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Karl Reitter Die 68er Bewegung – Versuch einer Darstellung Teil 1 

Es gibt geschichtliche Ereignisse, die keine Theorie vorhersehen kann. Marx ging davon aus, daß die Revolution zuerst in den fortgeschrittensten Ländern losbrechen würde. Die Machtergreifung der Bolschewiki jedoch erforderte massive theoretische Anstrengungen, neue Überlegungen und neue Konzeptionen von Revolution. Die Debatte, wie denn dieses historische Ereignis, und das daraus hervorgehende Regime einzuschätzen sei, ist bis heute mit gutem Grund nicht beendet. Ähnlich stellte die 68er Revolte alle Vorstellungen und Vermutungen über revolutionäre Prozesse aller Schattierungen des Nachkriegsmarxismus auf den Kopf. Nur: Die 68er Bewegung konnte in keinem Land die kapitalistische Herrschaft umstürzen. Noch vor wenigen Jahren konnte zwischen der Russischen Revolution und der 68er Bewegung mit großer Geste ein fundamentaler Unterschied verkündet werden: geschichtsmächtige Tat hier, Fußnote der Geschichte da. Nun, auch diese Bewertung ist inzwischen Geschichte. Aber vielleicht bewirkt auch das letztliche Scheitern der Russischen Revolution, daß manche vom all zu starren Dogma „Weltgeschichte ist Weltgericht“ abzurücken und unvoreingenommen die Frage nach Charakter und den Auswirkungen der bedeutendsten und gewaltigsten Rebellion in den westlich-kapitalistischen Ländern stellen.

Interessanterweise ist der Stachel der 68er Bewegung noch immer nicht erloschen. Sie ist kein besonders beliebtes Thema, eher ein Vorfall, der mit ärgerlicher Gebärde entsorgt werden soll. In den bürgerliche Medien bewirkt 68 nur ein Kaleidoskop an Assoziationen – Kommunen, freie Liebe, Drogen, revoltierende StudentInnen – ernsthaftere Untersuchungen, seien sie aus linker oder akademischer Perspektive geschrieben, zerlegen das Phänomen 68er Bewegung oftmals bis zur Unkenntlichkeit in Teilaspekte, in den Mai 68 in Frankreich, die deutsche StudentInnenbewegung, die amerikanische Hippie-Szene usw. Für linke Gruppen und Organisationen, immer auf der Suche nach großen historischen Ereignissen, mit denen sie ihre eigene Identität zu legitimieren suchen, ist 68 wenig ergiebig. Zu flüchtig, unstet und zu vielfältig war dieses Ereignis, um daraus bestätigende Bezüge zu gewinnen. Eher geht es dabei um Überwindung. Aber ich vermute in der zumeist unwirschen Abwehr der 68er Bewegung gegenwärtig mehr als ein bloßes Beharren auf das hier und heute. Es ist mehr, als daß das Bedenken eines geschichtlichen Ereignisses die gegenwärtige Orientierung verwirren und verkomplizieren könnte. Ich meine, daß diese eigentlich gescheiterte Bewegung doch das Verständnis von Emanzipation und Revolte, den Begriff der Revolution so nachhaltig verändert und durch gesellschaftliche Praxis neu definiert hat, daß jene, die hartnäckig hinter dem Stand dieses historischen Ereignisses unverdrossen ihre Politik abspulen, nicht zu unrecht dieses Thema meiden wie der Teufel das Weihwasser. Die 68er Bewegung hat sich nie mit Kleinigkeiten abgegeben. Das war zumindest ihr Anspruch. Ihre Themen waren immer die ganz großen. Das Verhältnis von individueller zu kollektiver Emanzipation, das Verhältnis der revolutionären Veränderungen konkret hier und jetzt im Alltag zum großen Horizont der Weltrevolution, die Solidarität aller trotz und gerade ob der großen Unterschiede der rebellierenden Subjekte, die Ausweitung der Kritik am Kapitalismus bis tief in das a priori der Technik, Herrschaft und Kultur hinein, die Tiefenwirkungen der kapitalistischen Herrschaft auf Triebe, Wünsche, Sexualität und Wahrnehmungsfähigkeit, das waren die Themen der 68er Bewegung. Die kleinen-Brötchen-BäckerInnen der real existierenden Zivilgesellschaft grinsen angesichts dieses Horizonts und verweisen feixend auf das Scheitern der Bewegung und die Korruption von Personen, die sie in historischer Unkenntnis und selbstverschuldeter Ahnungslosigkeit für Protagonisten der damaligen Ereignisse halten. Ich erlaube mir nun ein wenig Pathos und halte dem uninformierten Gerede[i] „Die RebellInnen von damals sind die KarrieristInnen von heute“ folgendes Zitat entgegen: „Aber täuschen wir uns nicht: Es gibt Gewinnler der Revolte und die Verlierer. (...) Die Zahl dieser Revolteverlierer darf nicht unterschätzt werden, auch wenn sie im öffentlichen Smalltalk nicht vorkommen. Es sind die Besten ihrer Generation; sie haben ihre lebensgeschichtlichen Entscheidungen nicht auf Kosten anderer getroffen – diese faulige, unverbindliche Kompromißhaltung, die die Menschen einsam, sentimental und unglücklich macht...“ (Mosler 1977; 1f) Viele der RebellInnen von 1968 haben ihr Engagement mit ihrer psychischen und physischen Gesundheit, manche sogar mit dem Leben bezahlt; viele blieben auf der Strecke, das sollten wir nicht vergessen. 

Äußerliche Merkmale der 68er Bewegung

Es ist schon eigenartig, daß zur Kennzeichnung allein eine Jahreszahl dient – eben 1968. Ich kenne kein zweites geschichtliches Ereignis, bei dem allein die Zeitangabe zur Charakterisierung genügen würde.[ii] Ob das bloße Nennen einer Zahl Ausdruck der Schwierigkeit sein mag, diese Bewegung mit einem klar umrissenen Inhalt zu identifizieren? Immerhin, die zeitliche Eingrenzung ist kaum umstritten. „Zwischen der zweiten Hälfte der 60er Jahre und dem Anfang der 70er findet eine Revolution statt, die nahezu alle Länder erfaßt: eine tiefgreifende Veränderung der Machtapparate, der Organisation der Produktion und der gesamten Sozialstruktur.“  (Viale 1979; 8) Obwohl die Bewegung einen von Land zu Land unterschiedlichen Rhythmus aufweist – in den USA begann sie bereits Ende der 50er Jahre um langsam in den 70ern auszuklingen, während sie in Frankreich innerhalb von 6 höchst ereignisreichen Wochen stattfand – erreicht sie simultan in den Jahren 67 bis 69 ihren Höhepunkt. In diesen drei Jahren überstürzen sich die Ereignisse und Geschehnisse. Die Dichte der Zeitfolge verweist auf höchste Simultanität; es kann kein Zentrum ausgemacht werden, von dem sich die Bewegung in geographischen und zeitlichen konzentrischen Kreisen ausgebreitet hätte[iii]. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse wurde von den ProtagonistInnen selbst als eines, wenn nicht das stärkste Argument für die geschichtlichen Möglichkeiten der Revolution benutzt. Konnte es Zufall sein, daß „überall“ auf der Welt der Sturm gegen das Establishment losbrach? In den Augen der damaligen Bewegten keineswegs: „Und in dem wärmenden Lichtschein dieser großartigen und utopischen Idee (der Revolte K.R.) schienen tausend disparate Ereignisse überall in der Welt – die Studentenerhebungen, die Experimente der Hippies, der Wandel religiöser Vorstellungen und Werte, der Aufstieg des Kommunismus in manchen Ländern sowie die ersten Anzeichen seines Sturzes an anderen Orten, die Black-Power-Bewegung bis hin zu Feminismus und aufrührerischen Impulsen der Zeit – zu einer einzigen Flutwelle zu verschmelzen.“ (Berman 1998; 8f)

 Geographisch würde ich die 68er Bewegung auf Nordamerika, Japan und Europa beschränken. Ob in Lateinamerika von einer 68er Bewegung zu sprechen ist, ist nicht einfach zu beantworten. Ebenso ist es schwierig, das Ausmaß und Anteil der 68er Bewegung in den Ländern des sogenannten Realen Sozialismus einzuschätzen. Daß die westliche 68er Bewegung die Guerilla in Südamerika ebenso für sich reklamierte wie die Kulturrevolution in China und sich damit identifizierte, heißt natürlich noch lange nicht, daß es tatsächlich inhaltliche Übereinstimmung gab. Aber lassen wir es vorerst bei dieser groben zeitlichen und geographischen Einordnung.

Bei der Frage nach den sozialen und gesellschaftlichen TrägerInnen der Bewegung stoßen wir auf zwei Vokabeln: „Jugend“ und „StudentInnen“. Beide Ausdrücke sind mit spezifischen Deutungen der 68er Bewegung verbunden, die in den verschiedensten Variationen bis zur Gegenwart vertreten werden. Wer die 68er Bewegung vor allem als Jugendbewegung charakterisiert, interpretiert die Rebellion zumeist als ödipales Spektakel, als ob das Aufbegehren und der Widerspruch eine Art ontologische Eigenschaft einer bestimmten Entwicklungsphase in der Sozialisation des Menschen wäre. Diese elegante Art, das Phänomen 68er Bewegung weg zu theoretisieren, gibt es in zahlreichen Varianten. So etwa als die (zumeist) ödipal gewendete Theorie der Generationen, auf Karl Mannheim aufbauend, oder als atavistische Reminiszenz der historischen Romantik, in der eine sich selbst ermächtigende Jugend dem Weltlauf den Eigendünkel ihres Herzens entgegensetzt; als ob die 68er Bewegung sich auf eine Wiederholung der Jugendbewegung der Jahrhundertwende reduzieren ließe. Solche a-historischen Ansätze, die universal gültige Entwicklungsstufen postulieren, beweisen immer zugleich zuwenig und zuviel. Zuwenig um den spezifischen Charakter der 68er Bewegung zu erklären, zuviel, um den Konformismus der nächsten Generation zu deuten. Ihre entlastende Funktion, Protest und Revolte nicht ernst nehmen zu müssen, liegt auf der Hand. 

