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Mona Singer: Geteilte Wahrheit. Feministische Epistomologie, Wissenssoziologie und Cultural Studies.
Wien: Löcker Verlag, 2005, 322 Seiten

Mona Singer verwendet den Begriff „Epistemologie“, um die deutschen Begriffe „Erkenntnistheorie“ oder „Wissenschaftstheorie“ zu vermeiden. In diesem Buch geht es nämlich um Wissenschaftstheorie und Wissenschaftskritik, was sich aber nicht von Erkenntnistheorie, wie unterschiedliche Menschen die „Realität“, die „Wirklichkeit“ erfassen, abtrennen lässt.

Stellt sich die Frage, warum ein Buch über Epistemologie in einer linksradikalen Theoriezeitschrift besprochen werden soll: Da ist einmal die immer stärker Materialisierung der Wissenschaft in den Bereichen, die Technoscience genannt werden, technologische und damit wissenschaftliche Sichtweisen beeinflussen immer mehr unser Alltagsleben. Außerdem werden wissenschaftliche Entwicklungen aus einem „autonomen“ Bereich, etwa der Universitäten, in unternehmensnahe Bereiche verlagert, werden stärker einer direkten kapitalistischen Verwertung unterworfen. Wissenschaft war allerdings nicht nur in diesem Zusammenhang immer schon ein Machtmittel. Der direkte Einsatz wissenschaftlichen Wissens gegen die ArbeiterInnen und KonsumentInnen in Form von Maschinen, aber auch in Form der Unterhaltungs-, Kommunikations- und Informationstechnologie, die immer stärker unser Leben prägen, wird ergänzt durch die „ideologischen“ Funktionen. Wissenschaften sind in ihrer Popularisierung ein wichtiges Bindeglied zwischen Herrschaftstechnik und Massenbewusstsein. Aber auch die sozialen Bewegungen setzen sich immer wieder mit wissenschaftlichen Diskursen auseinander, um Gegenpole zum herrschenden Bewusstsein (als Bewusstsein der Herrschenden) herauszubilden (etwa in der Anti-AKW-Bewegung oder der Selbstermächtigung homosexueller AIDS-Kranker). Aus diesen Gründen soll auch die Epistemologie Position beziehen. In diesem Buch geht es dabei maßgeblich um die Kritik an sexistischen und androzentrischen, aber auch postkolonialen und rassistischen Strukturen und Inhalten des wissenschaftlichen Diskurses.

Im ersten Abschnitt unter dem Titel „Wissen, Macht und Ermächtigung“ wird zuerst der Zusammenhang von Aufklärung und den emanzipatorischer Versprechungen dargestellt, die ja spätestens seit dem 20. Jahrhundert mit seinen industriell organisierten Grausamkeiten in Frage gestellt wurden. Darum erweist es sich als notwendig, Wissenschaft und gesellschaftliche Entwicklung zusammen zu denken, erst recht wegen dem verstärkten Zusammenspiel zwischen Wissenschaft, Technologie und Kapitalismus. Wissen als Wissenschaft und als Erkenntnis (darum Epistemologie) ist in unterschiedlichen Denk- und Gesellschaftsverhältnissen, in kulturellen Traditionen, sozialen Umwelten und natürlichen Bedingungen situiert. Und eine kritische Epistemologie soll politischen Machtverhältnisse, etwa durch die Geschlechterdifferenz thematisieren und einen Blick auf Vorstellungen von Gerechtigkeit, gewendet gegen Ausbeutung und Unterdrückung bieten. Mona Singers Blickwinkel ist der der feministischen Epistemologie und die Wissenschaftssoziologie der Cultural Studies, die als Teil dieses Abschnitts vorgestellt und eingeführt werden. Sie sind Werkzeuge, um herrschende Strukturen zu kritisieren und zur Selbstermächtigung der Ausgebeuteten und Unterdrückten beizutragen. Beide sind transdisziplinär, stellen vermeintlich „kulturelle Prozesse“ ins Zentrum und beziehen sich nicht nur auf die Wissenschaft, sondern auf ihre Transmission in die ganze Gesellschaft, durch die Einbeziehung populärer Elemente wie Filme, Zeitungen und Science Fiction. Wissenschaft wird als kulturelle Praxis bewertet und analysiert.

