivvertragliche Regelungen elegant zu unterlaufen. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich bei diesen freien Dienstverträgen einfach um eine verweigerte reguläre Anstellung. Ein wenig eigener Spielraum bei Bestimmung des Arbeitsablaufes, der Einsatz eigener Arbeitsmittel z.B. eines Laptop usw. genügt, um ein derartiges Verhältnis zu legitimieren. Freie DienstnehmerInnen erhalten weder Urlaubs- noch Weihnachtsgeld, keine Abfertigung und hatten bisher auch keinen Anspruch auf  Arbeitslosenunterstützung. Die Hereinnahme dieser Gruppe in das ALVG bringt zwar den Vorteil dieser Versicherung, zugleich wird diese postfordistische Form der Aushebelung historisch erkämpfter Ansprüche zementiert. Ob das AMS in Zukunft nun auch solche Arbeitsverhältnisse ungeniert anbieten wird, wird sich zeigen. Eine weitere Grauzone ist jedenfalls zu befürchten.

Zur Mindestsicherung

Wie steht es nun mit der von Buchinger so favorisierten Mindestsicherung, die 2009 realisiert werden soll? Im Gegensatz zum ALVG liegt dieses Projekt nur in Form von Verlautbarungen und Ankündigungen vor und viele Punkte werden noch hinter den Kulissen verhandelt. Aber das bereits Gesagte verheißt nichts Positives. Tatsächlich ist schon einmal ungeklärt, wer diese Mindestsicherung in der geplanten Höhe von 690 Euro netto (14 mal im Jahr) für Alleinstehende und 517 Euro für Menschen in „Bedarfsgemeinschaften“ überhaupt beziehen kann. Menschen, deren Erwerbseinkommen unter dieser Grenze liegt werden ihr Monatsbudget offensichtlich nicht so einfach aufgestockt bekommen. StudentInnen z.B. fallen ganz sicher aus dieser Regelung. Geringfügiges Einkommen galt schon bisher nicht als vollwertiges Arbeitseinkommen und die betreffenden Personen daher als arbeitslos. Ob und in welchem Ausmaß Personen, in diesem Falle vor allem Frauen, deren Einkommen als Halbtagsbeschäftigte oftmals unter den Richtsätzen liegt, Anspruch haben, ist ungeklärt. Von Ausnahmen abgesehen werden wahrscheinlich nur jene um Mindestsicherung ansuchen können, die beim AMS als erwerbsarbeitslos gemeldet sind. Die weitere Entrechtung der Arbeitslosen ist jedenfalls schon jetzt eine beschlossene flankierende Maßnahme der Mindestsicherung.

Die Mindestsicherung setzt Armut voraus, und in diesem Sinne wird sie diese auch schaffen. „Die zu beziehende Leistung aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung muss subsidiär verstanden werden. Das bedeutet, dass sie ausschließlich Personen zukommt, die über keine angemessenen eigenen Mittel verfügen und auch durch Leistungsansprüche gegenüber Dritten den eigenen Bedarf bzw. den ihrer Angehörigen nicht ausreichend decken können. Vermögen wie auch Einkommen sollen daher einzusetzen sein.“, lautet der entsprechende Passus.[12] Das bedeutet, dass Sparbücher, Kontostände, sonstige Wertgegenstände aber auch Lebensversicherungen aufgelöst und aufgebraucht werden müssen. Der Besitz eines Fahrzeugs wird großzügig zugestanden, wenn es für den Weg zu einem potentiellen Arbeitsplatz benötigt wird. Das eigene Haus und die Eigentumswohnung werden negativ angerechnet, das heißt von der Mindestsicherung nochmals abgezogen. Wer um Mindestsicherung ansucht, darf inklusive seiner Angehörigen tatsächlich nichts mehr besitzen. Der Notgroschen, die private Lebensversicherung usw. ist legal nicht möglich. Da im Gegensatz zu Hartz IV die Miete in diesen Beträgen inkludiert ist, läuft die Mindestsicherung ebenso wie Hartz IV auf ein Armengeld hinaus. Viele Details sind noch in Schwebe, aber eines ist bereits sicher und wird von Buchinger auch auf jeder Pressekonferenz stolz verlautbart: Wer die Mindestsicherung bezieht und nicht bereit ist, nach dem Gutdünken des AMS als „arbeitswillig“ zu gelten, wird mit Kürzungen bis zu 50% zu rechnen haben.

Anzumerken wäre noch, dass all diese Maßnahmen in trauter Eintracht mit den unmittelbaren Vertretern des Kapitals erfolgen. Die Sozialdemokratie exekutiert ideologisch hegemoniale Auffassungen, die sie selbst favorisiert und produziert. Jene Zeiten, in denen der sozialdemokratische Minister Alfred Dallinger für das bedingungslose Grundeinkommen eintrat, sind längst vorbei. Herbert Buchinger führt gemeinsam mit Johann Kopf (ehemals Industriellenvereinigung) das AMS, sein Bruder und Sozialminister Genosse[13] Erwin Buchinger erntete für seine Mindestsicherung wahre Lobeshymnen vom scheidenden Ex-Kanzler Schüssel, da mit der Mindestsicherung kein „arbeitsloses Einkommen“ angestrebt würde. Auf Zitate aus diversen Presseerklärungen dieses Herrn zu diesem Thema können wir hier wohl verzichten – jedenfalls ist das Vertrauen der Bourgeoisie in die SPÖ, den Zwang zur Lohnarbeit mit allen Mittel durchzusetzen, zu recht ungebrochen. Aus den Reihen der Arbeiterkammer und der Gewerkschaft gibt es zwar teilweise durchaus kritische Einwände und berechtigte Kritik[14], aber diese Stellungnahmen dürften letztlich ohne viel zu bewirken in diversen Ordnern ihre letzte Ruhestätte finden. Eine Opposition gegen diese Politik ist innerhalb der Sozialdemokratie nicht in Sicht.