Was die einen mit der „Jugend“ versuchten die anderen mit den „StudentInnen“, um die Herausforderung und Bedrohung durch diese unerhörte Revolte zu entsorgen. Hier waren es vor allem die kommunistischen Parteien, allen voran die KPF, die mit der einfachen Gleichung „ein Student ist kein Arbeiter, also ist die 68er Bewegung eine kleinbürgerliche Bewegung“, phasenweise massiv gegen die Revolte opponierte. Aber selbst diese oberflächliche Etikettierung als „studentisch“ ist nicht wirklich korrekt. Als 1968 bei Unruhen als Antwort auf das Attentat auf Rudi Dutschke in der damaligen BRD 847 Beschuldigte festgenommen wurde, gab Ernst Benda (CDU) am 30.4.1968 vor dem Deutschen Bundestag über Alter und Identität der Verhafteten folgende Auskunft: „Von den Beschuldigten sind 87 bis zu 18 Jahre als, 210 zwischen 19 und 21 Jahren, 246 zwischen 22 und 25 Jahren, 286 Personen sind älter als 25 Jahre. Nach Berufen aufgegliedert ergibt sich folgendes Bild: 92 sind Schüler, 286 Studenten, 185 Angestellte 150 Arbeiter, 31 sonstige Berufe, 97 ohne Beruf, unbekannt ist der Beruf bei 26 Personen. Meine Damen und Herren – diese Aufgliederung scheint mir zu zeigen, wie falsch es wäre, die Gewaltaktion als Studentenunruhen zu bezeichnen“ (Zitiert nach Mosler 1977; 76) Der wahre Kern in der Bezeichnung der 68er als „StudentInnen“ lag einfach darin, daß die AktivstInnen nicht aus jenen Kreisen kamen, die von den kommunistischen Parteien als sogenannte „Kernschichten der ArbeiterInnenklasse“ bezeichnet wurden. Vor allem: Die Revolte nahmen Themen auf, entwickelte Aktionsformen und formulierte Ideale, die auch die nach Moskau orientierten kommunistischen Parteien zu tiefst beunruhigen mußten. Um so größer war das Aufatmen in den Reihen der KPen, als die 68er Bewegung zusammenbrach, und in der BRD allerlei Parteiaufbauprojekte begonnen wurden. Der stalinistische Vordenker Walter Harich kommentierte diese Wende in äußerst bezeichnender Weise: „Ganz am Rande bemerkt, läuft die jüngste Entwicklung auch darauf hinaus, daß besorgte Eltern es wahrscheinlich dem Einfluß der M.L., mitsamt der unter linken Studenten neuerdings um sich greifenden Stalin-Renaissance, zu verdanken haben werden, wenn ihre Kinder vor Rauschgiftsucht bewahrt bleiben sollten.“ (Harich 1971; 99) 

Andererseits soll natürlich nicht geleugnet werden, daß StudentInnen soziologisch oftmals einen nicht unbedeutenden Teil der AktivistInnen stellten. Allerdings, die gesellschaftliche Lage der StudentInnen war rapide im Umbruch begriffen. In allen westlichen Industrieländern stieg die Zahl der StudentInnen seit den 50er Jahren beträchtlich! Aus der Eliteuniversität mit elitärer sozialer Zukunft für die AbsolventInnen wurde binnen weniger Jahre eine Massenuniversität, inklusive höchst unsicherer beruflicher und gesellschaftlicher Zukunft für die AbsolventInnen. Aus heutiger Sicht ist es leicht zu erkennen, daß sich Mitte der 60er Jahre die Auflösung klarer sozialer Identitäten abzuzeichnen begann, die gegenwärtig ja mit Händen zu greifen ist. Haben wir mit der grundlegenden Transformation des gesellschaftlichen Seins von StudentInnen und der damit korrespondierenden Umwälzungen im Ausbildungssektor ein unterirdisches, von den damalige ProtagonistInnen noch nicht klar erkennbaren objektiven Faktor für die 68er Bewegung gefunden? Wir sollten nicht den Fehler vieler interessanter Analysen der 68er Bewegung wiederholen, sofort eine plausible Erklärung zum Nabel der Interpretation zu machen. Lassen wir die Transformation des Bildungssektors als ein mögliches Motiv der Revolte einmal so stehen, und sehen wir weiter.

Ein weiteres Merkmal ist die ungeheure Beschleunigung und Dichte der biographischen Prozesse jener, die an der Bewegung Anteil hatten. „Welch ein Jahr der Irrungen und Wirrungen, dieses 1969. Alles war in Auflösung begriffen, alle gingen auf Reisen – in sich selbst, zu Gurus nach Indien, nach Italien, wo die Klassenkämpfe und das pralle Leben tobten, zu den nationalen Befreiungsbewegungen in Süd- oder Mittelamerika oder nach Palästina. Welch ein Jahr der Windungen und Wendungen, dieses 1969. An einem Tag Haschrebell und Stadtindianer, am nächsten maoistischer Kader und Fabrikarbeiter, an einem Tag Stadtguerilla, am Nächsten JUSO-Funktionär, Jungunternehmer, Verleger, Kunstkritiker, Theater und Filmregisseur. Eindeutig erkennbar war nur die Unübersichtlichkeit, waren Fluchten auf der Suche nach Selbstverwirklichung, Aufbrüche zu neuen Ufern.“  (Kunzelmann 1998; 107) Für die ProtagonistInnen eröffnete sich ein offenes Feld von Möglichkeiten und Freiheiten. Der deutsche Liedermacher Funny van Dannen hat in seinen Song „Als Willi Brandt Bundeskanzler war“ die nette Strophe eingefügt: „Wir warn so unbeschwert, sogar beim Geschlechtsverkehr...“ Unbekümmertheit und Leichtigkeit war die eine Seite, die sich auf eine Art mit Ernsthaftigkeit und Konsequenz verknüpfte, wie sie eben nur im Geist der 68er Bewegung zu finden war. „Innerhalb eines Jahres, hauptsächlich nach dem Juni 1967, radikalisierten sich junge Frauen und Männer sehr schnell, gaben sehr bald ihre ‚Bürgerlichkeit’ auf, trennten sich von ihren sozialen Milieus, stellten ihre Berufswünsche um, schlossen sich Gruppen an und wurden kurzfristig ‚Berufsrevolutionäre’“; so beschreibt Rabehl den Werdegang vieler Mitglieder des SDS (Rabehl 1998; 39) Und Viale betont das Ausmaß der Entwicklung jener, die sich im Mahlstrom der 68er Bewegung wiederfanden: „Der Bruch mit der Vergangenheit, den sie vollziehen, ist aber gewaltig: hinter sich lassen sie familiäre Repression (aber auch familiäre Sicherheit), vorgefertigte Sicherheiten, einen sicheren sozialen Aufstieg, eine graue, aber bequeme Zukunft.“ (Viale 1979; 55) Wie eng tiefe Ernsthaftigkeit und provokante Clownerie biographisch verwoben waren, zeigt zum Beispiel die Entwicklung von Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann. Noch 1966 hatten sie gemeinsam mit einigen anderen am Kochel See in Bayern als Mitglieder der „Subversiven Aktion“ die Möglichkeiten revolutionärer Praxis, insbesondere die Gründung alternativer Wohnkommunen diskutiert, seit 1959 hatten sie in der Gruppe SPUR (die sich etwas großmäulig deutsche Sektion der situationistischen Internationale nannte)[iv] zusammengearbeitet, so trennten sich ihre Wege unmittelbar nach ihrer Übersiedlung nach Berlin. Als am 12.5.67 die Kommune I aus dem SDS ausgeschlossen wurde, war Kunzelmann einer der KommunardInnen, die den SDS verlassen mußten, während Dutschke zum wichtigsten Wortführer der „rebellierenden StudentInnen“ geworden war.  

Anteil an der 68er Bewegung haben, bedeutete die rapide Beschleunigung der persönlichen Entwicklung. Aber wohin die Reise ging, in einem Klima unbeschwerter Aufbruchstimmung und monatlicher neuer Entdeckungen, das war keinen Moment eindeutig. Wir müssen zu den Polen Ernsthaftigkeit – Unbeschwertheit noch zwei weitere, wichtige Momente denken, um begreifen zu können, was es bedeutete, damals Teil der Bewegung zu sein. Alle unvereingenommenen AutorInnen unterscheiden den kulturellen vom politischen Flügel. „Die Jugendbewegung der 60er Jahre hatte in der BRD und in Frankreich vorwiegend politischen Charakter und wurde Studentenbewegung genannt; in England war es eine Kulturrevolte und eigentlich nur in den USA waren deutlich sichtbar diese beiden Momente in einer identischen Bewegung zusammengefaßt.“ (Marks 1977; 55) Ein wenig muß ich Stephan Marks widersprechen, in allen Ländern gab es diese Strömungen. Wichtig ist festzuhalten, daß diese Trennung in den kulturellen und in den politischen Flügel eine rein analytische ist, die sich erst im Laufe der Entwicklung herauskristallisierte. In der genuinen 68er Bewegung, die in diesem magischen Datum wohl zugleich ihren Höhepunkt und ihr eigentliches Ende hatte, waren diese Momente nicht wirklich getrennt. „Auf dem Höhepunkt der Bewegung standen für kurze Zeit die radikaldemokratisch - sozialistische Studentenbewegung und das mehr gegenkulturell - anarchistische street movement in enger Wechselbeziehung und produzierten eine Synthese von gegenkulturellem Lebenszusammenhang und politischem Kampf.“  (Leineweber/Schibel 1975; 6) Anders gesagt, mit der Trennung setzt der Verfall ein. Diese These ist nicht nur bei Marks selbst zu finden: „Die vollständige Trennung der Kulturrevolte von der Studentenbewegung auch in den USA war die erste und tiefgreifendste Spaltung der Jugendbewegung, nämlich ihr Ende.“ (Marks 1977; 55) sondern auch in der Bilanz von Herbert Marcuse. Er erklärt diese Trennung aus dem Umstand, daß es der Bewegung nicht wirklich gelang, Masseneinfluß zu erlangen. „Allergisch gegen ihre tatsächliche Trennung von den Massen und nicht bereit, einzusehen, daß sich darin die gesellschaftliche Struktur des fortgeschrittenen Kapitalismus ausdrückt und daß ihr separater Charakter nur im Verlauf eines langen Kampfes um Veränderung dieser Struktur überwunden werden kann, zeigt die Bewegung Minderwertigkeitskomplexe, Defätismus oder Apathie.“  Daher, so Marcuse weiter, müsse sie in zwei Flügel zerfallen, die jeder für sich an spiegelbildlichen Defiziten krankt. „Dieses Verhalten begünstigt die Entpolitisierung und Privatisierung des Hippie-Flügels, dem der politischen Flügel seinen politischen Puritanismus in Theorie und Praxis entgegensetzt.“ (Marcuse 1973; 43) 

Dieser Bruch vollzog sich in den verschiedenen Ländern  in unterschiedlichem Tempo und Intensität. In den USA wurde er nie wirklich radikal vollzogen[v], während in Frankreich beide Flügel immer weitgehend getrennt waren. Punktuell gab es auch Entwicklungen, die den politischen und den kulturellen Bereich wieder aneinander annäherten, etwa die nicht unbedeutende Arena Bewegung im Sommer/Herbst 1976 in Wien. Die historische Distanz zu den Ereignissen ermöglicht es uns heute, klar zwischen der Selbstinterpretation und Selbstdeutung der damaligen AktivistInnen und ihrem tatsächlichen Tun zu unterscheiden. Der Zerfall einer einheitlichen Bewegung in den politischen und kulturellen Flügel wurde, insbesondere in der damaligen BRD vom politischen als Überwindung der antiautoritären Phase, als Klärungsprozeß usw. gefeiert. Tatsächlich meine ich, daß dieser Bruch einen wichtigen Rückschlag für die 68er Bewegung bedeutete, die ihr weiteres Schicksal wesentlich bestimmen sollte.    

