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Slave Cubela: Warum Amerika es besser hat
Die aktuelle Debatte der nordamerikanischen Linken über Konjunktur, Krise und politische Strategie

Kommt er oder kommt er nicht? Obgleich hier zu Lande immer mehr öffentliche und private Debatten gegenwärtig ex- oder implizit um diese eine Frage kreisen, scheint es, als ob der diskursive Aufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag stünde. Gerät doch der wirtschaftliche Aufschwung, der Gegenstand dieser Frage ist, immer mehr zu einem Phantom, das PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, UnternehmerInnen, GewerkschafterInnen und ArbeiterInnen im gleichen Maße beschäftigt wie ratlos erscheinen lässt. So kommt es dann zwar zur Produktion von sogenannten ,,Sozialreformen“, Steuermodellen, Zukunftsgerechtigkeiten oder präsidialen Sonntagsreden, allein ein einfacher analytischer Aspekt wird doch gerne übersehen, nämlich die besondere Bedeutung, die die USA nicht nur für den Irak, sondern auch für die soziale Entwicklung hierzulande haben; denn: Gelingt es der US-Ökonomie wieder einen stetigen und kräftigen Wachstumskurs einzuschlagen so wird die westliche Welt insgesamt zumindest eine kurze Zeit der sozialen Erholung haben. Sollte jedoch die US-Ökonomie alsbald wieder ins Stottern oder gar in eine ernsthafte Rezession geraten, so sind nicht nur die globalen sozialen Folgen noch gar nicht absehbar (aber ganz gewiss nicht rosig), zudem wären die USA als soziales Reform-Vorbild, als das sie in großen Teilen der deutschsprachigen Öffentlichkeit figurieren, womöglich endgültig gescheitert.

Es trifft sich nun, dass innerhalb der nordamerikanischen Linken seit geraumer Zeit eine sehr lebhafte Debatte über die nähere Vergangenheit und Zukunft der US-Ökonomie tobt, die trotz der besonderen Relevanz der US-Ökonomie auch in hiesigen kritischen Kreisen leider viel zu wenig wahrgenommen wird. Warum auch, so scheinen sich große Teile der deutschen Linken zu denken, verlangt diese Zeit nicht dem neoliberalen Diskurs die anhaltende Möglichkeit gerechter staatlicher Umverteilung entgegenzusetzen? Wäre es nicht schon viel, wenn endlich jener Primat der Politik wiederkehren würde, der uns den „behaglichen“ Sozialstaat bescherte und der eine Dominanz der Finanzmärkte erst gar nicht aufkommen ließ? Aber: Vielleicht könnte ein Blick über den Atlantik auch diese Ignoranz der deutschen Linken lösen helfen. Das heißt, wenn im Folgenden ein kleiner Einblick in diese Debatte der nordamerikanischen Linken gegeben werden soll, so geschieht dies nicht nur um die ökonomische Situation in den USA grob einschätzen zu können, es soll zum zweiten daran erinnert werden, dass nicht nur eine andere Welt, sondern auch eine andere Linke jenseits etatistischer Sozialstaats- oder Gerechtigkeitsfixierungen möglich ist.

Blick zurück im Zorn oder wider die Traumbilder einer New Economy 

Eine gute erste Annäherung sowohl hinsichtlich der jüngsten Entwicklung der US-Wirtschaft als auch an die diesbezüglich laufende Debatte bietet das erst kürzlich erschienene Buch von Doug Henwood: „After the New Economy“ (New Press, New York/London 2003). Henwood erfreut als Herausgeber des ,,Left Business Observers“ (www.leftbusiness-observer.com) seine Leser seit Jahren mit kritischen Aufbereitungen offizieller Wirtschaftsdaten und einer genauen Analyse der aktuellsten Entwicklungen. Mit seiner jüngsten Publikation will er dazu beitragen die Boom- und Spekulationsphase der späten 90er Jahre, die sogenannte „New Economy“, als eine Entwicklung „emerging from the innards of the American economic machinery“ verstehbar zu machen und nicht, wie dies so oft geschieht, als eine Mischung aus kollektiver Narrheit und schlichter Kriminalität.