Der nächste Abschnitt „Objektivität und Wahrheit, historisch gesehen“ ist der, der sich am stärksten auf philosophische Diskussionen bezieht. Das Konzept der Wissenschaftlichkeit veränderte sich im Laufe der Zeit. Ging es bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts um die Konstruktion eines Idealbilds etwa der menschlichen Anatomie, die Abstraktion vom Messbaren, so veränderte sich das dann. Die Natur sollte selber „sprechen“, das Ideal wurde die von menschlichen Schwächen befreite Maschine. Aber auch diese Objektivität war gesellschaftlich bestimmt. Es waren die Eliten, die forschen konnten, und es sind persönliche Beziehungen, die Überprüfbarkeit und Ergebnisse möglich machen. Außerdem muss die Wahrheit (oder sie Sprache der Wahrheit) auch verstanden werden. Die Konsequenz ist, dass es keine gesellschaftlich unabhängige Wahrheit und Objektivität gibt, sondern nur „Wahrheitsregime“ (Foucault), Bedingungen und Strukturen, die Wahrheit möglich machen.

Im dritten Abschnitt „The truth is not out here“ geht es um die aktuellen Diskussionen, nachdem mit der „linguistischen Wende“ feststeht, dass die Wahrheit nicht etwas selbstverständliches ist. Verschiedene Ansätze verorten die einzige Beziehung zu einer Realität in der Form der Sprache, des Diskurses. Wahrheit wird etwa von der „postmodernen“ Feministin Jane Flax als die Wissenschaft weißer westlicher Männer gesehen. Im Gegensatz dazu akzeptiert Singer die Alternativen „große Wahrheit“ oder „keine Wahrheit“ nicht, sondern die situierten Wahrheiten, wobei der Gerechtigkeitssinn in den Prozess der Wahrheitsfindung aufgenommen werden sollte. So sei es notwendig, eine „Wahrheit“ zu suchen, wie etwa durch die Wahrheitskommissionen in Südafrika über die Unterdrückung des vorherigen Apartheidregimes. Der von der Postmoderne postulierte Konstruktivismus ist dabei nichts neues, sondern wurde schon in der Erkenntnistheorie Kants formuliert, die die Realität von den Bedingungen der Wahrnehmung des erkennenden Subjekts abhängig macht. Es gibt nur Erscheinungen, eine Wahrheit dahinter müsse darum notwendigerweise konstruiert sein. Mit der Entwicklung der Technowissenschaften gibt es nach dem linguistic turn eine weitere Erkenntnisentwicklung: in Donna Haraways und ähnlichen Theorien wird das erkennende Subjekt, das von den PoststrukturalistInnen nur von außen angegangen und kritisiert wurde, anders in Frage gestellt. Wissenschaftliche Erkenntnis entstehe nur in Zusammenhang eines Aktor-Netzwerkes, in dem Computerprogramme, organische Bestandteile (Bakterien) und LabormitarbeiterInnen koagieren. Es gibt eine deutliche „Verunreinigung“ der Subjekt-Objekt-Unterscheidungen. Diese Sichtweise wird allerdings von Singer wieder in Frage gestellt, denn wenn von nicht-menschlichen AkteurInnen gesprochen wird, die AddressatInnen wieder repräsentierende WissenschaftlerInnen sind.

Im darauf folgenden Abschnitt „Von sozialen Standorten ausgehen: Standpunkte und Objektivitätsansprüche“ werden Positionen referiert, die aus der Auflösung jeder Erkenntnis wieder in die gesellschaftlichen Verhältnisse zurücktreten. Die klassische Wissenschaftssoziologie Karl Mannheims sieht die Wissenschaft in einem soziologischen Zusammenhang verankert. Wobei er den privilegierten Standpunkt des neutralen Intellektuellen einnimmt. Die proletarische und feministische Standpunkttheorie, sieht die privilegierte Erkenntnisposition in den jeweiligen Unterdrückten, weil diese durch ihre Ausbeutungserfahrung so etwas wie Wirklichkeit eher erkennen können. Gerade die feministische Standpunkttheorie ist durch unterschiedliche Lebensweisen vor allem durch nicht-weiße Frauen in die Krise geraten. Somit wird eine Position der Marginalisierten im Allgemeinen als privilegierte Position betrachtet. Standpunkte, die auch die Vielfalt der sozialen Bewegungen ausdrücken. Die postkoloniale Kritik wird aufgenommen, wobei Objektivität nicht aus dem Zusammenzählen unterschiedlicher Teilperspektiven entsteht, sondern in der Selbstreflektivität und dem Dialog der unterschiedlichen Positionen.