Subjektive Merkmale der 68er Bewegung

Michael Rutschky schrieb ein Buch, in dem er sensibel die Unruhe und die Aufbruchstimmung deutscher Germanistik - StudentInnen um 68 beschreibt. Das genialste ist vielleicht der Titel: „Erfahrungshunger“. Wenn wir „Erkenntnishunger“ hinzusetzen, haben wir schon einiges an jener Subjektivität angezeigt, die 68 kennzeichnete. Die kapitalistische Gesellschaft war in den Augen der 68er nicht bloß eine, die auf Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Lüge basierte, sie war eine – und hier tritt die eigene Subjektivität ins Spiel – die Erfahrung und Erkenntnis abriegelte, verunmöglichte und verleugnete. Sie stellte sich nicht bloß als höchst repressiv, ja hysterisch dar, sie wurde als verarmt, reduziert und in ihrer steifen Selbstgefälligkeit als lächerlich erkannt. Sie ließ Erfahrung ebenso wie Erkenntnis nicht zu, sie hatte dahingehend einfach nichts zu bieten, abgesehen von einem künstlichen Schauspiel, vom „Spektakel“ der Repräsentation und Politik und von plumper Manipulation der Medien. Der ungeheute Haß, der sich nach dem Attentat auf Dutschke sofort gegen die Springer-Presse (Bild-Zeitung) entlud, hatte etwas programmatisches. Springer – das war die Fassade, die Lüge, aber auch die Leere. Erfahrung und Erkenntnis zu suchen, hieß die Grenzen des Establishment zu überschreiten. Der Begriff Establishment, selbst Herbert Marcuse verwendete diesen Ausdruck oft und gerne, ist vom 68er Geist nicht zu trennen. Establishment, das ist mehr als die herrschende Klasse in der marxistischen Analyse, das sind auch nicht einfach die Etablierten, das sind in Wirklichkeit all jene, die bewußtlos mitmachen. Es sind all jene, die ein Universum stützen, das authentische Erfahrung und Erkenntnis verunmöglichen. Sie verunmöglichen dies aber nicht bloß durch Repression und Herrschaft (das auch), sondern weil der Alltag, das Private, das Nebensächliche, das scheinbar Unwichtige, gegen neue, authentische Erfahrung abgeriegelt ist. Herrschaft ist nicht bloß ideologisch, sie ist praktisch, konkret. Daher der Spruch, „Das Persönliche ist Politisch“. Gerade weil der Alltag von Heterogenität durchdrungen ist, muß exakt hier die Rebellion ansetzen. Von der Trennung der Sphären, von der Eigenlogik gesellschaftlicher Subsysteme, wie sie in den Soziologien von Luhmann und Habermas auftauchen, hielt die 68er Bewegung nichts. Gesellschaft wurde als Totalität erfahren, aber als eine Totalität, gegen die durchaus ein Kraut gewachsen war. Der Kampf gegen Imperialismus und ungerechte Verteilung war eigentlich nur die äußerlichste Erscheinungsform eines viel tiefer liegenden Konflikts. Es ging um die Wiederaneignung der Welt selbst.  

Eine der oberflächlichsten Charakterisierung der 68er Bewegung mündet im Ausdruck „antiautoritär“.  Wer so spricht, erkennt nicht die fundamentale Spaltung in „Wir“ und „Sie“, die die 68er Bewegung imaginierte. Ihr Weltbild war zutiefst dichotom. Auf der einen Seite stand das Establishment mit seinen RepräsentantInnen, auf der anderen Seite „die Bewegung“, eben das „wir“, welches mit revolutionären Kräften von Cuba, Vietnam bis hin zu den „Wissenden“ (Hip = erfahren, weise), also den Hippies identifiziert wurde. Wir lächeln heute über diese naive Aufteilung der Welt in Gut und Böse. Aber mir geht es jetzt nicht um die offenbare Naivität, sondern um das Fehlurteil des Antiautoritarismus. „Antiautoritär“ war die 68er Bewegung ausschließlich gegenüber dem Establishment und jenen, die als ihre Vertreter identifiziert wurden. In der anderen, bessern Hälfte der Welt, zeigte sich die Bewegung als suchende, forschende. Theodore Roszak interpretiert die 68er zwar auch als Jugendbewegung, aber diese Charakterisierung ist ihm nur eine grobe Folie, auf der er sehr kluge Einsichten aufbaut. Er weiß, daß auf die erste Entdeckung nicht unmittelbar die kritische Reflexion folgen kann: „In unserer Jugendkultur jedoch stehen wir gerade erst am Anfang. In der Springflut von Entdeckungen, Experimenten und verhaltener Faszination wäre es vielleicht zuviel verlangt, wollte man von den Jugendlichen diszipliniertes Vorgehen bei ihrem Unternehmen erwarten – und mit Sicherheit wäre es Unfug, wollte man versuchen, einzelne aus ihrem glücklichen Chaos herauszuführen. Sie sind auf einen lange vergrabenen Schatz gestoßen und nun eifrig dabei, das wunderliche Glitzerzeug durch ihre Finger rinnen zu lassen.“ (Roszak 1971; 212) Diese Entdeckungen trugen natürlich verschiedene Namen: Reich, Marx, Mao, Luxemburg aber auch LSD, Cannabis, Indien, die Lehren des Don Juan usw.; also all jene Momente, die die journalistische Darstellung von 68 so schön zu buchstabieren weiß. Gegenüber dem, was die Bewegung als authentisch, als den Erfahrungshunger stillend zu erkennen glaubte, verharrte sie zumeist in stiller Ehrfrucht und Anerkennung. Daß sich die ProtagonistenInnen gegenüber den etablierten Autoritäten zumeist rotzfrech und provokant verhielten, darf nicht übersehen lassen, daß genau die selben Personen mit tiefer Ernsthaftigkeit Lehren, Erfahrungen und Botschaften rezipierten, die wir heute wohl nicht so ernst nehmen würden. Den Ruf, substantiell antiautoritär zu sein, erwarb sich die Bewegung nicht zuletzt deshalb, weil sie auch die Sozialdemokratie und die kommunistischen Parteien als Moment des Establishments begriff und sich dementsprechend verhielt. In der Bezeichnung „antiautoritär“ spiegelt sich bei jenen, die diese Charakterisierung auch noch heute aussprechen, die geheime Erkenntnis, den emanzipatorischen Standards der damaligen Bewegung noch immer nicht zu entsprechen. Wohl nicht zu unrecht.  

Wohl eine der wichtigsten Erfahrungen die die aufkeimende Bewegung machte, war die völlig überzogene und unangemessene Reaktion des Establishments. Schulbehörden und Politiker, Polizeikräfte und Medien reagierten, als ob die Revolution tatsächlich bevorstünde. Polizeieinsätze, oft nur gegen einige hundert DemonstrantInnen, wurden mit einer Brutalität durchgeführt, als ob der Sturm auf das Winterpalais tatsächlich bevorstünde. Handelte es sich bei den 68ern tatsächlich um eine Massenbewegung? Wenn wir einmal den Mai 68 in Paris und die Kämpfe in den norditalienischen Industriezentren ausblenden, so war die Anzahl der wirklich Aktiven oft erstaunlich gering. Während der 50er Jahre hatte es Demonstrationen gegeben (Ostermarschbewegung), die weit mehr Menschen mobilisieren konnten, als in den Jahren 67 bis 69 auf die Straße gingen und die Größe etwa der „grünen“ Anti-AKW Demonstrationen, sowie die Proteste in Seattle, Prag und Genua stellten von der Quantität der Teilnehmer alles in den Schatten, was die 68er als Massenprotest organisieren konnten. Wer also einfach DemonstrantInnen zählt oder die Anzahl der Kundgebungen, für den verschwindet 68 überhaupt als Phänomen. Nicht nur in Österreich, auch jenseits der Grenzen war vom revolutionären Geist oft wenig zu spüren. Kaum eine Darstellung der Ereignisse in Frankreich verzichtet darauf, den Artikel von Vianson-Ponté aus Le Monde zu erwähnen, der noch am 15. März 1968 seinem Beitrag den Titel gab: „Frankreich langweilt sich“.[vi] Und selbst in der BRD reduzierten sich Ereignisse, über die die Presse berichten konnte, im Wesentlichen auf die Städte Berlin und Frankfurt.  

 [Die Graphik ist der Arbeit „Straßenprotest“ von Thomas Balistier (1996; 337) entnommen.] 

Die eigentliche Stärke der 68er lag nicht in der Quantität, sie lag in der Qualität. Jede undeutende Aktion wurde zur großen Provokation, eine handvoll Personen konnte durch ironische oder agitatorische Aktivitäten einen Sturm der Entrüstung auslösen. Reinhard Kahl, der zum leitenden Mitglied der USSB (Schülerorganisation) wurde, schrieb in seinen Erinnerungen. „Als sich in den USA der reaktionäre Barry Goldwater um die Präsidentschaft bewarb, brachten wir von Arko Aufkleber der Ostermarschorganisation „Kampagne für Abrüstung“ mit in die Schule. Da stand drauf: „Gott behüte uns und unser Haus vor Barry Goldwater und Franz Josef Strauß“. Den Aufkleber backten wir sofort außen an die Klassentür, gut sichtbar. Zum ersten Mal zündelten wir in der Schule, und gleich brannte es. Lichterloh. Daß das Stroh so trocken war, hätten wir nicht geglaubt.“ [vii] Aber die Reaktion bestand nicht bloß in Hysterie. Zugleich wurde der Protest auch bitter ernst genommen. Der seinerzeit bekannte Fernsehmoderator Günter Gaus führte ein einstündiges Interview mit Rudi Dutschke durch. Im Gegensatz zu den heutigen Talk-Shows wurde Dutschke damals keineswegs als schrille Figur, als irrer Revoluzzer oder als gefährliches Monster vorgeführt, sondern (trotz einiger relativierender Worte am Beginn der Sendung) als ernstzunehmender Gesprächspartner, dem natürlich klar widersprochen werden mußte. Aber Widerspruch gegen Dutschke war schon deshalb so notwendig, weil er offenbar ernsthafte Argumente vorbringen konnte. Auch wenn die Bewegung oft klein und schwach war, so konnte sie zu recht moralische Überlegenheit für sich reklamieren. Diese moralische Überlegenheit fokussierte sich  in einer Frage: dem Krieg der USA gegen Vietnam. Bei diesem Thema wußte die Bewegung ihre unangefochtene Hegemonie auszuspielen, hier wußte sie sich im Bündnis mit liberalen, ja bürgerlichen Kräften, die noch einen Funken Anstand und Ehrlichkeit für sich reklamierten. 

In der BRD und Österreich konnte die Bewegung zudem am offiziellen Antifaschismus anknüpfen. Einerseits als Staatsdoktrin verkündet, entpuppte sie sich stets als folgenloses Lippenbekenntnis, ja als Heuchelei. Alte und neue Nazis saßen unbehelligt an den höchsten Stellen im Staatsapparat und in den Parteien, wie etwa der in Wien lehrende Professor Borodajkewicz, der unbehelligt antisemitische Tiraden verkünden konnte[viii]. In den Augen der damaligen Bewegung war dies ein klarer Beweis für Doppelmoral und den faschistoiden Charakters des Establishments.