Zu diesem Zwecke setzt sich Henwood zunächst einmal polemisch und doch akribisch mit einer Vielzahl kleinerer und größerer ökonomischer Mythen auseinander, die nicht zuletzt auch in diesem Lande bis auf den heutigen Tag hartnäckig kursieren. So kritisiert er besonders ausführlich die These, dass in den neunziger Jahren in den USA ein Ende der Lohnarbeit qua Produktivitätsfortschritt begonnen habe: ,,Wenn wir uns tatsächlich am Anfang einer technologischen Revolution befinden sollten, dann verteilen wir deren Dividende keineswegs in der Form einer geringeren Arbeitsbelastung: Amerikanische ArbeiterInnen müssen gegenwärtig verdammt hart für ihr Einkommen arbeiten.“[i]  Eine Immaterialisierung der Arbeit, wie sie etwa Negri/Hardt in ihrem Buch „Empire“ unterstellen, kann Henwood für die „workhouse economy“ USA nicht erkennen (,,Die Anzahl von Lastwagenfahrern überwiegt in den USA bei weitem die Anzahl von Beschäftigten in Computerberufen. “[ii]), von einer Demokratisierung der Arbeitswelt ganz zu schweigen: ,,Überwachungstechnologien, deren Einsatz einstmals dem Pentagon und einigen Großkasinos vorbehalten blieb, werden gegenwärtig immer mehr normaler Bestandteil der neuen amerikanischen Arbeitswelt. (...) Achtzig Prozent aller US-Unternehmen kontrollieren ihre Beschäftigten durch irgendeine Form elektronischer Überwachung.“ Auch dem Begriff der Globalisierung steht Henwood z. B. mit Verweis auf die prozentual stagnierenden Auslandsinvestitionen US-amerikanischer Konzerne in den letzten zwanzig Jahren äußerst skeptisch gegenüber: ,,Der Kapitalismus hat immer schon Wohlstand Seite an Seite mit Armut produziert und er war von Beginn an ein internationales und internationalisierendes System – deshalb macht der Versuch wenig Sinn die gegenwärtige Verschärfung sozialer Ungleichheiten hauptsächlich seiner globalen ,Seite‘ anzulasten.“ Und er schließt diesen wichtigen Teil seines Buches mit einem Hinweis an alle sogenannten GlobalisierungsgegnerInnen: ,,Jede vermeintlich progressive Allianz mit nationalkapitalistischen Kräften zum Zwecke des Widerstandes gegen den internationalen Kapitalismus kann sehr bald heikel werden.“

Nachdem er – mit manchen Längen in der Darstellung – diese „Traumarbeit“ beendet hat, stellt Henwood sich schließlich der entscheidenden Frage nach den Gründen für das Entstehen der Spekulationsblase in den USA gegen Ende der Neunzigerjahre. Seine Antwort: Nachdem die US-Arbeiter in den Siebzigerjahren dank Vollbeschäftigung eine starke Verhandlungsposition innegehabt hätten, wäre es ab 1979 mit der radikalen Leitzinserhöhung durch die US-Notenbank zu einem ,,central-bank-led-classwar“ gekommen, der zwischen 1982 und 1997 zu einem Profitboom in den USA führte. Dies und die ,,americanisation of global finance“ hätten in der Folge zu einem Wettlauf um US-Aktien geführt, der schließlich in der Spekulationsblase gipfelte.

Doch genau dieser Punkt seines Buches weckt Zweifel. Warum stagnierten etwa Reallöhne und Sozialausgaben in den USA bereits seit Anfang der Siebzigerjahre, wenn Henwood in dieser Zeit eine starke ArbeiterInnenschaft verortet? Ist sein Profitratenmodell nicht allzu einfach, insofern es Anstieg und Fall derselben lediglich von der Lohnhöhe der ArbeiterInnen abhängig macht? Schließlich: Warum führte genau dieser Profitboom zu einer Spekulationsblase? Wenn dies tatsächlich einer Amerikanisierung der globalen Finanzmärkte geschuldet sein soll, wäre da nicht auf das Ende des Bretton-Woods-Systems genauer einzugehen? Trotz dieser vielen Fragen bleibt an einem wesentlichen Punkt seiner Darstellung Henwoods Buch, wie bereits gesagt, doch lesenswert. Oder um es mit den poetischen Worten von Slavoj Zizek zu sagen: ,,like a glass of freshly-squeezed orange juice after a chemical ,orange drink‘.“

Es brenn(er)t...