Nochmals zum Kalkül

Mindestlohn und Mindestsicherung fügen sich durchaus in eine europaweite Tendenz. Vom RMI in Frankreich über Hartz IV in Deutschland bis zur Mindestsicherung zeigt sich ein eindeutiger Trend Richtung workfare. Sozialtransfers werden nicht einfach aufgekündigt, sondern möglichst punktgenau an die individuelle Bereitschaft zur Erwerbsarbeit gebunden. Die Gesetze sind so konzipiert, dass selbst ein bescheidener Wohlstand oder gar Rücklagen für spätere Zeiten unmöglich sein sollen. Weiters soll ein Mindestlohn in vielen Ländern massives Lohndumping innerhalb der offiziellen Ökonomie verhindern.[15] Wenn zu viele Menschen von ihrer Erwerbsarbeit nicht mehr leben können, ist dies offenbar für die kapitalistische Herrschaft nicht unbedingt förderlich. In Nordwesteuropa (Irland, Großbritannien, Franreich, Belgien) beträgt der Mindestlohn rund 7,50 Euro die Stunde, in Südeuropa (Griechenland, Spanien, Portugal) um 3,50 Euro, in Osteuropa (Tschechien, Ungarn, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen) zwischen 1,50 Euro und 50 Cent. Nur zum Vergleich: in den USA existiert ebenfalls ein Mindestlohn in der Höhe von 4, 25 Euro. In Österreich beträgt der Mindestlohn 1000 Euro pro Monat, das ergibt bei 40 Wochenstunden 5,70 pro Stunde.

Warum all diese Maßnahmen, die primär nur für die „einheimische“ ArbeiterInnenklasse gelten sollen? Die postfordistische Umwälzung der Gesellschaft hat bereits gegriffen und ist sogar schon an Statistiken abzulesen. Die Einkommen der Massen stagnieren oder sinken. Aber eine Verarmung relevanter Teile der Gesellschaft ist nicht im Sinne der kapitalistischen Herrschaft. Daher baut sie europaweit komplizierte Transfernetze, die strikt an die Bereitschaft zur Erwerbsarbeitszeit, zur Akzeptanz aller zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Vorgaben, gebunden sind. Für die ArbeiterInnenklasse soll also gelten: Wer bereit ist, widerspruchslos und fügsam seine Arbeitskraft zu allen Bedingungen zu verkaufen und trotzdem kein Erwerbseinkommen erzielen kann, darf auch in Zukunft auf ein äußerst knapp bemessenes Armengeld hoffen, das gerade nicht zum Leben reichen darf.

Nachbemerkung 1: Die Regierungsvorlage zum ALVG soll am 6. Dezember vom Nationalrat beschlossen werden. Eine Abmilderung einzelner Bestimmungen ist zwar noch möglich, aber leider kaum wahrscheinlich.

Nachbemerkung 2: Ich danke Evi Wollner, Klaus Neundlinger, dem Verein Arbeitslosensprecherin, den autonomen Amsand Frauen sowie der gesamten Erwerbsarbeitslosenbewegung für ihre Informationen, ihre Recherche und ihr Wissen. Ohne ihre Vorarbeiten wäre dieser Artikel nicht zu schreiben gewesen.

E-Mail: k.reitter@gmx.net


[1] Den „Working Tax Credit“ gibt es unter dem Namen „Earned Income Tax Credit“ auch in den USA. Dort ist diese auszahlbare Steuergutschrift de facto nichts anders als eine mäßige Kinderbeihilfe. In Großbritannien wurde das Konzept der Steuergutschrift auch auf BezieherInnen mit niedrigem Erwerbseinkommen ausgedehnt und beträgt derzeit maximal 2400 Euro im Jahr. Alle Kriterien des Bezugs sind ausgesprochen komplex und schwer zu überschauen.

[5] Marion von Osten, „Irene ist Viele! Oder was die Produktivkräfte genannt wird“, in: T. Azert, S. Karakayali, M. Pieper, V. Tsianos (Hg.) „Empire und die biopolitische Wende“, Frankfurt/Main, New York, 2007

[6] Die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes finden sich unter anderem unter http://www.soned.at/788981d7d6ca4c49901d7368e4e16856.html

[10] Besonders berüchtigt ist das „Projekt Phönix“, In einem Erfahrungsbericht mit einem Verantwortlichen können wir lesen: „Dr. Miklau gab bereitwillig Auskunft, dass ihn und sein Vorgehen die „"LINKE REICHSHÄLFTE“ als nazimässiges Vorgehen vorhält, aber das sei ihm egal. Phönix habe eine 60%ige Erfolgsquote und das AMS verhänge viel zu wenig Sperren!!!“ Quelle:

[11] Quelle: : http://www.wien.gv.at/statistik/daten/arbeitsmarkt.html, abgerufen am 17.6.2006 sowie am 18.10.2007

[12] Quelle:

[13] Diese Anrede findet sich tatsächlich auf der Webseite einer trotzkistischen Organisation. Nun, wenn es dem konstruktiven Gesprächsklima dient …

[14] So dokumentierte die AK Öberösterreich, das, was eigentlich jeder wusste: Die offizielle Zahl der Arbeitslosen ist mit 204.000 viel zu gering, tatsächlich suchen etwa 320.000 Menschen Erwerbsarbeit. Quelle: http://derstandard.at/?url=/?id=3097558

[15] Quelle: Thorsten Schulten, „Gesetzliche und tarifvertragliche Mindestlöhne in Europa, Teil I“, in: „express“ Nr. 9-10/2006 Frankfurt am Main, Seite 15

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