Es ist einfach, diese Konstellation in treffende Metaphern zu kleiden und etwa zu sagen: Die 68er Bewegung hatte den Zeitgeist auf ihrer Seite oder den Wind der Geschichte in ihren Segeln. Solche Bilder geben zwar treffend die objektive Situation wie die subjektive Erfahrung wieder, können jedoch eine analytische Erklärung nicht ersetzen. Doch nochmals - bevor wir zu schnell Urteile fällen, sollten wir versuchen, ihre Elemente besser zu verstehen.

Aus der Praxis der 68er Bewegung 

„Das Neue an der Bewegung ist die sozusagen reine Form, in der die eigenen, unmittelbaren Lebensbedingungen in die revolutionäre Debatte eingebracht werden;“ (Viale 1977; 14) Unmittelbarkeit ist wahrscheinlich der treffendste Ausdruck, um 68 zu charakterisieren. Diese Unmittelbarkeit beschränkte sich aber nicht bloß auf Diskussionen, sie konkretisierte sich in einer breit gefächerten Praxis, in neuen Formen sozialer Beziehungen, in einer Unzahl konkreter Projekte. Ich werde versuchen, diese im folgenden kurz anzureißen und nenne vorerst nur einige wichtige Felder, in denen die 68er aktiv wurden: Wohngemeinschaften und Kommuneprojekte, Buchproduktionen und Raubdrucke, Reisen und Drogen, Musik, Sexualität, neue Formen des politische Handelns wie die Happenings, die Provokation und das Teach-In, Kinder und Pädagogik, Kleidung, und Nahrung, Psychiatrie und Gefängnis.[ix] Die traditionellen kommunistischen Parteien standen dieser Praxis mit vollkommenem Unverständnis gegenüber. Für sie zerfiel Politik in zwei Ingredienzien, in Interessen und Macht. Interessen, die tatsächlichen und viel mehr noch die vermeintlichen der Arbeiterklasse mußte durch geschickte Taktik und Strategie in das Netz der Machtkonstellationen eingeschrieben werden. In letzter Instanz lief es immer darauf hinaus, Einfluß und Macht der Partei zu stärken. Die 68er Bewegung hingegen beharrte auf Unmittelbarkeit, auf einem anderen Leben. Zugleich, und das stellte die ApologetInnen des Sowjetkommunismus vor nicht geringe Probleme, verlor die Bewegung das große Ziel, die gesamtgesellschaftliche Umwälzung auf Weltebene, nie aus den Augen. Marcuses Begriff der „Großen Weigerung“ traf den Nagel auf den Kopf. Dem Universum des Establishments ein anderes entgegenzusetzen, das freilich erst entwickelt werden mußte. Dazu sollte eine Praxis entwickelt werden, die Marcuse in ihrer Bedeutung klar erfaßt hat. „Eine solche Praxis“ schreibt er über das Paradigma der Projekte der 68er Bewegung, „umfaßt den Bruch mit dem Wohlvertrauten, den routinierten Weisen des Sehens, Hörens, Fühlens und Verstehens der Dinge,...“ (Marcuse 1969; 19) „... die Revolution muß gleichzeitig eine Revolution der Wahrnehmung sein, welche den materiellen und geistigen Umbau der Gesellschaft begleitet und neue Umwelt hervorbringt.“ (Marcuse 1969; 61) Revolution der Wahrnehmung? Wem die Thesen Herbert Marcuses wie ein Buch mit sieben Siegeln erscheinen, der sollte sich zu 68 eher mit Vorsicht äußern... 

Kommunen und Wohngemeinschaften

 Wie lächerlich es ist, 1968 durch einige blasse Formeln auf den Begriff bringen zu wollen, zeigt allein schon das Thema der Kommunen und Wohngemeinschaften. Die Idee, Gemeinschaften zu gründen, die jenseits (und gegen) die herrschenden Verhältnisse Ideale durch konkretes Zusammenleben verwirklichen wollten, gab es natürlich schon lange vor 1968. Ich erinnere an den von Engels sehr geschätzten Robert Owen und seine Projekte oder an Monte Verita und dessen wechselvolle Geschichte. Um 1968 kam es simultan zu einem Aufleben von Kommunegründungen. Der Bogen spannte sich von den berühmt-berüchtigten K I und K II in Berlin, über die Gründung von Auroville im indischen Bundesstaat Tamil Nadu bis zu den großen Hippie Siedlungen in Haight Ashbury (San Fransisco) und East Village (New York). Ebenso bunt, wie Größe und personelle Zusammensetzung war auch das Selbstverständnis der  Kommunarden. Klaus Vollmar hatte die Kommunen in den USA bereist, und berichtete von spiritueller, anarchistischer, mystischer, sektenhafter aber auch sehr politischer Ausrichtung. Es gab Kommunen, die Drogen ablehnten und andre, die sie als Mittel der Erkenntnis feierten. Einige Kommunen orientierten sich am Roman von Henry David Thoreau „Walden“[x]. Nicht wenige Landkommunen scheiterten an den Anforderungen der strengen Winter in Nordamerika. „Von nahezu 200 ruralen Kommunen, die im Herbst 1967 in den USA überall gegründet wurden, bestanden denn auch im Frühjahr 1968 nur noch deren 62.“ (Hollstein 1969; 132) Viele waren jedoch sehr langlebig, und die berühmte Kommune Twin Oaks existiert heute noch und lädt auf ihrer Webseite http://www.twinoaks.org/index.html zu Besuchen ein.

 Wieviele Menschen um 68 in solchen Projekten lebten (und heute noch leben), darüber existieren kaum Daten. Dieses Fehlen kann nicht nur mit demoskopischen Problemen erklärt werden[xi], tatsächlich gab und gibt es ein massives Desinteresse sowohl innerhalb der akademischen als auch der linken, marxistischen Wissenschaft, dieses Thema ernst zunehmen. Ich kenne bloß die Zahlen von Schwendter und Vollmar. Schwendter nennt Quellen, die etwa 2000 Landkommunen in den USA vermuteten, aber ebenso die Schätzung von Judson Jerome, der von weit größeren Zahlen ausging (20.000 bis 30.000 Kommunen). (Schwendter 1981; 377) Klaus Vollmar zitiert Robert Houriet, der 400.000 Kommunenmitglieder in den USA vermutete. Etwas genauer lassen sich die Anzahl der BewohnerInnen der beiden großen Hippie-Kolonien in New York und San Francisco bestimmen. In Haight Ashbury lebten zwischen 30 und 50 Tausend Menschen, am Höhepunkt (Sommer 1967) sollen es fast eine halbe Million gewesen sein, in East Village an der Ostküste hingegen etwa 10 bis 15 Tausend.[xii]  

Während es kaum ernsthafte quantitative Untersuchungen gibt, existiert hingegen eine Flut an Literatur, in der die verschiedensten Projekte von den ProtagonistInnen selbst reflektiert werden. Sowohl über die Motive der Betroffenen als auch über die Dynamik der Entwicklung verfügen wir also über zahlloses authentisches Material. Grob gesagt lassen sich zwei unterschiedliche Konzeptionen erkennen: eine außengerichtete und eine innengerichtete. Die nach außenorientierten Wohngemeinschaften existierten vor allem in Städten, in den Zentren der politischen Auseinandersetzungen. Sie waren – zumindest dem Anspruch nach – gleichermaßen Solidargemeinschaft von Kämpfenden, Umschlagplätze für Nachrichten, Kanäle der Kommunikation, Orte der Entwicklung politischer Aktionen, Brennpunkte der informellen Diskussion und persönliches Rekrutierfeld für politische Organisationsprojekte. Die Kommune I in Berlin, im wesentlichen aus Kunzelmann, Langhans, Teufel und U. Enzensberger bestehend, war Prototyp dieser nach außen gerichteten Konzeption. Ob an dieser Truppe wie etwa Tilman Fichter und Siegwart Lönnendonker kein gutes Haar gelassen wird („existentialistische Pseudolinke“)[xiii], oder an deren oft zynischen Provokationen Momente der Rebellion erkennen will, jedenfalls wird die Außenorientierung der K I von allen AutorInnen klar herausgearbeitet: „Was immer die Boulevard-Presse an schmutzigen und geilen Phantasien über sie ausgoß, was immer ihre linken Gegner zu Recht oder zu Unrecht über sie behaupteten, es wurde von ihnen mit freudiger Begeisterung aufgegriffen. ‚Bei den Zeitungsausschnitten (wie am Morgen nach der Theaterpremiere) während unseres Kommunefrühstücks haben wir uns immer köstlich darüber amüsiert, wie Streicheleinheiten neu verteilt waren und der eine als ein größerer Star als der andere herausgestellt wurde.’“  (Koenen 2001; 153) Als nach dem Ende der eigentlichen 68er Bewegung maoistische und trotzkistische Gruppen ihre Parteiaufbauprojekte in Schwung zu bringen versuchten, erlebte diese nach außen gerichtete Konzeption von Wohngemeinschaften einen erneuten Aufschwung. Aus der Durchkreuzung von politischen und persönlichen Kontakten wurden WGs zu Brennpunkten der verschiedenen Organisationen. Der Einzug in eine Wohngemeinschaft fiel oftmals mit dem Beitritt zur Organisation zusammen, und ebenso bedeutete der Auszug oftmals den Austritt. 

Radikaler in ihrer Konzeption mußten die nach innen gerichteten Projekte sein. Denn es ging darum, in einer verschworenen Gemeinschaft Werte und Ziele zu verwirklichen, die woanders keinen Platz hatten. Diese Ziele waren naturgemäß höchst unterschiedlich, sie reichten von spirituellen, esoterischen bis hin zur Verwirklichung von freier Sexualität – oder was darunter verstanden wird. Diese Projekte zogen sich fast immer aus den Zentren, den Städten zurück, waren an Publizität und öffentlicher Aufmerksamkeit wenig, ja oft gar nicht interessiert. Bloß die radikalsten Gruppierungen, allen voran die von Otto Mühl dominierte AAO war an einer gewissen Außenwirkung erpicht, schließlich galt es doch einen kontinuierlichen Zufluß an ProbandInnen sicherzustellen. Fast immer wurde die Stadt als kapitalistischer, entfremdeter und zerstörerischer Moloch abgelehnt, und das Land als solches favorisiert. Gerade die Landkommunen waren (und sind) immer von einer gewissen Banalisierung bedroht. Was unterscheidet letztlich eine Gruppe von Personen, die gemeinsam ein Stück Land bebaut, von einer simplen Genossenschaft? Gegenüber den innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung möglichen und unhintergehbaren Formen der Gemeinschaft (Freundschaft, Liebe, Verwandtschaft, solidarische Zusammenarbeit in Projekten) mußten diese Kommuneprojekte ihre Gemeinschaft immer substantieller, weitreichender und umfassender begründen. Angebote in diese Richtung gab (und gibt) es genug: Spirituelle Heilslehren und esoterische Elitekonzeptionen boten sich ebenso an wie das Thema Sexualität.[xiv] Es wäre jedoch eine krasse Fehleinschätzung zu meinen, alle jene, die (vor allem in den USA) nach dem Zusammenbruch von Haight Ashbury an Landkommunenprojekten teilnahmen, hätten sich Hals über Kopf in spirituelle, autoritäre Strukturen geworfen. Innerhalb des Kommunebewegung der 68er Bewegung ist zwischen einem pragmatischen und einem substantialistischen Flügel zu unterscheiden. Der pragmatische wollte einfach raus aus dem Dreck der Stadt, ein einfaches solidarisches Leben auf dem Lande, offene, nicht hierarchische Strukturen und vor allem sich jenen Individualismus bewahren, den die Hippie-Bewegung immer auszeichnete. Ein Individualismus (do your thing) der zwar einerseits oft entsolidarisierende Züge annahm, andererseits mit hierarchischen Strukturen und Führerkulten unvereinbar war. Das Credo der Hippies, jeder müsse seinen eigenen Weg finden, mag uns heute ob seines gekünstelten und überzogenen Individualismus ein Lächeln abringen, erwies sich jedoch als starkes Gegengift gegen autoritäre Heilslehren und Strukturen. Die Stunde der großen Gurus von Gemeinschaftsprojekten (Otto Mühl, Dieter Duhm) schlug erst nach der 68er Bewegung. 