Bietet Henwood einen ersten Einstieg in die Debatte, so führt uns der Name des Universitätsprofessors und Mitarbeiters der Zeitschrift „Against the Current“ Robert Brenner in deren Herz, insofern sein langer Aufsatz ,,The economics of global turbulence“ (New Left Review, I/229, 1998) als Startschuss dieser Debatte angesehen werden muss, die er dann mit seinem Buch ,,Boom and Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft“ (engl. Verso, London/New York 2002; deutsch VSA, Hamburg, 2003) ein weiteres Mal befeuerte, um erst kürzlich mit ,,New Boom or New Bubble? The Trajectory of the US Economy“ (New Left Review, 25/2004) eine aktualisierte Bestandsaufnahme zu liefern.

Seine Erklärung der Spekulationsblase der späten Neunzigerjahre und der sich ihr anschließenden Krise lautet wie folgt: Einerseits befinde sich die Weltwirtschaft insgesamt seit 1973 in einem „langen Abschwung“[iii], der die Folge einer Intensivierung der Weltmarktkonkurrenz im verarbeitenden Gewerbe durch den Aufstieg einer immer größeren Reihe von ,,low-cost-producern“ (zunächst Deutschland und Japan, später Südkorea, Taiwan und andere „Tigerstaaten“) sei. Denn: Diese Intensivierung der globalen Konkurrenz hätte qua Entstehung struktureller Überkapazitäten und Kostendruck zu einem allgemeinen Preisverfall und letzterer wiederum zu einem allgemeinen Profitratenfall geführt. Andererseits, so meint Brenner, sei es den USA von 1985 an durch eine relative Abwertung des Dollar (sog. Plaza-Abkommen) und eine protektionistische Außenhandelspolitik gelungen entgegen der „langen“ Abschwungtendenz der Weltwirtschaft eine fast zehnjährige Profiterholungsphase für ihr verarbeitendes Gewerbe einzuleiten, sodass die USA für Anleger aller Art sehr attraktiv geworden seien. Ab Mitte der Neunzigerjahre erhöhte sich nun zudem (z. B. durch niedrige Zinssätze in Japan) die Verfügbarkeit von Finanzkapital extrem, asiatische Staaten investierten zum Zwecke einer Wertminderung ihrer Währungen in die US-amerikanischen Finanzmärkte, während zugleich die Federal Reserve unter Alan Greenspan auf Zinserhöhungen verzichtete und zudem bei jedem Anschein von Instabilität die Märkte (Rettung des riesigen Hedge-Fonds LTCM 1998) stützte. Durch die Kombination dieser Entwicklungen hätten die Aktienmärkte der USA derart explodieren können, wie sie es dann auch taten. Doch trotz dieses großen Booms, so Brenner, seien die globalen Überkapazitäten keineswegs verschwunden, im Gegenteil: Erneut fallende Unternehmensprofite nun auch im High-Tech-Bereich hätten die Spekulationsblase platzen lassen und seien somit der anhaltende Grund für die erneute Krise der Weltwirtschaft.