Im vorletzten Abschnitt „Entortungen: Wissenschaften auf Reisen“ wird das Prozesshafte, das „Werden“ an Hand der geschichtlichen Bewegungen des Wissens als sich veränderndes nachvollzogen. So hat sich die „westliche Wissenschaft“ in unterschiedlichen Formen ausgedehnt: zuerst sind nicht-wissenschaftliche Gesellschaften nur Quellen, die ausgebeutet werden. In der kolonialistischen Phase wird „anderes“ Wissen nur anerkannt, wenn es den herrschenden Strukturen nutzt. In einer letzten Phase kommt es dann um einen Kampf um Unabhängigkeit, der vor allem von diasporischen Intellektuellen geprägt ist, die nirgends so richtig dazu gehören. Auch heute noch bestimmen „Randbedingungen“, gesellschaftliche Situationen die Gültigkeit sogenannter Naturgesetze. Es gibt gegenseitige Beeinflussung, bestimmend sind aber die wissenschaftlichen Zentren, heute insbesondere die USA. Die Möglichkeiten der Subalternen, zu agieren, sind unterschiedlich: a) die Zusammenarbeit mit der herrschenden Wissenschaft zu verweigern, um nicht benutzbar zu sein, von Singer „Schweigen“ genannt. b) das Bestehen auf einem unübersetzbaren Kulturrelativismus und c) der Konformismus: Subalterne werden erst gehört und verstanden, wenn sie sich dem herrschenden Diskurs anpassen. Singer postuliert als Alternative zu diesen Standpunkten einen „kritischen Kosmopolitismus“: eine ideologiekritische, selbstreflexive, nicht unschuldige Epistemologie, die sich an Gerechtigkeit orientiert und Selbstermächtigung der Marginalisierten unterstützt (was auch eine Möglichkeit für sie als weiße Europäerin ist).

Die Zusammenfassung als „Situiertes Wissen und geteilte Wahrheit“ sieht die Wahrheit zwischen den verschieden situierten Wissen unterschiedlicher Standpunkte, aber in Abhängigkeit von sozialökonomischen Standorten wie etwa Klasse, Geschlecht und postkoloniale Situation.

„Die Aufgaben von Epistemologien habe ich dahingehend zu bestimmen versucht, dass Wissen und Macht als Wirklichkeitssinn und Gerechtigkeit als Möglichkeitssinn zu befördern sind. [...] Epistemologie muss einen Raum für Kritik und Utopie beinhalten und dieser geht über die Koordinaten eines postmodernen und empiristischen Wissenschaftsverständnisses hinaus.“ (S. 272-273)

Mona Singers Buch bietet eine ausgezeichnete Zusammenfassung der unterschiedlichen Wahrheits- und Objektivitätstheorien bis hin zu allgemeinen Erkenntnistheorien und deren in Frage Stellung durch die unterschiedlichen Formen der Wissenschaftskritik mit einem Schwerpunkt auf Feminismus und Cultural Studies. Trotz der Bezugnahme auf die Cultural Studies wird der gesellschaftliche Einfluss der Wissenschaften auf das herrschende Alltagsverständnis etwas zu wenig beachtet und der Bezug zu den sozialen Bewegungen ist auf den Feminismus beschränkt, dort hauptsächlich auf Reflexion und Kritik bezogen. Sozialkonstruktivistische Positionen werden etwas zu abwertend betrachtet, was deren Möglichkeiten zu emanzipatorischen Veränderungen unsichtbar macht. Erstaunlich erscheint die Parallelität dieser „postmodernen“ Ansätze mit dem Pragmatismus. Dieser geht ja genau von der möglichen Praxis aus und kommt dadurch zu konstruktivistischen Annahmen, während die PoststrukturalistInnen durch den Prozess der Konstruktion die Möglichkeiten zu Veränderungen sehen. So ist es nicht erstaunlich, dass der Bezug zum Marxismus erstaunlich traditionell daherkommt und sich eigentlich nicht in das Bild des Feminismus und der Cultural Studies fügt. Die kritische Theorie wird nur am Rand betrachtet und marxistisch beeinflusste Strömungen, die sich direkt auf Klassenkämpfe und soziale Bewegungen beziehen („Operaismus“ und „Postoperaismus“) werden nicht beachtet.

Die Bezugnahme auf den Marxismus, aber das nicht ganz ernst nehmen der traditionell-marxistischen Positionen macht dann die Stärken der Positionen Mona Singers aus: Durch die Schwerpunktsetzung auf feministische Epistemologie und die Wissenssoziologie der Cultural Studies wird die Selbstermächtigung der Vielfalt der Ausgebeuteten und Unterdrückten betont. Es werden die Eindimensionalistäten und Vereinfachungen des Marxismus vermieden, aber es wird um eine emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft gekämpft. Wissenschaft wird als konstituierender Teil der herrschenden Gesellschaft dargestellt, eine Veränderung durch Kritik und Ermächtigung angedacht, die Wirklichkeit der herrschenden Gesellschaft kritisiert und die Möglichkeit ihrer Überwindung wird postuliert.

Robert Foltin

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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