Daß sich die Landkommunenbewegung am stärksten in den USA entwickelte, führe ich vor allem auf objektiv günstige Bedingungen zurück. (Dünn besiedelte Landstriche, billiger Boden abseits der Zentren.) Klaus Vollmar berichtet nicht nur von Personen, die von Kommune zu Kommune zogen, und so eine gewisse Gegenöffentlichkeit herstellten und Nachrichten zirkulieren ließen, sondern auch von einem höchst bemerkenswerten Umstand. In vielen Kommunen bemerkte er eine gewisse Schweigsamkeit, ja einige hatten sogar Schweigetage institutionalisiert, an denen wenig oder fast gar nichts gesprochen wurde. Mir ist die Bedeutung diese Phänomens nicht wirklich klar. Sollte der Gemeinschaftsgeist nicht vorschnell zerredet werden, hatte das Leben am Lande so wenig Themen zu bieten? Ungeheuer viel gesprochen wurde jedenfalls in der K II in Berlin. Die K II gab 1969 ein Buch heraus, welches den Untertitel trug: „Versuch der Revolutionierung der bürgerlichen Individuums“ in der freimütig über ihre „Gruppenanalyse“ berichtet wurde, die regelmäßig stattfand. Werden diese Protokolle gelesen, so ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, daß diese Gruppenanalyse Züge von masochistischem Psychoterror aufwies. Das Vokabular, das in diesen Sitzungen verwendet wurde, entstammt direkt aus dem Fundus der klassischen Psychoanalyse von Freud, Reich und Melanie Klein. Jedenfalls war diese Kommune auch eindeutig nach innen ausgerichtet. Im intimen Binnenraum der Wohngemeinschaft sollten die psychischen Defekte des bürgerlichen Individuums ausgemerzt werden. Ich führe dieses Beispiel der Kommune II deshalb an, weil daran erkennbar ist, daß die Unterscheidung zwischen Innen- und Außengerichtetheit nicht einfach mit dem politischen vs. kulturellen Flügel gleichgesetzt werden kann. Erst nach der eigentlichen 68er Bewegung setzte die große Entmischung ein.

Reisen und Drogen

Es gibt mehrere gute Gründe, diese beiden Themen in einem gemeinsamen Abschnitt zu behandeln. Nicht nur, daß das englische Wort „Trip“ sowohl „Reise“ als auch „LSD“ bedeutet, beides, die inneren wie die äußeren Reisen, entsprangen ähnlichen Motiven. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob diese beiden Formen sozialer Praxis nichts Spezifisches an sich hätten. Werden jedoch diese Praxen um das Jahr 1968 genauer analysiert, wrden beträchtliche Besonderheiten sichtbar. Wieder ist es die eigentümliche Mischung aus Erfahrungshunger, Naivität, Erstaunen ob des soeben Entdeckten, zumeist mit Motiven grundsätzlicher Zivilisationskritik verbunden, die Milieus und Verhaltenweisen hervorbrachte, die heute in dieser Form nicht mehr existieren. 

„Im Staub und Elend Indiens hofften die Hippies jene geistigen Werte und authentischen Erfahrungen zu finden, an denen es dem Westen so deutlich mangelte.“ (Willis 1981; 165) Auf die Frage, wie viele denn um 68 auf dem Landweg (Flugreisen waren damals unerschwinglich) nach Pakistan, Afghanistan, Indien und Nepal pilgerten, schweigt die akademische Sozialwissenschaft vollkommen. Nur bei Theodore Roszak habe ich eine Schätzung gefunden, er geht von 10.000 Personen pro Jahr aus, die nach Südostasien zogen. Eine Zahl, die mir sehr gering angesetzt scheint, da darin die weniger Kühnen nicht berücksichtigt sind, die es mit Griechenland als Reiseziel beließen. Aber selbst dorthin dauerte es Tage beschwerlicher Zug- und Busfahrten, um endlich an die Strände Kretas zu gelangen. Während heute selbst Rucksacktouristen per Flugzeug anreisen und ausgestattet mit der aktuellen Ausgabe des unvermeidlichen „lonely planet“[xv] längst abgegraste Gegenden abfahren, waren damals höchstens schwärmerische Reiseromane im Gepäck und äußerst vage Vorstellungen davon, was einem erwarten würde. Im Gegensatz zu den heutigen Kurzurlauben, waren es damals Wochen, Monate und manchmal Jahre. Nach Indien zu reisen bedeutete, alle Brücken abzubrechen, Freundschaften und Beziehungen auf unbestimmte Zeit stillzulegen – von Ausbildung und Beruf ganz zu schweigen. Auch heute noch sind diese Länder für Besitzer westlicher Devisen unglaublich billig, damals waren sie für ein anspruchsloses Leben fast kostenlos. Obwohl es oft zu Konflikten zwischen den Hippies und den EinwohnerInnen kam (Sexualität, Nacktheit), trafen sie auf der anderen Seite ebenso oft auf herzliche Gastfreundschaft, die in dem Maße zurück ging, als die TramperInnen als Objekt der Bereicherung entdeckt wurden. Mit dem Ende der 68er Bewegung und dem Sinken der Flugpreise, verschwand diese spezifische Form des Reisens. Ich kenne, wie gesagt, keine einzige sozialwissenschaftliche Studie, die dieses Phänomen überhaupt einmal wahrnimmt, geschweige denn, systematisch untersucht.[xvi] Es ist schon eigentümlich, daß eine spezifische, unwiederholbare Erfahrung zehntausender, wenn nicht hunderttausender Menschen auf kein Interesse stößt. 

Eine unausgesprochene Motivation für diese abenteuerlichen Fahren waren zweifellos auch die Drogen, die dort billig und praktisch legal zu haben waren. In einem Interview schilderte Michael „Bommi“ Baumann seine erste Erfahrung, als er mit einem Bus in Afghanistan eintraf. Die Händler hätten solche Mengen von Haschischplatten an die Scheiben gedrückt, daß sich das Innere des Wagens verdunkelte. Aber es wäre falsch, ausschließlich den Zugang zu Drogen als Ursache für den Entschluß nach Südostasien zu reisen, zu vermuten. Es war die Sehnsucht nach neuen Erfahrungen, nach einer Welt, die als authentisch und unverdorben, der westlichen Zivilisation entgegengesetzt imaginiert wurde. Der reale Trip verschmolz mit dem psychedelischen Trip zu einer untrennbaren Erlebnis. Allerdings muß auch hier auf die andere Seite der 68er Bewegung verweisen werden. Nicht wenige Hippies gingen an Krankheit, den Strapazen und Entbehrungen und nicht zuletzt an einer Überdosis Heroin zugrunde. Bei Kabul gab es einen eigenen Friedhof mit schlichten Holzkreuzen für die verstorbenen Sucher nach einer besseren Welt; ob er heute noch existiert, kann ich nicht beurteilen. 

Die heutigen Drogenszenen unterscheiden sich fundamental von jener der 68er Bewegung. In keinem Punkt vollzog sich die Entmischung so radikal, wie hier. Mit psychologischen oder psychoanalytischen Erklärungsmustern ist der Unterschied nicht zu erfassen. Tatsächlich liegen Welten zwischen heute und 68. Drogen, das bedeutete damals Cannabis und LSD. Kokain gab es auf dem europäischen Markt so gut wie nicht, die synthetischen Drogen waren noch gar nicht entwickelt und Heroin konsumierte eine verschwindende Minderheit, die zu klein war, um eine Straßenszene zu bilden. Entscheidend war die Entwicklung einer Kultur des Drogenkonsums. Es wurden verschiedene Rituale der Einnahme praktiziert, die letztlich all zu exzessiven Gebrauch verhinderten. Viele Cannabis-RaucherInnen lehnten aus guten Gründen den gleichzeitigen Konsum von Alkohol, ja oft Alkohol überhaupt ab. Auch wenn zumeist spirituelle Gründe genannt wurden, der Gesundheit zuträglich war dieser Beschluß allemal. Drogen wurde mit großer Ehrfurcht begegnet, ihnen wurden bewußtseinsverändernde und bewußtseinserweiternde Wirkungen zugesprochen. „Die Behauptung, Drogen  - und besonders LSD – könnten blockierte Erfahrungsbereiche öffnen, war etwas absolut Zentrales in der ganzen Kultur.“ (Willis 1981; 177) In der Subkultur zirkulierten Anweisungen und Empfehlungen, wie und unter welchen Umständen ein Trip anzutreten wäre. Auch wenn diese Ratschläge negative Folgen nicht immer verhindern konnten, zeigen sie doch das Bemühen der Szene auf, so etwas wie eine Drogenkultur zu entwickeln. 