Leider muss eine solch knappe Wiedergabe der Forschungsergebnisse Robert Brenners dessen Leistung geringer erscheinen lassen, als sie ist; vollzieht Brenner doch –indem er die Spekulationsblase der Neunzigerjahre in ihrem ganzen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zu entwickeln sucht – einen jener nicht einfachen und deshalb seltenen systematischen Versuche die Entwicklung des Weltökonomie seit 1973 im Zusammenhang darzustellen und somit eine große Menge empirisch-ökonomischen Materials, das sonst in der einschlägigen Literatur meist nur isoliert voneinander diskutiert wird, zusammenzufassen und aufeinander zu beziehen. Aber Brenner schafft damit nicht nur, wie gleich zu sehen sein wird, eine gute Kritikvorlage für eine breitere Debatte innerhalb der nordamerikanischen Linken über Entwicklung und Perspektive der US- und Weltökonomie. Er führt darüber hinaus vor, an welch tiefen und beunruhigenden Abgründen der Weg der US-Ökonomie nach dem Ende des „golden age“ entlanggeführt hat und mit welchen Entwicklungstendenzen zu rechnen ist. Eine Andeutung, in welch beunruhigende Richtung diese Entwicklungen sich bewegen könnten, gibt Brenner in einem seiner aktuellen Aufsätze, wenn er schreibt: ,,Wird eine expansive Geldpolitik nicht bald unweigerlich zu höheren Leitzinsen führen, und das in einer Zeit, in der die Verschuldung von Privathaushalten, Regierung, Unternehmen und Finanzsektor sich ohnehin sehr ausgedehnt hat? Wird eine solche Geldpolitik nicht das Handelsbilanzdefizit ein weiteres Mal vergrößern, und das in einer Zeit, in der der Dollar ohnehin fällt? Kann eine Ökonomie vorwärtsschreiten, deren Dienstleistungs- und Finanzsektor nur dem Zweck der Konsumtion dient, während gleichzeitig deren Schlüsselindustrien unter Überkapazitäten und fallenden Profiten ächzen, ausländische Produzenten immer größere Anteile in den US-Märkten erobern, die Exporte immer weiter hinter den Importen zurückbleiben, sodass es keine Hoffnung auf einen Ausgleich gibt, und schließlich die Begleichung internationaler Zahlungsverpflichtungen durch die USA letztlich von der Freigiebigkeit ostasiatischer Regierungen abhängt? Die US-Ökonomie befindet sich auf unbekanntem Gebiet. Ihre Kapazität aus dieser Lage einen Ausweg zu finden muss bezweifelt werden.“ (Brenner 2004)

…oder brennt es nicht?

An dieser Stelle ist abermals ein Wort zum weiteren Vorgehen einzuschieben, denn: Ist es schon ein Problem, Brenners komplexes Werk zu komprimieren, so ist es ein noch größeres, die Kritikpunkte an ihm auch nur annährend zusammenzufassen. Warum? Eine vom Autor zufällig entdeckte, nicht einmal vollständige Übersicht der Brenner-Debatte durch die linke dänische Internetbücherei „Tidsskriftcentret“ (http://www.tidsskriftcentret.dk/index.php?id=165 [25.5.2004]) kommt auf über 45 Aufsätze in einschlägigen Zeitschriften wie ,,Against the Current“, „Capital and Class“, ,,Historical Materialism“, „The Nation“ oder „Monthly Review“ zwischen 1998 und 2004. Das heißt, wenn im Folgenden lediglich das Umfeld des kanadischen ,,Socialist Register“ und der ,,Monthly Review“ zu Worte kommt (Sam Gindin: „Turning Points and Starting Points: Brenner, Left Turbulence and Class Politics“, In: Socialist Register, 2001; Sam Gindin/Leo Panitch: „Die Krise neu denken“; Monthly-Review Redaktion: „Eine Krise nach der anderen für das Leben des Systems“, beide in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 2/2003 (engl. in: Monthly Review, Nov. 2002), so ist diese Wahl von persönlichen Vorlieben einerseits und der Erreichbarkeit der Texte andererseits abhängig und es muss noch einmal betont werden, dass es sich allenfalls um einen kleinen, stichprobenartigen Ausschnitt handelt (der zudem den Medienmainstream der USA nicht einmal streift).

Was aber bringen die Kritiker – in unserem Falle Sam Gindin und Leo Panitch – gegen Brenner (und die ihm in vielerlei Hinsicht folgende „Monthly Review“-Redaktion) vor? Zunächst einmal eine Reihe von Bedenken zu Brenners Interpretation der ökonomischen Daten. Indem nämlich diese Interpretation, so Gindin und Panitch, in Brenners These vom ,,langen Abschwung“ des Weltkapitalismus seit 1973 fuße und somit ihren zentralen Maßstab an den hohen Wachstums- und Profitraten der Fünfziger- und Sechzigerjahre habe, gälte es zu fragen, inwieweit diese Wachstumsraten als negative Matrix überhaupt geeignet seien. Berücksichtige man die Entwicklung des Weltkapitalismus vor 1950, so lasse sich feststellen: ,,Längerfristig gesehen sind die Wachstumsraten nach 1973 nicht ungewöhnlich; einzigartig war das vorausgegangene Vierteljahrhundert.“ (Gindin/Panitch 2003)[iv] Habe man aber auf diese Weise Brenners Hauptargument erst einmal relativiert, erschienen wichtige Elemente seiner Interpretation in anderem Lichte. So sei Brenners These von den strukturellen Überkapazitäten zu ungenau um von einer anhaltenden Krisentendenz sprechen zu können. Dann könne man aber auch weitere Zahlen, mit denen Brenner seine Argumentation zu stützen suche – wie etwa die zum Profitaufschwung innerhalb der USA seit Mitte der Achtzigerjahre oder zur Verschuldungsmisere innerhalb der USA – wesentlich vieldeutiger interpretieren. Deshalb fragt Gindin:,,Wenn es einen Wendepunkt in den späten Sechzigerjahren gegeben hat, bedarf dieser nicht einer vielschichtigeren Erklärung als nur durch den Verweis auf Profitratentendenzen?“ (Gindin 2001)

Die Antwort hierauf, so betonen Gindin und Panitch, könne nur „ja“ lauten, wenn man zwei Aspekte besonders berücksichtige: die Rolle der ArbeiterInnenschaft auf der einen und die Bedeutung des Staates auf der anderen Seite. Was die Rolle der ArbeiterInnenschaft betrifft, so sieht Gindin in den späten sechziger Jahren eine entscheidende Zäsur für die USA: ,,Das erste Mal seit der großen Depression wurden niedrigere Löhne und der Abbau sonstiger Unternehmenszuwendungen unter gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen üblich. In einigen Wirtschaftssektoren hatten die ArbeiterInnen ein respektables Niveau der Gewerkschaftsorganisierung erreicht, doch wurde dieses bald wie etwa in der Automobilindustrie durch die Verlagerung der Arbeitsplätze in den Süden der USA gesenkt oder aber durch das Erscheinen neuer einheimischer Unternehmen wie im Falle der Stahlindustrie. Zudem akzeptierten die Gewerkschaften, unter Druck stehend, eine Dezentralisierung der Strukturen und schlechtere Tarifverträge, um dadurch vermeintlich besser den veränderten Marktgegebenheiten Rechnung zu tragen.“ (Gindin 2001) Was wiederum die Bedeutung des Staates angeht, so verweisen Gindin und Panitch auf die bisher erstaunlich erfolgreiche Rolle des bürgerlichen Staates im Allgemeinen und der USA im Besonderen bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der letzten dreißig Jahre. Gindin führt schließlich alle Fäden zusammen, wenn er schreibt:,,Für Brenner mag das goldene Zeitalter des Kapitalismus vor ca. dreißig Jahren geendet sein, so dass wir im Zeitalter einer Dauerkrise des Kapitalismus leben. Die Argumentation in diesem Aufsatz unterstellt im Gegenteil, dass aus der Perspektive des Kapitals das goldenen Zeitalter in der Gegenwart liegt. Bei Brenner wird die Selbstzufriedenheit des Kapitals unter der widersprüchlichen Logik der Konkurrenz kollabieren; in der Alternativsicht dieses Aufsatzes kann nur eine breite soziale Bewegung, die versucht, das Zentrum des Kapitalismus auf seinem geschichtlichen Höhepunkt herauszufordern, das Lächeln auf dem Amtlitz des Kapital auslöschen.“ (Gindin 2001)

Strategische (In)Konsequenzen oder wie weiter an der Kreuzung zwischen Klasse oder Staat?