Bücher

 Dem großen Erfahrungshunger entsprach ein großer Theoriehunger. „Ich mußte bald feststellen, daß bei diesem großen Aufbruch, der sich Ende der 60er Jahre abzeichnete, ein großer Theoriebedarf da war. Plötzlich hat es den Wunsch nach theoretischer Literatur gegeben, nach Marxismus, Information über die Verhältnisse in der Dritten Welt und vor allem ein großes Theoriebedürfnis.“ (Herrmann 1998; 369) Daß dieses Bedürfnis durch die offizielle akademische Welt nicht gestillt werden konnte, war so selbstverständlich, daß Brigitte Herrmann[xvii] diesen Umstand in ihrem Erinnerungsbericht zu Recht nicht einmal erwähnt. So selbstverständliches muß nicht extra ausgesprochen werden. Was der Wissenschafts- Kunst- und Kulturbetrieb zu bieten hatte, war für die 68er Bewegung anfangs Schrott, später firmierte dies unter „bürgerlicher Ideologie“. Um den Theoriehunger zu stillen, entwickelte die 68er Bewegung ihre spezifische Praxis der Buchproduktion, die Praxis der Raubdrucke. Der Jurist Götz von Olenhusen und die Bibliothekarin Christa Gnirß gaben 1973 das „Handbuch der Raubdrucke“ heraus, in dem sie penibel alle bisher erscheinen schwarz nachgedruckten Bücher auflisten. Eingeleitet wird der Katalog mit der Aussage: „Wenn verschiedene Entwicklungsstufen der materiellen Produktion Widersprüche erzeugen, wenn überalterte Produktionsverhältnisse in ein unangemessenes Verhältnis zu den Produktivkräften, wenn private Interessen in Gegensatz zu Bedürfnissen und Interessen der Allgemeinheit (damit ist die 68er Bewegung gemeint! K.R.) geraten, dann geschieht es, dass solche Widersprüche auch im bereich der Organisationsform der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Rechtsform aufbrechen.“  (Olenhusen/Gnirß 1973; 11) Das Verzeichnis umfaßt über 650 AutorInnen und 848 Titel. Mit mehr als fünf Werken sind vertreten: Theodor Adorno, Alice Balint, Siegfried Bernfeld, Nikolai Bucharin, Hermann Duncker, Friedrich Engels, Sandor Ferenczi, Anna Freud, Sigmund Freud, Erich Fromm, Henryk Grossmann, Jürgen Habermas, John Hartfield, Werner Hofmann, Max Horkheimer, Melanie Klein, Karl Korsch, Petr Krapotkin, Nadežda Krupskaja, Jürgen Kuczynski, Vladimir Lenin, Georg Lukács, Rosa Luxemburg, Ernest Mandel, Mao Tse-tung, Herbert Marcuse, Karl Marx, Oskar Negt, Anton Pannekoek, Karl Radek, Wilhelm Reich (Spitzenreiter mit 81 Titeln), Rudolf Rocker, Otto Rühle, Alfred Schmidt, Wera Schmidt, Josef Stalin, Paul Sweezy, Ernst Thälmann, August Thalheimer, Leo Trotzki, Evgenij Varga, Karl August Wittfogel, Nelly Wolffheim, und Clara Zetkin. Wenn die Schriften der ProtagonistInnen von etablierten Verlagen publiziert wurden, erreichten sie binnen Monaten astronomische Auflagen. Herbert Marcuses Aufsatzsammlung „Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft“ wurde innerhalb weniger Monate vier mal aufgelegt (60.000 Exemplare), vom Buch „Rebellion der Studenten oder die neue Opposition“ in dem Arbeiten von Bergmann, Dutschke, Lefèvre und Rabehl enthalten waren, wurden von Mai 1968 bis September 1968 170.000 Stück verkauft. Parallel zu den Raubdrucken entstanden die linken Buchhandlungen. Quantitativ gesehen war auch diese Szene recht klein. „International gesehen erfolgte die Gründung der Buchhandlung Herrmann sehr früh. (1969 K.R.) Sie war die dritte deutschsprachige linke Buchhandlung. Vorher hat es nur eine in Stuttgart und eine in Berlin gegeben. Zu den besten Zeiten gab es 50 bis 60 Buchläden, die sich im Verband der linken Buchhandlungen zusammenschlossen.“ (Herrmann 1998; 376) Linke Buchhandlungen waren auch Orte der Kommunikation, des Austauschs von Meinungen und Neuigkeiten, von Tratsch und Klatsch, aber sie widerspiegelten zugleich die Entwicklung der Bewegung. Die große Entmischung nach 1969 machte auch vor den Bücherläden nicht halt. Mit dem Zerfall der eigentlichen 68er Bewegung, von den ParteiaufbauerInnen als Überwindung der kleinbürgerlich–antiautoritären Phase gefeiert, erlosch auch der große Theoriehunger. Nun genügten einige Broschüren, „Lohn, Preis und Profit“, „Was tun?“ und das „Studium“, so hieß das damals, irgendwelcher kanonischer Schriften. Originalton Brigitte Herrmann: „Auch in Österreich entstanden aus der APO eine Menge rigider Gruppen, die sich der Arbeiterklasse nahe fühlten, wie die Maoisten oder die Trotzkisten. Das hat auch das Klima in der Buchhandlung verändert. Die Interessen der Kunden waren nicht mehr so lebendig und so vielseitig.“ (Herrmann 1998; 379)[xviii] 

Musik 

Musik unter dem Abschnitt „Formen sozialer Praxis“ zu behandeln, mag möglicherweise Erstaunen auslösen. Doch ich bin überzeugt, daß das spezifisch Neue der 68er Musik nur unter diesem Aspekt zu begreifen ist. Wer unter dem Gesichtspunkt von Tonsatz und Kontrapunkt an das Phänomen herangeht, wird scheitern und nichts erkennen. Musik war Ausdrucks- und Identifikationsmedium, sie repräsentierte und symbolisierte einen bestimmten Lebensstil, der umgekehrt wieder auf die Produktion dieser Musik zurückwirkte. Ein ausgesprochen produktiver Zirkel wurde in Gang gesetzt. Die 68er Musik hatte überragende soziale Bedeutung, und weil sie so bedeutend war, wurden in den Jahren 67 bis 69 eine Flut von kreativen und außergewöhnlichen Platten produziert. „Nun kamen diese Musiker sehr häufig aus irgendeiner Variante der Hippiekultur. Daher reflektierte die Musik immer deutlicher die Anliegen dieser kulturellen Gruppe und entwickelte sie weiter. Die Hippiekultur als solche übte einen entscheidenden Einfluß auf die Musik aus, genau wie die Musik einen Einfluß auf die Kultur ausübte.“ (Willis 1981; 207) Dieser produktive und kreative Zirkel fand natürlich nicht außerhalb von kommerziellen Beziehungen statt. Aber nur Böswillige und Unwissende können den Unterschied zwischen den Bedingungen von 68 und der gegenwärtigen Musikindustrie nicht erkennen. Allen Beteiligten ging es um die Musik, und nur sekundär um das Geschäft. So brachte auch die Szene Persönlichkeiten wie den Produzenten Joe Boyd hervor, der unter anderem die Incredible String Band, Fairport Convention und Nick Drake betreute. Oder John Peel, der in ungezählten Radiosendungen jenseits von kommerziellen Erwägungen die ganze Breite der Musikszene seinem Publikum nahebrachte und bis heute in England einen hervorragenden Ruf besitzt. Das oft unbedarfte und amateurhafte Herangehen zeigte sich auch im legendären Woodstock-Festival. Statt einer überdachten Bühne wurde bloß ein erhöhter Bretterboden gezimmert; die einzigen Reklameschilder waren jene, die an den transportablen WCs fix montiert waren. Auch wenn die damaligen Stars nicht am Hungertuche nagten, so liegen zwischen den heutigen und den damaligen Einkommen Welten. Jene Gruppen, die noch im Geschäft sind, verdienen gegenwärtig pro Tournee mehr als in all den Jahren damals zusammen.  

Obwohl 68 als internationales Phänomen zu begreifen ist, entwickelte sich die 68er Musik fast ausschließlich in den USA und vor allem in Großbritannien. Warum? Ich kann zwei Momente erkennen. Einerseits war der kulturelle Flügel in diesen Ländern immer besonders stark. Insbesondere in Großbritannien scheint die 68er Bewegung nie so intellektuell und studentisch geprägt gewesen zu sein, als etwa in der BRD. Andererseits gab es in diesen Ländern nie diese strikte Trennung zwischen E und U Musik, die herzulande fast hysterisch praktiziert wurde. E stand für „ernste“ Musik, und als ernst wiederum wurde die europäische Tradition aufgefaßt, in der sich das Bildungsbürgertum kulturell spiegelte und erkannte. U stand für Unterhaltungsmusik, also seichter Schlager-Tingeltangel.[xix] Diese Unterscheidung wurde keineswegs nur von politischen Konservativen vertreten, sondern findet sich ebenso in Adornos Musiktheorie. Sofern die 68er Musik vom Establishment überhaupt wahrgenommen wurde, wurde sie sofort in die Schublade der U Musik gesteckt und überdies mit Spott und Hohn übergossen. Auch wenn das Urteil nicht immer so radikal ausfiel, die Abwertung dieser Musik war eindeutig. Sie stand auf der untersten Stufe der Hierarchie und jeder musikalisch Gebildete schätzte sie als einfältig und primitiv ein. Dieses Urteil beruhte in den seltensten Fällen auf einer tatsächlichen Kenntnis der unglaublich vielfältigen Formen, die die 68er Musik annahm, sehr wohl auf dem Instinkt, Kompetenz nicht abgeben zu wollen. Die geschichtlich spezifische Form des Musizierens, die tradierten Formen der Ausbildung, die höchst selektive Geschmacksbildung der europäischen Musiktradition – jenseits dieses Musikuniversums konnte es nur Minderwertiges geben. Musikkonsum wurde völlig zu recht von der 68er Bewegung unmittelbar als Kulturkampf aufgefaßt. Es ging darum, das eigene musikalische Empfinden gegen hochnäsige Abwertung zu behaupten. Der Konsum der Musik, das Sammeln von Platten, das gemeinsame Hören, oft stundenlange Diskussionen über Vorzüge und Mängel bestimmter Gruppen, all das konstituierte eine spezifische Praxis. Und allen Beteiligten war klar, daß sie sich in einem kulturellen Gegenuniversum bewegten, welches das Establishment nicht verstehen konnte.

Kinder und Erziehung 

Zur Praxis der alternativen und antiautoritären Erziehung führten viele Wege, programmatische wie pragmatische. Was lag näher als das Thema Pädagogik, wenn es darum ging, bürgerliche Zwänge und Verkrüpplungen zu überwinden? Eine Bewegung wie die 68er, die Revolte so radikal ansetzte, mußte zwangsläufig davon träumen, neue Menschen zu schaffen. Und ein Weg dazu war wohl eine neue, freie Form der Erziehung. Zugleich existierten auch reale Kinder, die ihre Ansprüche kundgaben und irgendwie versorgt werden mußten. Als am 22.5.1966 in Frankfurt der große SDS-Kongreß „Vietnam – Analyse eines Exempels“ stattfand und Herbert Marcuse das Hauptreferat hielt, tobten die Kinder auf den Gängen herum – angeblich führte das zur Gründung weiterer Kinderläden mit antiautoritärem Anspruch. Als theoretische Grundlagen wurde, durchaus charakteristisch, von einer Initiative in Frankfurt folgende Schriften genannt: „A. S. Neill, Summerhill; Wilhelm Reich; J. und Paul Ritter, Free Family; Kirkdale, eine Schule in London, von der die Anregung für unsere Initiative ausging und an der zwei Lehrerinnen unserer Kinderschule hospitiert bzw. praktiziert haben.“ (Bott 1970; 45) Interessanterweise haben die Kindergruppen und Kinderläden, 1968 erfunden, die Zeit überdauert und werden noch gegenwärtig erfolgreich praktiziert. Wer sich einmal konkret an diesen Projekten beteiligt hat, weiß, wie grundlegend sich diese Initiativen von den üblichen Kindergärten und Vorschulen unterscheiden. Die vor allem von der Sozialdemokratie gebauten Kindergärten dienten (und dienen) ausschließlich dem Zweck, Frauen trotz Kindern den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dementsprechend sahen (und sehen) die „pädagogischen“ Prinzipien aus: maximale Öffnungszeiten und minimale Kosten. Die selbstorganisierten Kinderläden hingegen wurden aus ganz anderen Motiven initiiert. Einerseits ging es um eine alternative Pädagogik, andererseits um eine Relativierung der Kleinfamilie durch den intensiven Kontakt zwischen Kindern untereinander und zu den BetreuerInnen. Selbstorganisierte Kinderläden erfordern jedoch einen nicht geringen finanziellen, aber vor allem zeitlichen Einsatz: Monatliche Plenarsitzungen, Putzdienst, Kochdienst, Begleitungen bei Ausflügen und Aktivitäten, dazu die üblichen Aufgaben, die Vereine so mit sich bringen. Die funktionale Zurichtung der Frauen für die Lohnarbeit war jedenfalls niemals erklärtes Ziel. Auch wenn der große Anspruch, den antiautoritären Menschen zu schaffen, die „Erziehung zum Ungehorsam“ zu verwirklichen, nicht eingelöst werden konnte, so ist doch in der Frage Kindergruppen der Keim der 68er Bewegung aufgegangen.