Es mag scheinen, dass hier Aussage gegen Aussage unversöhnlich gegeneinander stehen. Aber: Betrachtet man die politisch-strategische Motivation der Kritik von Gindin und Panitch genauer, so weichen die argumentativen Fronten doch auf; etwa wenn Gindin schreibt: ,,Der Kapitalmarkt wird eventuell zusammenbrechen, Krisen werden wiederkehren, die forcierte Restrukturierung und Beschränkung der Lebensmöglichkeiten vieler Menschen wird für die Linke womöglich neue strategische Möglichkeiten zur Folge haben. Es wird mehr Seattles geben. Wir werden unsere Momente haben. Aber was absolut vermieden werden muss, ist die analytische und politische Gefahr, die Brenner geweckt und dann schnell abgetan hat: ein verführerischer, aber falscher Optimismus, der darauf basiert, die strukturelle Kraft des Kapitalismus, seine Erneuerungsfähigkeit und dementsprechend seine kontinuierliche Vitaliät zu unterschätzen.“ (Gindin 2001) Oder an anderer Stelle: ,,Die Linke ist gegenwärtig in sehr wenigen Teilen der Welt in der Lage die Richtung des Wandels nachhaltig zu beeinflussen. Aber es ist keine Strategie auf die nächste Wirtschaftskrise zu setzen. Wir brauchen eine Strategie, die die beschriebenen Spannungen und Widersprüche gründlich erfasst und dadurch wirkungsvolle ideologische Gegenoffensiven entwickeln kann, die den langfristigen Aufbau linker politischer Kräfte fördern mit dem Ziel einen grundlegenden Wandel herbeizuführen.“ (Gindin/Panitch 2003) Mit anderen Worten also: Erweckten Gindin und Panitch in der oben zitierten Passage noch den Eindruck, dass der Kapitalismus der Gegenwart es dahin gebracht habe, dass er vermittels des bürgerlichem Staates „maßgeblich mitbestimmt, ob und wann Krisen eintreten und wie sie sich entfalten“ (Gindin/Panitch 2003), so schrecken sie doch an jenem Punkt ihrer Brennerkritik zurück, wo sie die Konsequenz dieser These ziehen und für eine Staatszentrierung emanzipativer Politik eintreten könnten. Stattdessen rekurrieren sie plötzlich doch auf durch Krisen und Zusammenbrüche des Aktienmarktes evozierte neue strategische Möglichkeiten einer linken, nicht staats-interventionistischen Politik und ihre Kritik an Brenner reduziert sich schließlich darauf, vor der strategischen Sackgasse linker Zusammenbruchstheorien und übertriebenem Optimismus zu mahnen.

Allein: Bedarf die Argumentation Brenners und derer, die ihm erst einmal analytisch folgen, tatsächlich solch eines erhobenen Zeigefingers? Impliziert schon der Verweis auf Krisen- oder gar Zusammenbruchstendenzen der US-Ökonomie einen linearen geschichtsphilosophischen Optimismus, der die Notwendigkeit eines emanzipativen Widerstandes von Seiten der ArbeiterInnenschaft und des strategischen Anknüpfens an gegenwärtige Widersprüche tendenziell für unwichtig hielte? Helfen Brenners Verweise nicht vielmehr den allgegenwärtigen (Sozial-) Staatsglauben zu untergraben und zugleich die Wiederkehr gesellschaftlicher Polarisierungsprozesse nach dem Ende des ,,golden age“ für eine linkssozialistische Politik auszuloten? Was wäre das überhaupt für eine nicht-sozialdemokratische Linke, wenn diese den Kapitalismus für letztlich politisch oder sonstwie kontrollierbar hielte?

Man mag es also drehen und wenden, wie man will, eine Linke jenseits von Sozialdemokratie und Etatismus ist ohne Krisentheorie und -analyse schwerlich vorstellbar. Insofern ist auch das, was die Redaktion der ,,Monthly Review“ Gindin und Panitch entgegnet, trotz begrifflicher Ungenauigkeiten nach wie vor eine zentrale gemeinsame Grundlage einer solchen Linken: ,,Auf die allgemeine Frage nach Wirtschaftskrisen im Kapitalismus gibt es zwei mögliche Antworten. Entweder ist der Kapitalismus für Krisen anfällig oder er ist es nicht. Wenn er es nicht ist, macht es wenig Sinn, dann und wann eine Panne auszuweisen. Ist der Kapitalismus jedoch für Krisen anfällig, dann ist es unsere Pflicht sie als Teil eines allgemeinen Phänomens, das den Kapitalismus seit dem frühen 19. Jahrhundert charakterisiert, zu analysieren.“ Und zum Verhältnis von Krise, Staat und emanzipativem Widerstand: ,,Statt das System zu ,managen‘, schlägt sich das Kapital in Folge seiner Klassenherrschaft und vermittelt über den Staat durch seine Krisen. Das geschieht durch Kriege, das Eindringen in die Peripherie und das Abwälzen der Lasten auf die ArbeiterInnen (Beschäftigte und Arbeitslose). Außerdem schaffen die Maßnahmen, die eine Krise kontrollieren sollen, gewöhnlich Bedingungen, die zu einer anderen Krise führen. (...) Der Krisenzyklus läuft seit zweihundert Jahren in dieser Weise ab und die Regierungen, sozialdemokratisch oder reaktionär, waren nicht im Stande ihn zu stoppen. (...) Wieviele Lasten den Menschen aufgebürdet werden, wenn das Kapital versucht, Krisen zu kanalisieren, ist vom Grad des militanten Klassenkampfes für Grundrechte abhängig.“ (Monthly Review-Redaktion 2003)

Warum Amerika es besser hat

Fassen wir also zusammen: Wirft man einen Blick auf die Debatten der nordamerikanischen Linken zur Entwicklung der US-Ökonomie in den letzten drei Jahrzehnten, so sind jene Erfolgsmeldungen über Wachstumsraten und Konsumbegeisterung, die dieser Tage über den Atlantik zu uns kommen, mit äußerster Vorsicht zu genießen. Oder anders: Eben weil die Wachstumsraten der letzten Jahrzehnte sich denen der turbulenten und dunklen Epoche vor 1950 angeglichen haben, eben weil den USA ähnlich wie Japan vor seiner Deflationskrise die Nagelprobe steigender Leitzinsen noch bevorsteht, eben weil in Wahljahren ein ,,political business cycle“ nicht ausgeschlossen ist, scheint ein schnelles Ende der gegenwärtigen globalen Krisentendenzen eher unwahrscheinlich.

Aber: Selbst wenn es den USA, wider alle Erwartung, gelingen sollte eine erneute Aufschwungphase einzuleiten, zeigt die Debatte der nordamerikanischen Linken auch, wer den Preis für einen solchen Aufschwung etwa in den neunziger Jahren zahlen musste und deshalb auch wieder zahlen darf: die ArbeiterInnenklasse der USA. Und: Da hier zu Lande solche sozialökonomischen „Amerikanisierungsprozesse“ allerorten zu beobachten sind, gälte es auch im Falle ökonomischer Konsolidierung konsequent an jene Fragen anzuknüpfen, die, wie gezeigt, in Nordamerika kontrovers diskutiert werden; insbesondere: Kann, und wenn ja wie, der ökonomische Druck auf die Lohnabhängigen tatsächlich abermals oder gar letztlich immer wieder gesteigert werden, ohne dass die aktuellen Herrschaftsverhältnisse delegitimiert werden? Und wenn nicht: Welche strategischen Optionen eröffnet ein womöglich beginnender krisenförmiger Delegitimierungsprozess für eine emanzipative Praxis, deren Horizont nicht durch den ,,politischen Verstand“ (Marx) bestimmt wird? Schließlich: Wenn Krisentheorie und -reflexion mögliche soziale Delegitimierungsprozesse begreifbar und bis zu einem gewissen Grade vorhersehbar macht und deshalb für eine nichtetatistische Linke unentbehrlich ist, wie kann man mit diesem zentralen Bestandteil linker Theoriebildung so umgehen, dass er nicht in den bekannten links-optimistischen Zusammenbruchserwartungen gipfelt?

Dass die nordamerikanische Linke diese Fragen zu stellen nicht aufgehört hat, dass sie sie mit einer schonungslosen, klassentheoretisch fundierten Analyse der eigenen Gesellschaft verknüpft und darüberhinaus immer wieder darum bemüht ist die eigenen Ergebnisse mit Blick auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie kategorial zu überprüfen[v], all dies gibt mit Blick auf die in der deutschsprachigen Linken leider vorherrschende „Klassen- und Marxphobie“, die nicht zufällig einhergeht mit mal mehr oder mal weniger deutlichen Sozialstaatsillusionen, Grund zu seufzen: Amerika, du hast es besser.

e-mal: cubie/ at /web.de


[i] Henwood verweist u.a. darauf, dass 1996 die USA in der Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden pro Jahr und Person weltweit an siebter Stelle standen, nur überflügelt von einigen asiatischen Staaten wie Südkorea, Japan, Taiwan etc; des Weiteren stieg die Anzahl der Arbeitsstunden, die nötig waren um eine Durchschnittsfamilie zu ernähren, von ca. 2800 Stunden im Jahr 1965 auf 3700 Stunden (!!) im Jahr 2001. Interessant ist schließlich auch eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey, die Henwood anführt, und die zu dem Schluß kommt, dass die größten Produktivitätsfortschritte in den neunziger Jahren nicht durch den Einsatz neuer IT-Technologien zu Stande kamen, sondern vor allem in Bereichen wie dem Groß-und Einzelhandel, und zwar durch die immense Ausweitung unbezahlter Mehrarbeit (,,Wal-Mart-effect“).