 Allerdings war die Praxis der alternativen Schulen nicht so erfolgreich. Thema waren sie 1968 natürlich allemal. „1967 war, quasi anonym, ein kleines Büchlein erschienen: ‚Lettera a una professora’[xx], geschrieben von Schülern an Don Milanis Schule in Barbiana. Dieses Buch wurde für die Bewegung außerordentlich wichtig. (...) Ohne mit einem komplizierten Begriffsapparat zu hantieren macht es klar, daß es in den Schulen – wo bislang nur von der Dummheit der Schüler und der mangelnden Qualifikation der Lehrer die Rede war – den Klassenkampf real gibt.“ (Viale 1979; 21) 1970 wurde über dieses Buch auch in Österreich bereichtet, und zwar in der gesellschaftspolitisch wohl bedeutendsten Sendung des ORF seit 1945, in der „Musicbox“, die einer ganzen Generation das Fenster zur 68er Musik öffnete und zugleich – so schließt sich der Kreis – auch von Elementen der Rebellion berichtete; zwar zumeist aus einer radikaldemokratischen und linkskatholischen Perspektive, aber was bedeutete das schon damals. Die Praxis der Rebellion und Provokation blühte zwar auch unter den SchülerInnen – „daß das Stroh so trocken war, hätten wir nicht geglaubt“ – die konkreten Projekte alternativer Schulen krankten aber rasch an ähnliche Problemen wie die diversen Kommuneexperimente. Die Kritik an repressiver Pädagogik und sozialer Unterdrückung in den Schulen unmittelbar durch konkrete Praxis in Alternativen zu überführen, klappte nirgends so recht. Entweder kippten die Projekte rasch in banale Versionen von Privatschulen, oder die Besonderheit mußte durch esoterische Lehren (Steiner-Schule) oder Elitekonzeptionen legitimiert und motiviert werden.

 Zwei Fehldeutungen der sozialen Praxis der 68er Bewegung (Schwendter/Willis)

 Der Zweck meiner sehr summarischen Auflistung verschiedener Praxisformen ist es zu zeigen, daß in der 68er Bewegung die Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen organisch mit dem Versuch verbunden war, alternative Formen zu schaffen und der „Großen Weigerung“ auch einen praktischen Ausdruck zu geben. Vieles mußte dabei unerwähnt bleiben. Etwa die blühende Underground-Presse in den USA oder die tatsächliche Auflösung der psychiatrischen Klinik in Triest durch ihren ehemaligen Leiter Franco Basaglia, der damit eine europaweite Welle der Psychiatriekritik auslöste, die auch in Wien durch eine sehr aktive Gruppe vertreten war. Es ist ein grobes Fehlurteil zu meinen, die praktischen Aktivitäten hätten sich ausschließlich am „Marsch durch die Institutionen“ orientiert, eine Losung die Rudi Dutschke als Perspektive für den in Auflösung befindlichen SDS formulierte; zu einem Zeitpunkt, an dem ihm niemand mehr zuhörte, da jeder (und hier ist die männliche Form zutreffend) der führenden Kader offen oder heimlich bereits am Parteiaufbau bastelten. Ich will auch nur am Rande erwähnen, daß die stalinistischen Intellektuellen auf die Bewegung mit blankem Haß reagierten und im Stile der niederträchtigsten Teile der bürgerlichen Presse den Schmutzkübel über die Versuche, neue soziale Formen zu schaffen, ausgossen. Kostprobe gefällig? „Antiautoritäre Zeichenlehrer ermuntern ihre Schüler zu sinnlosem Drauflosschmieren, damit sie sich von den ‚Zwängen’ eines von vornherein aufs Resultat verpflichteten Tuns befreien möchten, dergestalt ‚ganz neue Denkanstöße’ in sich erfahrend. Antiautoritäre Lyriker ‚zerbrechen’ den ‚Zwang der Sprachstrukturen’. Antiautoritären Kindergärtnerinnen wäre es am liebsten, die lieben Kleinen lernten ihren Eltern in die Kaffeetassen zu pinkeln.“ (Harich 1971; 94)

 Eine Fehldeutung der sozialen Praxis der 68er Bewegung findet sich in der Arbeit von Rolf Schwendter, „Theorie der Subkultur“[xxi]. Das Buch erschien 1973. Es ist natürlich ein Versuch, 1968 theoretisch zu erfassen. Die Besonderheit, die Unverwechselbarkeit von 1968 wird vom Autor wohl erkannt, aber zu einer idiographischen Darstellung kann er sich nicht durchringen. Letztlich löst er die spezifische Besonderheit der 68er Bewegung im geschichtslosen soziologischen Begriff „Subkultur“ auf. Schwendter erkennt zwar die emanzipatorische Ausrichtung der Bewegung und verteidigt diese geschickt gegen poststalinistische Angriffe, ebenso ist der Materialreichtum des Buches positiv zu vermerken. Aber durch die falsche Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit des Subkulturbegriffs geht die historische Einmaligkeit der 68er Bewegung in einem heillos eklektizistischen Theorie-Wirrwarr unter. 

Die Kritik der Geschichts- und Zeitlosigkeit ist auch an die Arbeit von Paul Willis „Profane Culture“ zu richten. Willis zählt zu den Mitbegründern der „Cultural Studies“. Willis untersucht darin die Kulturen der „Rocker“, die ihn offensichtlich weniger interessiert haben, und der „Hippies“, die er mit großer Liebe und Sorgfalt darstellt. Aber auch er blendet jede zeitliche Perspektive aus. Daß kein Mensch als „Hippie“ geboren wird, sondern spezifische Umstände sowohl lebensgeschichtlicher als auch sozialgeschichtlicher Art erst so etwas wie eine Hippiekultur entstehen lassen, dieser Gedanke wird bei Willis nicht zu finden sein. Gerade im Falle der Hippie Kultur erweist sich das Ausblenden der Geschichtlichkeit als fatal. Im folgenden Zitat findet sich sowohl die Stärke, als auch die strukturelle Schwäche der „Cultural Studies“ vereint. Willis schreibt: „Und doch entwickeln diese Gruppen aus dem Rahmen eines vorgeprägten Marktes erhältlichen Schund lebensfähige Kulturen und formulieren durch ihre Bearbeitung von vorgefundenen Gebrauchsgütern tatsächlich eine lebendige, gelebte und konkretisierte Kritik an der Gesellschaft, die diese verdrehten, beleidigenden und oft sinnlosen Dinge produziert.“ (Willis 1981; 20) Die Schaffung, ja Schöpfung kultureller Formen, ich sage lieber sozialer Praxis, wird in dieser Passage bloß reaktiv definiert, als reine Interpretationsleistung, die dem „Schund“ ernsthafte Bedeutung gibt, aber gleichzeitig alles beim Alten läßt. Wenn aus diesem Ansatz Methode wird, dann ist der Unterschied zwischen der Hippie-Kultur der 68er Jahre, der 68er Bewegung überhaupt und der gegenwärtigen Snowboard- oder Skater-Szene eingeebnet. Kapitalismus und Kulturindustrie produzieren ihre „beleidigenden und oft sinnlosen Dinge“, aber doch werden diese in „lebensfähige Kulturen“ integriert, ja entzünden sich daran. Wir erkennen also ein zeitloses Muster. Spannend ist allerdings, daß die im Vorspann des Buches skizzierte Methode in seiner materialen Analyse der Hippie-Kultur gar nicht zu finden ist. Wie selbstverständlich interpretiert Willis diese Kultur als antikapitalistisch und widerständig und entwickelt einen fiktiven Dialog mit ihren ProtagonistInnen. Willis konstatiert der englischen Hippie-Kultur einmal eine substantielle Berechtigung: „Das alternative Hippieleben ist eine stumme, jedoch vernichtende Verurteilung des kulturellen Bankrotts der extremen Linken.“ (Willis 1981; 168) Die radikale Kritik der Linken wie der Szene würden sich „genau entsprechen“. Auch wären die Hippies keineswegs theoretisch ungebildet. Aber leider würden ihre Einsichten immer wieder von jenem subjektiven Gefühl überlagert und zugeschüttet, das nicht einfach zu begreifen sei, eben jene Mischung aus Überlegenheit, Wohlgefühl und exzessiver, narzißtisch erlebter Individualität: „Die hohe Bewertung der subjektiven Erfahrung ließ jedes theoretische Wissen, das die Hippies über Ungleichheit und Ausbeutung besaßen, umkippen. Solange man nur die Situation als angenehm erlebte, war es nicht von Bedeutung, ob man ausgebeutet wurde.“ (Willis 1981; 166) Mit viel Feingefühl erkennt Wills auch das Fatalistische an der Hippie Bewegung. „Ein Greifen nach der Gegenwart konnte zukünftige Katastrophen bedeuten. Immer schien die Krise zu drohen.“ (Willis 1981; 131) In der Tat gab es in der Hippie Kultur eine Ahnung über das Vergehen der eigenen Lebensart. Kaum geschaffen - wer war vor Mitte der 60er Jahre Hippie? - wurde etwas von einer aussterbenden Art an sich selbst gespürt. Ohne die eigenen geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen analysieren zukönnen, existierte in der Hippie-Szene immer eine offene Ahnung, daß ihre Existenzweise nur ein bloßes vergebliches Aufblitzen eines möglichen anderen Weges der Menschheit sein könnte. Es war wohl mehr als politische Ironie, als am Höhepunkt der Bewegung in den Underground-Zeitungen von San Francisco als Reaktion auf die zunehmende Kommerzialisierung der Szene folgende Todesanzeige erschien: „Funeral Notice: Hippie in the Haight A. District of ths city, Hippie, devote son of Mass Media – Friends are invited to attend services beginning at sunrise, October 6, 1967 at Buena Vista Park.“ (Hollstein 1981; 65) Und wenn Willis seinen fiktiven Bekehrungsversuch zum Marxismus mit folgenden Worten aufgibt, so trifft er zweifellos etwas vom vorherrschenden Lebensgefühl: „Doch in eben diesen Schattenbereichen, aus denen der wissenschaftliche Materialismus sie herausgeholt hätte, fühlten sich die Hippies am meisten zu Hause. Aus diesen Schauplätzen konnte sich das Spiel am besten entfalten, hier konnte das Suchen nach der schwer faßbaren Transzendenz immer weitergehen.“ (Willis 1981; 169) Aus solchen Worten wird klar, wie Willis tatsächlich zu der von ihm analysierten Kultur steht, er erkennt ein rebellisches, radikal gesellschaftskritisches Milieu und beklagt dessen Grenzen. 