[ii] Laut einer niedrig angesetzen Schätzung von Henwood gibt es trotz einer lang anhaltenden Krise des verarbeitenden Gewerbes Anfang 2003 16 Millionen Fabrikarbeiter in den USA, die somit 1/8 aller lohnabhängig Beschäftigten ausmachen. (Damit sind lediglich die Kernbelegschaften erfasst. Da jedoch im produzierenden Gewerbe der USA, laut Henwood, Zeitarbeiter immer stärker eingesetzt werden, diese aber in den Statistiken dem Dienstleistungssektor zugeschlagen werden, muss die genaue Zahl um einiges höher liegen.) Zum Vergleich: In sog. „Infotech“-Berufen sind laut dem von Henwood zitierten amerikanischen Buro of Labor Statistics (BLS) im Jahr 2000 2 % aller Lohnabhängigen beschäftigt, wobei für das Jahr 2010 auch lediglich ein Anstieg auf 3 % erwartet wird. Größere Anstiege bis 2010 werden vom BLS eher bei LastwagenfahrerInnen, KellnerInnen, Putzhilfen etc. prognostiziert.

[iii] Hier ein kleiner Auszug aus den vielen Statistiken, die Brenner in jenem Kapitel seines Buches anführt, das sich mit der These vom ,,langen Abschwung“ auseinandersetzt (Beim Bruttoinlandsprodukt und dem Reallohnwachstum sind durchschnittliche Jahresraten der Veränderungen angegeben, bei Nettoprofitrate/Privatwirtschaft und Arbeitslosenquote sind es Durchschnittswerte ):

 

BIP

 

Nettoprft.rt.

Privatwirt.

 

Reallohn-

wachstum

 

Arbeitslos.

quote

               

 

 

1960-1969

1995-2000

1950-1970

1970-1993

1950-1973

1973-1993

1950-1973

1973-1993

USA

4,6

4,2

12.9

9,9

2,7

0,2

4,2

6,7

Japan

10,2

0,8

23,2

13,8

5,7

1,9

2,3

5,7

Dt´land

4,4

1,7

21.6

17,2

6,3

2,7

1,6

2,1

G 7

5,1

1,9

17,6

13,3

-

-

3,1

6,2

 

 

[iv] Als Grundlage dient Panitch und Gindin folgende Statistik zum Wachstum des realen BIP pro Kopf und Jahr aus Angus Maddisons, The World Economy. A Millenial Perspective (OECD 2001):

 

USA

Europa

Welt

1820-1870

1,34

0,95

0,53

1870-1913

1,82

1,32

1,30

1913-1950

1,61

0,76

0,91

1950-1973

2,45

4,08

2,93

1973-1998

1,99

1,78

1,33

Bemerkenswert, weil sie Doug Henwoods These von der ,,workhouse economy“ USA bestätigt, ist noch folgende Tabelle Maddisons über pro Kopf und Jahr geleistete Arbeitsstunden:

 

1973

1998

Veränderung

Westeuropa (12 Hauptländer)

750

657

-93

USA

704

791

+87

Europa zu USA

+46

-134

 

 

[v] Vgl. hierzu etwa: Ben Fine u.a.: „Adressing the world economy: Two steps back“, in: Capital and Class, 67/1999; dt. in: Wildcat-Zirkular 56/57-2000; Fred Moseley: „The decline of the rate of profit in the postwar US Economy: A comment on Brenner“, s: www.mtholyoke.edu/~fmoseley/HM.html (21.3.2003); Ajit Zacharias: „Competition and profitibality: a critique of Robert Brenner“, in: Review of Radical Political Economics, Winter 2002.

 

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