Teil 2 hier

 Zitierte Literatur:

 Agnoli, Johannes (1998) „1968 und die Folgen“, Freiburg

Balistier, Thomas (1996) „Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik  Deutschland zwischen 1979 und 1989“, Münster

Balestrini, Nanni; Moroni, Primo (1994) „Die goldene Horde. Arbeiterbewegung, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien”, Berlin

Berman, Paul (1998) „Zappa meets Havel. 1968 und die Folgen – eine politische Reise“, Hamburg

Bott, Gerhard, (Hg.) (1970) „Erziehung zum Ungehorsam. Kinderläden berichten aus der Praxis der antiautoritären Erziehung“, Frankfurt

Dutschke, Gretchen (1998) „Rudi Dutschke. Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben“, München

Dutschke, Rudi (1968) „Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt“, in: Bergmann, Dutschke, Lefèvre, Rabehl, „Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition“, Reinbek bei Hamburg

Eisenberg, Götz; Thiel Wolfgang (1975) “Fluchtversuche. Über Genesis, Verlauf und schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung“, Gießen

Fichter, Tilman, Lönnendonker, Siegwart (1977) „Kleine Geschichte des SDS“, Berlin

Gilcher-Holtey, Ingrid (1995) „Die Phantasie an die Macht. Mai 68 in Frankreich“, Frankfurt am Main

Harich, Walter (1971) „Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechnung mit dem neuen und alten Anarchismus“, Basel

Herrmann (Salanda), Brigitte (1998) „Vom Cafe Hawelka zur Buchhandlung Herrmann“, in: B. Danneberg, F. Keller, A. Machalicky, J. Mende (Hg.), „die 68er – eine generation und ihr erbe“, Wien

Hollstein, Walter (1969) „Der Untergrund“, Neuwied und Berlin

- (1981) „Die Gegengesellschaft“, Reinbeck bei Hamburg

Koenen, Gerd (2001) „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967 – 1977“, Köln

Kunzelmann, Dieter (1998) „Leisten Sie keinen Widerstand. Bilder aus meinem Leben“, Berlin

Leineweber Bernd., Schibel, Karl-Ludwig (1975) „Die Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt“, Berlin

Mandel, Ernest (1969) „Die Lehren vom Mai 1968“ In: A. Glucksmann, A. Gorz, E. Mandel, J.-M. Vincent, „Revolution in Frankreich 1968“,  Frankfurt am Main

Marcuse, Herbert (1969) „Versuch über die Befreiung“, Frankfurt am Main

- (1973) „Konterrevolution und Revolte“, Frankfurt am Main

Marks, Stephan (1977) „Studentenseele. Erfahrungen im Zerfall der Studentenbewegung“, Hamburg

Mosler, Peter (1977) „Was wir wollten, was wir wurden“, Reinbeck bei Hamburg

Olenhusen, Götz von; Gnirß, Christa (1973) „Handbuch der Raubdrucke 2, Theorie und Klassenkampf Sozialisierte Drucke und Reprints“, Pullach bei München

Rabehl, Bernd (1998) „Zur Archaischen Inszenierung linksradikaler Politik“, in: Kraushaar „Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail“ 1946 – 1995, Band 3, Frankfurt am Main

Rauch, Malte, J., Schirmbeck, H. Samuel (1968) „Die Barrikaden von Paris. Der Aufstand der französischen Arbeiter und Studenten“, Frankfurt am Main

Roszak, Theodor (1971), „Die Gegenkultur“, Düsseldorf, Wien

Viale, Guido (1979)„Die Träume liegen wieder auf der Straße. Offene Fragen der deutschen und italienischen Linken nach 1968“, Berlin

Willis, Paul (1981) „Profane Culture. Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkultur“, Frankfurt am Main


[i] So fabuliert etwa Martin Viehöver, als „Student und Bundesvorsitzender der Jungen Ökologen“ im AutorInnen-Verzeichnis angeführt, mit unverfrorener  Geschichtsfälschung: „Dreißig Jahre nach der 68er Revolte haben die Rebellen von einst den Marsch durch die Institutionen geschafft. Sie sitzen in den Universitäten, den Schulen, den Verwaltungen, in verschiedenen Parlamenten und haben führende Positionen in der Wirtschaft inne. Über die Medien beeinflussen sie die öffentliche Meinung.“ (Viehhöver 1998; 129)

[ii] In Italien wird von der 77er-Bewegung gesprochen. Doch diese Bewegung ist aber nur eine sehr spezifische Form, in der die 68er Bewegung wirksam wurde.

[iii] „Der Internationalismus der Bewegung, die Tatsache, daß voneinander unabhängige, aber analoge Prozesse gleichzeitig abliefen, ist nicht leicht zu erklären.“ (Viale 1977; 13)

[iv] Die „Situationistische Internationale“ war eine kleine, sehr zerstrittene Intellektuellen- und KünstlerInnengruppe. Einer ihrer wichtigsten Vertreter war Guy Debord, dessen Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“ oftmals aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt wurde.

[v] So spielte LSD selbst bei den „Weatherman“ immer eine bestimmte Rolle. „Um das Einschleusen von Polizeispitzeln zu verhindern, spielte bei den Einführungen in die klandestinen Zellen LSD eine nicht unwichtige Rolle, da Weather davon ausging, daß man unter dem Einfluß dieser Droge seine wahre Identität nicht verbergen könne.“, so Florian Ruttner in einer Buchbesprechung der Arbeit von Ron Jacobs, „Woher der Wind weht – eine Geschichte des Weather Underground“, Berlin 1999 - Egal, ob diese Geschichte stimmt oder nicht, jedenfalls zeigt sie die Präsenz des Themas LSD im amerikanischen Untergrund auf.

[vi] Quelle: Malte, J. Rauch, Schirmbeck, H. Samuel, „Die Barrikaden von Paris. Der Aufstand der französischen Arbeiter und Studenten“, Frankfurt am Main 1968

[vii] In: Hafner, Georg M., Jacoby, Edmund (Hg.) „1968 – Bilderbuch einer Revolte“, 1993 Frankfurt am Main, Seite 66

[viii] Bei einer Demonstration am 31.3.1965 gegen Borodajkewicz wurde Ernst Kirchweger von einem Nazi erschlagen.

[ix] Rolf Schwendter nennt in seiner Arbeit „Theorie der Subkultur“, 1981 ähnliche Praxisfelder, und zwar: Nahrung, Wohnung, Sexualität, Erziehung, Gesundheit, Transport (Rote Punkt Aktion), Konsum (worunter die Punkte Drogen und Kleidung fallen) sowie Arbeit & Muße = Kritik an der Leistungsgesellschaft.

[x] Henry David Thoreau: „Walden. Ein Leben mit der Natur” Deutsch von Erika Ziha, München 1999

[xi] Das österreichische Recht kennt nur den Begriff Haushalt und Haushaltsvorstand. Wohngemeinschaften erscheinen, so die darin wohnenden überhaupt hauptgemeldet sind, einfach als großer Haushalt mit vielen Mitbewohnern auf. In allen anderen Ländern dürfte das nicht viel anders sein, Kurzum, Wohngemeinschaften und Kommunen existieren für die Welt der Statistik einfach nicht.

[xii] Genaue Daten über Alter und soziale Herkunft der Hippies finden sich bei Hollstein (1969; 67ff). Soziologisch stammten die „Blumenkinder“  - wenig überraschend  - vorwiegend aus der wohlhabenden Mittelschicht, allerdings gibt Hollstein an, daß die überwiegende Mehrzahl keine regelmäßige finanzielle Unterstützung von ihren Erlern erhielten: „Von 100 Hippies in New York wurden nur vier von zu Hause unterstützt; von 100 Hippies in San Francisco deren elf.“ (Hollstein 1969; 68)

[xiii] Fichter, Tilman, Lönnendonker, Siegwart, „Kleine Geschichte des SDS“, Berlin 1977, Seite 103

[xiv] Die Arbeit von Elisabeth Voß,  „Wege, Umwege, Irrwege... Ein Versuch über die Sehnsucht“, in: „Das KommuneBuch“ Göttingen 1998, Seite 69 – 98, zeigt genau die Einflüsse rechten Gedankenguts in der gegenwärtigen Kommune – Bewegung in Deutschland auf. Sie warnt allerdings zu Recht davor, alles mit der Faschismus-Keule zu erledigen, und die Zwischentöne nicht mehr zu beachten.

[xv] Geschäftstüchtige Hippies erkannten bald die Marktlücke für alternative Reiseführer. Herr Felbiger baute rund um seinen legendären Griechenland-Reiseführer einen ganzen Verlag auf, ebenso der Weltenbummler Tony Wheeler um sein „Indien Handbuch“.

[xvi] Für Informationen zu diesem Thema wäre ich besonders dankbar!

[xvii] Die Buchhandlung Herrmann existierte 23 Jahre lang und war die linke Buchhandlung in Wien.

[xviii] Koenen berichtet, daß der KBW im Herbst 1974 schlagartig 18 Buchläden, im Besitz des „Bundes Westdeutscher Kommunisten“ befindlich, einfach zusperrte und so „ein Stück linker Alternativkultur“ (Koenen 2001; 428) vernichtete. Offenbar wurden diese Läden als für den Parteiaufbau störend empfunden.

[xix] Manche wird es überraschen, aber die sogenannte volkstümliche Musik a la Musikantenstadl entstand erst in den 80er und 90er Jahren.

[xx] deutsch: „Die Schülerschule. Brief an eine Lehrerin“, Berlin 1970

[xxi] Aus heutiger Warte aus ist es amüsant zu lesen, wie unbefangen Schwendter alle Begriffe verwendet, die damals gut und teuer waren. Haupt- und Nebenwiderspruch geht ihm genauso locker über die Lippen, pardon die Schreibmaschine, wie positive Bezüge zur Psychoanalyse a la Wilhelm Reich. Sein Buch ist vollgestopft mit soziologischem Theorieplunder und jenen Theorien mittlerer Reichweite, die in den 60er aktuell waren. Man kann sich allerdings den Eindruck nicht verkneifen, daß Schwendter die Sache nicht so ernst nimmt und auf dem Klavier der „Theorien“ und „Namen“ herumspielt.

 

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